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5. An die Schwester.

Bonn, 11. Juni 1865.

Liebe Lisbeth,

nach einem so anmutigen, mit mädchenhaften Dichtungen durchflochtenen Brief, wie ich ihn zuletzt von Dir empfing, würde es Unrecht und Undank sein, noch länger auf Antwort warten zu lassen, besonders da ich diesmal über ein reiches Material zu verfügen habe und ich nur mit großem Behagen die genossenen Freuden im Geiste »wiederkäue«.

Zuvor muß ich jedoch eine Stelle Deines Briefes berühren, die mit ebenso pastoraler Färbung als lamaartiger Herzlichkeit »Lama« war eine scherzhafte Bezeichnung Nietzsches für seine Schwester. Vgl. Biogr. I S. 82. geschrieben ist. Mache Dir keine Sorgen, liebe Lisbeth. Wenn der Wille so gut und entschieden ist, wie Du schreibst, werden die lieben Onkels nicht zuviel Mühe haben. Was Deinen Grundsatz betrifft, daß das Wahre immer auf der Seite des Schwereren ist, so gebe ich Dir dies zum Teil zu. Indessen, es ist schwer zu begreifen, daß 2 x 2 nicht 4 ist; ist es deshalb wahrer?

Andererseits, ist es wirklich so schwer, das alles, worin man erzogen ist, was allmählich sich tief eingewurzelt hat, was in den Kreisen der Verwandten und vieler guten Menschen als Wahrheit gilt, was außerdem auch wirklich den Menschen tröstet und erhebt, das alles einfach anzunehmen, ist das schwerer, als im Kampf mit Gewöhnung, in der Unsicherheit des selbständigen Gehens, unter häufigen Schwankungen des Gemüts, ja des Gewissens, oft trostlos, aber immer mit dem ewigen Ziel des Wahren, des Schönen, des Guten neue Bahnen zu gehen?

Kommt es denn darauf an, die Anschauung über Gott, Welt und Versöhnung zu bekommen, bei der man sich am bequemsten befindet. Ist nicht vielmehr für den wahren Forscher das Resultat seiner Forschung geradezu etwas Gleichgültiges? Suchen wir denn bei unserem Forschen Ruhe, Friede, Glück? Nein, nur die Wahrheit, und wäre sie höchst abschreckend und häßlich.

Noch eine letzte Frage: Wenn wir von Jugend an geglaubt hätten, daß alles Seelenheil von einem anderen, als Jesus ist, ausfließe, etwa von Muhamed, ist es nicht sicher, daß wir derselben Segnungen teilhaftig geworden wären? Gewiß, der Glaube allein segnet, – nicht das Objektive, was hinter dem Glauben steht. Dies schreibe ich Dir nun, liebe Lisbeth, um dem gewöhnlichsten Beweismittel gläubiger Menschen damit zu begegnen, die sich auf ihre inneren Erfahrungen berufen und daraus die Untrüglichkeit ihres Glaubens herleiten. Jeder wahre Glaube ist auch untrüglich: er leistet das, was die betreffende gläubige Person darin zu finden hofft; er bietet aber nicht den geringsten Anhalt zur Begründung einer objektiven Wahrheit.

Hier scheiden sich nun die Wege der Menschen; willst Du Seelenruhe und Glück erstreben, nun so glaube, willst Du ein Jünger der Wahrheit sein, so forsche.

Dazwischen gibt es eine Menge halber Standpunkte. Es kommt aber auf das Hauptziel an.

Verzeihe mir diese langweilige und nicht gerade gedankenreiche Auseinandersetzung. Du wirst Dir dies alles schon oftmals und immer besser und schöner gesagt haben.

Auf diesem ernsten Grundstock will ich aber nun ein um so lustigeres Gebäude aufführen. Ich kann Dir diesmal von wunderschönen Tagen erzählen.

