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Gesprochen am 7. April 1922 in Basel
Ursprünglich (vor etwa fünfundzwanzig Jahren) wurde der «Olympische Frühling» in tragischer Stimmung geplant. Ich glaubte das Ende nahe und wollte zu guter Letzt noch etwas leisten. Also etwas wie ein Testament oder Grabdenkmal. Wie ich dann aber die Arbeit angriff (schon nach den ersten zehn Versen), geschah mir ein Wunder. Nämlich: eine plötzliche Verjüngung an Leib und Seele. So jung hatte ich mich in meinem ganzen Leben noch nie gefühlt. Eine förmliche Explosion von Schaffensglück. Es war eben das erste Mal, daß ich ein Epos unter die Finger bekam. Der Fisch spürte Wasser und fühlte, daß er schwimmen könne.
Die Glücksstimmung kam dann dem Thema der Dichtung zugute. Was ist das Thema? Ein junges Göttergeschlecht, frisch auf den Olymp gekommen, unternimmt übermütige Hochzeitsreisen in alle Weltgegenden. Das ist Stimmungspoesie, und zwar Frühlingsstimmungspoesie. Nicht anders als das Lied des Lyrikers: «Der Mai ist gekommen». (Daher der Titel «Olympischer Frühling».) Nur daß der Epiker nicht mit Worten singt, sondern mit Erzählungen.
Diese Erzählungen sind naiv gemeint und wollen naiv aufgenommen sein. Warum in aller Welt kommt man gerade mir, dem Antiphilosophen, immer mit der sorgenvollen Frage: «Was bedeutet das?» Wenn Sie einen Baum oder einen Hund sehen, fragen Sie da auch: «Was bedeutet der Baum? Was bedeutet der Hund?» Und wenn man Sie zum Frühstück ruft: «Kommen Sie, der Kaffee steht auf dem Tisch, und es sind frische Weggli da», fragen Sie da auch: «Was bedeuten die Weggli?» Eben das ruft mein «Olympischer Frühling»: «Es sind frische Weggli da.» Wer in einem Kapitel des «Olympischen Frühlings» einen sogenannt tiefern, das heißt symbolischen oder psychologischen Sinn sucht, der handelt wie einer, der in einen Blumenstrauß Blattläuse pflanzen würde, um ihn genießbar zu machen. Ein Schulbub, ein Backfisch, der den «Olympischen Frühling» munter vonstatten liest, als wären es Märchen der Tausendundeinen Nacht, versteht ihn besser als sein Papa, der ihn zu ‹verstehen› sucht.
Nehmen wir ein Beispiel, das Kapitel «Hermes der Erlöser». Eine edle Witwe trauert ihrem unvergeßlichen Gemahl so unmäßig nach, daß sie darüber ihren Lebensmut verliert und ihre gegenwärtigen Pflichten vergißt. Ein außerordentlicher, großgesinnter Mann bringt es zustande, ihr im Namen des Verstorbenen und des nachgelassenen Kindes den Pflichtenmut und hiemit den Lebensmut wieder zu wecken. Der Dank der Getrösteten verwandelt sich in Liebe, so daß sie mit ihrem Retter und Erlöser den Lebensbund schließt.
Jetzt frage ich Sie: Spüren Sie das Bedürfnis, hinter diesem seelenvollen Roman noch nach einem andern Sinn zu grübeln? Bedeutet vielleicht der begrabene Gemahl den Winter? der erlösende junge Mann den Frühling? Soviel und sowenig wie die Rose den Chilesalpeter bedeutet, an welchem einst ihre Wurzel genascht hatte. Der Chilesalpeter geht einzig den Gärtner an. Sie brauchen davon gar nichts zu wissen. Und ich, der Gärtner, hoffe von Ihnen, indem ich Ihnen die Rose überreiche, zum Dank folgende Antwort: «Es ist doch wahrhaftig ein herrliches Bewußtsein, daß noch Menschen von der Herzensgröße Ihres Hermes auf Erden denkbar und möglich sind.» Wenn Ihr Gefühl so antwortet, dann haben Sie das Kapitel «Hermes der Erlöser» verstanden. Und wie mit «Hermes dem Erlöser» verhält es sich mit jedem andern Kapitel: Lesen Sie mit dem Herzen, so haben Sie nicht nötig, sich den Kopf zu zerbrechen!
Durch den Urkeim einer Dichtung ist jedesmal ihre Form schon gegeben. Der Urkeim war in unserm Fall das Bedürfnis nach unbeschränkter Ellbogenfreiheit der schöpferischen Phantasie. Darum im zentralen Hauptteil, der die «Hohe Zeit» heißt, die unverbundene Aneinanderreihung von Einzelerzählungen. Eine Verbindung wäre ja kinderleicht gewesen. Allein ich hätte damit wenig gewonnen und die Hauptsache eingebüßt, nämlich die besondere Farbe und Atmosphäre, die jeden der Gesänge umhaucht.
Mit den zwei ersten Teilen, «Auffahrt» und «Hera die Braut», verhält es sich anders. Die bedeuten bloß eine Einleitung; ich durfte ihnen daher die normale, typische geschlossene Form gewähren. (Übrigens hätte ich sie wenigstens den zweiten Teil, «Hera die Braut» ohne die Fürsprache meines Freundes Fränkel nachträglich aus dem Werke wieder beseitigt.)
Mit Unrecht scheuen manche vor den griechischen Götternamen meiner Dichtung zurück. «Warum nicht lieber Menschen, wie wir sind?» Aber es sind ja Menschen, wie wir sind. So sehr, daß ich Ihnen Stücke nennen könnte, wo ich einfach aus meiner Lebensgeschichte abgeschrieben habe. Aber Menschen von edlerer Rasse, gesunder, kräftiger, schöner und gutartiger, als wir sind. Und unter günstigeren Lebensbedingungen. Keine Steuern, keine Pässe, keine Kohlenrechnungen. Wohnung und Beköstigung frei. Und als Zugabe ewige Jugend und Unsterblichkeit. Daß aber für überirdische olympische Menschen unsere Menschennamen nicht taugen, versteht sich von selbst. Ich kann nicht den Sonnenwagen von Hans und Grete kutschieren lassen. Übermenschennamen aber gibt es einstweilen noch nicht. Folglich Götternamen. Fragt sich was für. Mit Ausnahme der griechischen haben alle Götternamen einen fatalen Stich ins Metaphysische. Die griechischen im Gegenteil sind von den Griechen selber vermenschlicht worden. Und wie vermenschlicht worden! Wie Homer zum Beispiel mit ihnen umspringt! Und eben das brauchte ich: halbgöttliche Übermenschen, mit denen ich umspringen konnte. Wohlverstanden immer mit gewissenhaftem künstlerischen Ernst, mit inniger, freudiger Andacht vor der heiligen Schönheit, mit herzlicher Liebe für jede einzelne meiner Gestalten. Sonst wäre es ja auch keine Poesie.
Trotz dem verwegensten Phantasieübermut wird es niemand gelingen, auch nur das winzigste Tröpflein Parodie in meinem Werk aufzuspüren. Ich hasse die Parodie. Auch die Automobile, Telephone, Luftschiffe, Velozipede sind nicht etwa ulkig gemeint. Ich hasse den Ulk. Sondern unbefangen, als Selbstverständlichkeiten. So wie Homer die modernen Verkehrsmittel seiner Zeit, Roß und Wagen, unbefangen in seinen Götterhimmel versetzt hat.