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Basel, am 3. Sept. 1869.
Mein lieber Freund,
es ist ein böses Ding mit Briefen: man möchte vom Besten geben, und man gibt schließlich das ganz Ephemere, den Akkord, und nicht die ewige Melodie. Immer wenn ich mich zum Briefschreiben an Dich niedersetze, fällt mir das Wort Hölderlins (meines Lieblings aus der Gymnasialzeit) ein: »denn liebend gibt der Sterbliche vom Besten!« Und was hast Du nun, wenn ich mich recht erinnre, in meinen letzten Briefen bekommen? Negationen, Verdrießlichkeiten, Einsamkeiten, Einzelheiten. Und, weiß es Zeus und der herbstlich reine Himmel, so kräftig trägts mich gerade in dieser Zeit ins Positive, so manche üppige Stunde mit reicher Einsicht und wirklicher Veranschaulichung geht an mir vorbei – aber immer, wenn solche Zeiten und schwellende Stimmungen kommen, werfe ich einen ganzen Brief mit guten Gedanken und Wünschen für Dich in den blauen Himmel, in der Hoffnung, daß der elektrische Draht zwischen unsern Seelen (oder, nach Reichenbach, die odische Lohe) diese Schnellschrift zu Dir befördert.
Wenn Du nicht gar zu entfernt wärest, würde ich mir das Vergnügen machen, Dir ein längeres Aktenstück zu »vermitteln«, »vermitteln«, Anspielung auf die Ausdrucksweise Prof. Tischendorfs in Leipzig. meine Antrittsrede, die bereits, im Manuskript, auf Wanderung gewesen ist und zuerst Romundt besucht hat: der sie mit rührender Wärme aufgenommen hat. Dann war sie bei Vater Ritschl: von dem ich das Lob eines guten Stilisten davongetragen habe; zuletzt bei Freund Wagner, der sie Frau von Bülow vorgelesen hat: er stimmt, was mich sehr stärkt, mit allen vorgetragnen ästhetischen Ansichten überein und gratuliert mir, das Problem richtig gestellt zu haben, was ja aller Weisheit Anfang und vielleicht Ende sei und woran meistens gar nicht gedacht werde. Nun soll die Abhandlung noch zu dem mir und Dir so verehrlichen Wenkel, vielleicht auch zu Dr. Deussen: aber die rechte Weihe, die σφρηγίς, hat sie erst, wenn Du Deinen Segen darüber gesprochen hast. Nichts ist angenehmer als ein solches Bekanntwerden im Manuskript: man wählt sich ein ernsthaft denkendes Publikum und läuft nicht Gefahr, sich prostituiert zu sehen.
Übrigens habe ich auch mein Italien, wie Du; nur daß ich mich dahin immer nur die Sonnabende und Sonntage retten kann. Es heißt Tribschen und ist mir bereits ganz heimisch. In letzter Zeit bin ich, kurz hintereinander, viermal dort gewesen, und dazu fliegt fast jede Woche auch ein Brief dieselbe Bahn. Liebster Freund, was ich dort lerne und schaue, höre und verstehe, ist unbeschreiblich. Schopenhauer und Goethe, Äschylus und Pindar leben noch, glaub es mir.
Deine Beobachtung über das Anlernen künstlerischer Genußfähigkeiten ist mir wichtig: ich komme neuerdings, so aus »heiler Haut«, darauf, in mir die Möglichkeit zu entdecken, Landschaftengemälde innerlich einzusaugen. Dargestellte »historische« Bilder, der Mensch in seiner Bewegung bleibt mir ewig fern; ich bin sehr unplastisch. Aber so ein Landschaftsbild macht mich ruhig und erwartungsvoll. –
Nicht wahr, auf Deiner Rückreise bleibst Du einige Zeit bei mir in Basel? Romundt habe ich für den Anfang des Wintersemesters eingeladen: er will zu meiner Freude kommen. Im Oktober lebe ich mit Mutter und Schwester am Genfer See.
Im Winter lese ich »Geschichte der vorplatonischen Philosophen« und Hesiods Tage. Meine jetzige Vorlesung über die Choephoren ist recht zu meinem Vergnügen gediehen.
Es ist ein reiner, blauer, kühler Herbstmorgen, man spürt nie mehr die verkümmerte Flügelhaftigkeit seiner Seele. Sonst käme ich wohl über die Berge, wohl über das breite Tal
zu Dir, liebster Freund Erwin Rohde.
F. N.