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4. An Freiherrn von Gersdorff.

Bonn, 25. Mai 1865.

Lieber Freund,

ich muß es Dir im voraus gestehn, daß ich Deinen ersten Brief aus Göttingen mit einer ganz besonderen Sehnsucht erwartet habe; denn ich hatte dabei außer dem freundschaftlichen noch ein psychologisches Interesse. Ich hoffte, daß er den Eindruck widerspiegeln werde, den gerade auf Dein Gemüt das Korpsleben mache, und ich war versichert, daß Du Dich offen darüber aussprechen würdest.

Das hast Du denn auch getan, und ich sage Dir meinen herzlichsten Dank dafür. Wenn Du also jetzt in bezug auf das Korpsleben die Ansicht Deines verehrten Bruders teilst, so kann ich nur die sittliche Kraft bewundern, mit der Du, um im Strome des Lebens schwimmen zu lernen, Dich sogar in ein beinahe schlammiges, trübes Wasser stürzt und darin Deine Übungen machst. Verzeihe die Härte des Bildes, aber ich glaube, es ist treffend.

Indessen kommt noch etwas Wichtiges hinzu. Wer als Studierender seine Zeit und sein Volk kennen lernen will, muß Farbenstudent werden; die Verbindungen und ihre Richtungen stellen meist den Typus der nächsten Generation von Männern möglichst scharf dar. Zudem sind die Fragen über eine Neuorganisation studentischer Verhältnisse brennend genug, um nicht den einzelnen zu veranlassen, die Zustände aus eigner Anschauung kennen zu lernen und zu beurteilen.

Freilich müssen wir uns hüten, daß wir dabei nicht selbst zu sehr beeinflußt werden. Die Gewöhnung ist eine ungeheure Macht. Man hat schon sehr viel verloren, wenn man die sittliche Entrüstung über etwas Schlechtes verliert, das in unserm Kreise täglich geschieht. Das gilt z. B. in betreff des Trinkens und der Trunkenheit, aber auch in der Mißachtung und Verhöhnung andrer Menschen, andrer Meinungen.

Ich gestehe Dir sehr gern, daß ähnliche Erfahrungen, wie Du sie gemacht hast, bis zu einem gewissen Grade sich auch mir aufdrängten, daß mir der Ausdruck der Geselligkeit auf den Kneipabenden oft im hohen Maße mißbehagte, daß ich einzelne Individuen ihres Biermaterialismus wegen kaum ausstehn konnte; ebenfalls daß mit unerhörter Anmaßung über Menschen und Meinungen en masse zu meinem größten Ärger abgeurteilt wurde. Trotzdem hielt ich gern in der Verbindung aus, da ich viel dadurch lernte und im allgemeinen auch das geistige Leben darin anerkennen mußte. Allerdings ist ein engerer Umgang mit einem oder zwei Freunden eine Notwendigkeit; hat man diese, so nimmt man die übrigen als eine Art Zukost mit, die einen als Pfeffer und Salz, die andern als Zucker, die andern als nichts.

Nochmals versichere ich, daß alles, was Du mir über Deine Kämpfe und Unruhen geschrieben hast, meine Achtung und Liebe zu Dir nur steigern kann.

Deine Gedanken über Deinen Beruf habe ich mit dem größten Behagen gelesen. Es war mir, als ob wir uns hierdurch noch einen Schritt näher treten müßten. Über das jus habe ich keine Ansicht. Von Dir aber weiß und glaube ich, daß Du, um deutsche Sprache und Literatur zu studieren, Neigung und Fähigkeit hast, ja daß Du, was das Wichtigste ist, auch den Willen haben wirst, die bedeutenden und nicht immer interessanten Arbeitsmassen auf diesem Gebiet zu bewältigen. Wir haben im allgemeinen eine gute Vorbereitung in Pforta dazu genossen, wir haben ein ausgezeichnetes Vorbild in Koberstein, den hier unser geistvoller Professor Springer für den bei weitem bedeutendsten Literarhistoriker unsrer Zeit erklärt hat. Du wirst in Leipzig Curtius, wichtig für Sprachvergleichung, finden, sodann Zarncke, dessen Nibelungenausgabe ich kenne und schätze, dann den eitlen Minckwitz, den Ästhetiker Flathe, den Nationalökonomiker Roscher, den Du natürlich hören wirst. Du wirst sodann mit allergrößter Wahrscheinlichkeit dort finden: unsern großen Ritschl, wie Du in den Zeitungen gelesen haben wirst. Damit ist die philosophische Fakultät Leipzigs die bedeutendste Deutschlands. Und nun kommt noch etwas Angenehmes. Sobald Du mir schriebst, daß Du nach Leipzig gehen wolltest, habe ich es auch fest beschlossen. So werden wir uns wiederfinden. Nachdem ich diesen Entschluß gefaßt hatte, hörte ich auch von Ritschls Abgang, und das bestärkte mich darin. Ich will in Leipzig womöglich gleich in das philologische Seminar kommen und muß tüchtig arbeiten. Musik und Theater können wir reichlich genießen. Natürlich bleibe ich Kamel.

