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154. An Peter Gast.

Turin, Dienstag d. 30. Okt. 88.

Lieber Freund,

ich sah mich eben im Spiegel an, – ich habe nie so ausgesehn. Exemplarisch gut gelaunt, wohlgenährt und zehn Jahre jünger als es erlaubt wäre. Zu alledem bin ich, seitdem ich Turin zur Heimat gewählt habe, sehr verändert in den Honneurs, die ich mir selber erweise, – erfreue mich z. B. eines ausgezeichneten Schneiders und lege Wert darauf, überall als distinguierter Fremder empfunden zu werden. Was mir auch zum Verwundern gelungen ist. Ich bekomme in meiner Trattoria unzweifelhaft die besten Bissen, die es gibt: man macht mich immer aufmerksam, was gerade besonders gelungen ist. Unter uns, ich habe bis heute nicht gewußt, was mit Appetit essen heißt; ebensowenig, was ich nötig habe, um bei Kräften zu sein. Meine Kritik der Winter in Nizza ist jetzt sehr herbe: unzureichende und gänzlich gerade mir unzuträgliche Diät. Dasselbe, vielleicht verstärkt, gilt, es hilft nichts, lieber Freund! von Ihrem Venedig. Ich esse hier, mit der allerheitersten Verfassung an Seele und Eingeweide, gut viermal soviel wie in der »Panada«. »Panada«, ein Restaurant in Venedig, in dem Nietzsche und Gast eine Zeitlang zu Mittag aßen. – Auch sonst ist Nizza die reine Torheit gewesen. Landschaftlich ist Turin mir in einer Weise mehr sympathisch als dies kalkige baumarme und stupide Stück Riviera, daß ich mich gar nicht genug ärgern kann, so spät davon loszukommen. Ich sage kein Wort von der verächtlichen und feilen Art Mensch daselbst, – die Fremden nicht ausgenommen. Hier kommt Tag für Tag mit gleicher unbändiger Vollkommenheit und Sonnenfülle herauf: der herrliche Baumwuchs in glühendem Gelb, Himmel und der große Fluß zart blau, die Luft von höchster Reinheit – ein Claude Lorrain, wie ich ihn nie geträumt hatte zu sehn. Früchte, Trauben in braunster Süße – und billiger als in Venedig! In allen Stücken finde ich es hier lebenswert. Der Kaffee in den ersten Cafés, ein kleines Kännchen, von merkwürdiger Güte, sogar erster Güte, wie ich sie noch nicht fand, 20 cs. – und man zahlt in Turin nicht Trinkgelder. Mein Zimmer, erste Lage im Zentrum, Sonne von früh bis nachmittag, Blick auf den Palazzo Carignano, die Piazza Carlo Alberto und darüber weg auf die grünen Berge – monatlich 25 frs. mit Bedienung, auch Stiefelputzen. In der Trattorie zahle ich für jede Mahlzeit 1 fr. 15 und lege, was entschieden als Ausnahme empfunden wird, noch 10 cs. bei. Dafür habe ich: ganz große Portion Minestra, sei es trocken, sei es in Bouillon: allergrößte Auswahl und Abwechslung, und die italienischen Mehlfabrikate alle von erster Güte (– ich lerne hier erst die großen Unterschiede); dann ein ausgezeichnetes Stück zartes Fleisch, vor allem Kalbsbraten, den ich nirgends so gegessen habe, mit einem Gemüse dazu, Spinat usw.; drei Brötchen, hier sehr schmackhaft (für den Liebhaber die grissini, die ganz dünnen Brotröhrchen, die Turinischer Geschmack sind). – Ein Ofen ist bestellt, aus Dresden: wissen Sie, Natron-Karbon-Heizung – ohne Rauch, folglich ohne Schornstein. Insgleichen lasse ich aus Nizza meine Bücher kommen. Es ist übrigens wundervoll mild, auch die Nächte. Mein Frostgefühl, von dem ich schrieb, hat nur interne Gründe. Es war übrigens sofort wieder in Ordnung.

Mit Ihrem Brief haben Sie mir eine große Freude gemacht. Im Grunde habe ichs nicht annähernd von irgend jemand erlebt, zu hören, wie stark meine Gedanken wirken. Die Neuheit, der Mut der Neuerung ist wirklich ersten Ranges: – was die Folgen betrifft, so sehe ich jetzt mitunter meine Hand mit einigem Mißtrauen an, weil es mir scheint, daß ich das Schicksal der Menschheit »in der Hand« habe. – Sind Sie zufrieden, daß ich den Schluß mit der Dionysos-Moral »Schluß mit der Dionysos-Moral«, bezieht sich auf Nr. 4 und 5 des Abschnittes »Was ich den Alten verdanke« in der »Götzendämmerung«, Werke VIII S. 170ff. gemacht habe? Es fiel mir ein, daß diese Reihe Begriffe um keinen Preis in diesem Vademekum meiner Philosophie fehlen dürfe. Mit den paar Sätzen über die Griechen darf ich alles herausfordern, was über sie gesagt ist. – Zum Schluß jene Hammerrede aus dem »Zarathustra« – vielleicht, nach diesem Buche hörbar ... Ich selbst höre sie nicht ohne einen eiskalten Schauder durch den ganzen Leib.

Das Wetter ist so herrlich, daß es gar kein Kunststück ist, etwas gut zu machen. An meinem Geburtstag »An meinem Geburtstag«, am 15. Oktober. habe ich wieder etwas angefangen, das zu geraten scheint und bereits bedeutend avanciert ist. Es heißt » Ecce homo. Oder Wie man wird, was man ist«. Es handelt, mit einer großen Verwegenheit, von mir und meinen Schriften: ich habe nicht nur damit mich vorstellen wollen vor dem ganz unheimlich solitären Akt der Umwertung, – ich möchte gern einmal eine Probe machen, was ich bei den deutschen Begriffen von Preßfreiheit eigentlich riskieren kann. Mein Argwohn ist, daß man das erste Buch der Umwertung auf der Stelle konfisziert, – legal mit allerbestem Recht. Mit diesem » Ecce homo« möchte ich die Frage zu einem derartigen Ernste, auch Neugierde steigern, daß die landläufigen und im Grunde vernünftigen Begriffe über das Erlaubte hier einmal einen Ausnahmefall zuließen. Übrigens rede ich von mir selber mit aller möglichen psychologischen »Schläue« und Heiterkeit, – ich möchte durchaus nicht als Prophet, Untier und Moralscheusal vor die Menschen hintreten. Auch in diesem Sinne könnte dies Buch gut tun: es verhütet vielleicht, daß ich mit meinem Gegensatz verwechselt werde. –

Auf Ihre Kunstwart-Humanität »Ihre Kunstwart-Humanität«, bezieht sich auf eine Besprechung des »Fall Wagner« von Gast im Kunstwart, November 1888. bin ich sehr neugierig. Wissen Sie eigentlich, daß ich Herrn Avenarius im Sommer einen extrem groben Brief geschrieben habe, wegen der Art, mit der sein Blatt Heinrich Heine fallen ließ? – Grobe Briefe – bei mir das Zeichen von Heiterkeit ...

Es grüßt Sie auf das herzlichste, mit lauter unaussprechbaren Neben-, Hinter- und Vorderwünschen (– » Eins ist notwendiger, als das andre«: also sprach Zarathustra). »Eins ist notwendiger als das andre«, »Also sprach Zarathustra« S. 413.

N.


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