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36. An Mutter und Schwester.

Tribschen bei Luzern, 30. Dezember 1870.

Meine liebe Mutter und Schwester,

zum Jahreswechsel empfangt meine Wünsche, die diesmal besonders lebhaft sind, weil wir alle die stillen und lauten Befürchtungen haben, daß wir einer noch schlimmeren Zeit entgegengehn, als die gegenwärtige ist. Die Nachwirkungen des Krieges sind mehr zu fürchten als der Krieg selbst mit seinen ungeheuren Verlusten. –

Gestern habe ich von Dir, liebe Lisbeth, Geld und Brief bekommen; ich ersah aus der Schlußbemerkung, daß mein Weihnachtskistchen noch richtig angekommen ist.

Hier geht es mir so gut, als ich nur irgendwie wünschen konnte, und wir haben ein sehr schönes Weihnachten gefeiert. Die Feier des 25. als des Geburtstages der Frau Wagner war vollendet und einer ausführlichen Erzählung wert. Das »Tribschener Idyll«, »Das Tribschener Idyll«, später Siegfried-Idyll genannt, wurde zum Geburtstag von Frau Wagner aufgeführt. wie der von W. komponierte wunderschöne Symphoniesatz genannt ist, gehört zu dem Allerschönsten, was es gibt. Die Musiker waren, wie wir, ganz begeistert. Vielleicht bekomme ich bald einen vierhändigen Klavierauszug: was Gustav Krug sehr interessieren wird.

Zu Weihnachten bekam ich ein prachtvolles Exemplar des »Beethoven«, dann eine stattliche Ausgabe des ganzen »Montaigne« (den ich sehr verehre) und – etwas ganz Einziges – das erste Exemplar vom Klavierauszuge des » Siegfried«, erster Akt, eben fertig geworden, während noch ein Jahr vergehen kann, ehe der Klavierauszug dieses Werkes in die Öffentlichkeit kommt.

Heute kam von Gersdorff ein Brief an Wagner an. Somit lebt er noch.

Am Neujahrstage fahre ich wieder nach Basel zurück. Es gibt immer noch eine lange Hälfte des Wintersemesters. Wir haben tiefen Schnee und rings um Tribschen herum große Einöde.

Nun lebt wohl, so gut es gehen mag, und betretet das neue Jahr mit den alten Empfindungen. Die gute Tante grüßt herzlich von mir. Es fehlt mir die Lust, ihr zu schreiben, auch die Zeit. Ich bemerke, daß ich der Großmama längst geschrieben habe, nämlich in der ersten Woche, die ich wieder in Basel verlebte: wie ich doch versprochen hatte.

Grüßt die mir wohlwollenden Menschen und denkt auch im neuen Jahre gern an Euren

F.

NB. nebst den Grüßen von meinen Gastfreunden, die Dir, liebe Lisbeth, sehr freundlich gesinnt sind.

Freitag, Tribschen im Unheilsjahre 1870.


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