Hier in Bonn herrscht immer noch die größte Aufregung, die größte Gehässigkeit wegen des Jahn-Ritschl-Streites. Ich gebe Jahn unbedingt recht. Es tut mir sehr leid, ihn Michaeli verlassen zu müssen. Er ist ungemein liebenswürdig. Meine Danaearbeit »Danaearbeit« ist eine Abhandlung Nietzsches über das Danaelied des Simonides, die drei Jahre später unter dem Titel »Beiträge zur Kritik der griechischen Lyriker. I. Der Danae Klage« im Rhein. Mus. Bd. XXIII (1868) S. 480-489 veröffentlicht wurde, neuerdings wieder abgedruckt in Nietzsches Werken Bd. XVII. Philologica, S. 55-67. ist längst abgegeben, und ich bin außerordentliches Mitglied des Seminars geworden. Denke Dir, daß drei Pförtner jetzt ordentliche Mitglieder geworden sind, während bloß vier Stellen offen waren. Haushalter, Michael, Stedtefeld. Das ist ein besondrer Triumph für die alte Pforta. Zum Schulfest haben die hiesigen sämtlichen Pförtner dem Lehrerkollegium ein Telegramm zugeschickt und eine sehr freundliche Antwort erhalten. Gräfe, Bodenstein und Lauer sind in die Frankonia eingesprungen, das wirst Du wohl schon gehört haben.

Für dies Semester habe ich zunächst eine archäologische Arbeit für das Seminar zu machen. Sodann für den wissenschaftlichen Abend unsrer Burschenschaft eine größere Arbeit über die politischen Dichter Deutschlands, bei der ich viel zu lernen hoffe, aber auch gewaltig viel lesen und Material sammeln muß. Vor allem aber muß ich an einer größeren philologischen Arbeit, über deren Thema ich noch nicht klar bin, arbeiten, um durch sie in das Leipziger Seminar zu kommen.

Als Nebensache treibe ich jetzt Beethovens Leben nach dem Werk von Marx. Vielleicht komponiere ich auch wieder einmal, was ich bis jetzt in diesem Jahre ängstlich vermieden habe. Ebenso wird nicht mehr gedichtet. Pfingsten ist in Köln das rheinische Musikfest, bitte komm herüber von Göttingen. Zur Aufführung kommen vornehmlich Israel in Ägypten von Händel, Faustmusik von Schumann, Jahreszeiten von Haydn und vieles andre. Ich bin ausübendes Mitglied. Gleich darauf beginnt die internationale Ausstellung in Köln. Alles Nähere findest Du in den Zeitungen.

Zum Schluß freue ich mich sehr, daß Du die »Problematischen Naturen« gelesen hast. Es ist bedauerlich, daß Spielhagen in seinem neusten Roman »Die von Hohenstein« keine Fortschritte zeigt. Es ist ein wüstes Parteigemälde. Seine adelfeindliche Richtung in den »Problematischen Naturen« ist hier zum ausgesprochenen Hasse geworden. – Ich bin außer mir über Feder und Tinte, schon seit vier Seiten hat mich alle Gemütlichkeit verlassen; ich referiere bloß noch auf das Trockenste einige Fakta. –

Einige Kapitel in den »Problematischen Naturen« habe ich bewundert. Sie haben wirklich Goethische Kraft und Anschaulichkeit. So sind gleich die ersten Kapitel Meisterstücke.

Du hast doch auch die Fortsetzung »Durch Nacht zum Licht« gelesen? Die schwächste Partie ist die Romantik im Hineinspielen der Zigeuner.

Du kennst doch Freytags »Verlorene Handschrift«? –

Ich hoffe Spielhagen diesen Sommer kennen zu lernen.

So, lieber Freund, lebe recht wohl und denke meiner freundlichst. Ich freue mich auf unser Wiedersehn. Ich wünsche Dir Heiterkeit und Frohsinn, vor allem einen Menschen, dem Du Dich näher stellen kannst. Verzeihe mir meine unausstehliche Schrift und meinen Mißmut darüber; Du weißt, wie sehr ich mich darüber ärgere und wie meine Gedanken dabei aufhören.

Dein treuer Freund Fr. Nietzsche.

Bonn, am Tage der Himmelfahrt 1865.


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