Am Freitag den 2ten Juni reiste ich nach Köln hinüber zum niederrheinischen Musikfest. An demselben Tage wurde dort die internationale Ausstellung eröffnet. Köln machte in diesen Tagen einen weltstädtischen Eindruck. Ein unendliches Sprachen- und Trachtengewirr – ungeheuer viel Taschendiebe und andere Schwindler – alle Hotels bis in die entlegensten Räume gefüllt – die Stadt auf das anmutigste mit Fahnen geschmückt – das war der äußere Eindruck. Als Sänger bekam ich meine weißrote seidene Schleife auf die Brust und begab mich in die Probe. Du kennst leider den Gürzenichsaal nicht, ich habe Dir aber in den letzten Ferien eine fabelhafte Vorstellung erweckt durch den Vergleich mit dem Naumburger Börsensaal. Unser Chor bestand aus 182 Sopranen, 154 Alten, 113 Tenören und 172 Bässen. Dazu ein Orchester aus Künstlern bestehend von etwa 160 Mann, darunter 52 Violinen, 20 Violen, 21 Celli und 14 Kontrabässe. Sieben der besten Solosänger und Sängerinnen waren herangezogen worden. Das Ganze wurde von Hiller dirigiert. Von den Damen zeichneten sich viele durch Jugend und Schönheit aus. Bei den drei Hauptkonzerten erschienen sie alle in Weiß, mit blauen Achselschleifen und natürlichen oder gemachten Blumen im Haar. Eine jede hielt ein schönes Bukett in der Hand. Wir Herren alle in Frack und weißer Weste. Am ersten Abend saßen wir noch bis tief in die Nacht hinein zusammen, und ich schlief endlich bei einem alten Frankonen auf dem Lehnstuhl und war den Morgen ganz taschenmesserartig zusammengeknickt. Dazu leide ich, beiläufig bemerkt, seit den letzten Ferien an starkem Rheumatismus in dem linken Arm. Die nächste Nacht schlief ich wieder in Bonn. Den Sonntag war das erste große Konzert. »Israel in Ägypten« von Händel. Wir sangen mit unnachahmlicher Begeisterung bei 50 Grad Reaumur. Der Gürzenich war für alle drei Tage ausgekauft. Das Billett für das Einzelkonzert kostete 2 bis 3 Taler. Die Ausführung war nach aller Urteil eine vollkommene. Es kam zu Szenen, die ich nie vergessen werde. Als Staegemann und Julius Stockhausen, »der König aller Bässe«, ihr berühmtes Heldenduett sangen, brach ein unerhörter Sturm des Jubels aus, achtfache Bravos, Tusche der Trompeten, Dakapogeheul, sämtliche 300 Damen schleuderten ihre 300 Buketts den Sängern ins Gesicht, sie waren im eigentlichsten Sinne von einer Blumenwolke umhüllt. Die Szene wiederholte sich, als das Duett da capo gesungen war.

Am Abend begannen wir Bonner Herren alle zusammen zu kneipen, wurden aber von dem Kölner Männergesangverein in die Gürzenichrestauration eingeladen und blieben hier unter karnevalistischen Toasten und Liedern, worin der Kölner blüht, unter vierstimmigem Gesange und steigender Begeisterung beisammen. Um 3 Uhr morgens machte ich mich mit zwei Bekannten fort; und wir durchzogen die Stadt, klingelten an den Häusern, fanden nirgends ein Unterkommen, auch die Post nahm uns nicht auf – wir wollten in den Postwagen schlafen –, bis endlich nach anderthalb Stunde ein Nachtwächter uns das Hotel du Dôme aufschloß. Wir sanken auf die Bänke des Speisesaals hin und waren in 2 Sekunden entschlafen. Draußen graute der Morgen. Nach 1½ Stunde kam der Hausknecht und weckte uns, da der Saal gereinigt werden mußte. Wir brachen in humoristisch verzweifelter Stimmung auf, gingen über den Bahnhof nach Deutz herüber, genossen ein Frühstück und begaben uns mit höchst gedämpfter Stimmung in die Probe. Wo ich mit großem Enthusiasmus einschlief (mit obligaten Posaunen und Pauken). Um so aufgeweckter war ich in der Aufführung am Nachmittag von 6-11 Uhr. Kamen darin doch meine liebsten Sachen vor, die Faustmusik von Schumann und die A-Dur-Sinfonie von Beethoven. Am Abend sehnte ich mich sehr nach einer Ruhestätte und irrte etwa in 13 Hotels herum, wo alles voll und übervoll war. Endlich im 14., nachdem auch hier der Wirt mir versicherte, daß alle Zimmer besetzt seien, erklärte ich ihm kaltblütig, daß ich hier bleiben würde, er möchte für ein Bett sorgen. Das geschah denn auch: in einem Restaurationszimmer wurden Feldbetten aufgeschlagen, für eine Nacht mit 20 Gr. zu bezahlen.

Am dritten Tage endlich fand das letzte Konzert statt, worin eine größere Anzahl von kleineren Sachen zur Aufführung kam. Der schönste Moment daraus war die Aufführung der Sinfonie von Hiller mit dem Motto »Es muß doch Frühling werden«: die Musiker waren in seltner Begeisterung, denn wir alle verehrten Hiller höchlichst; nach jedem Teile ungeheurer Jubel und nach dem letzten eine ähnliche Szene, nur noch gesteigert. Sein Thron wurde bedeckt mit Kränzen und Buketten, einer der Künstler setzte ihm den Lorbeerkranz auf, das Orchester stimmte einen dreifachen Tusch an, und der alte Mann bedeckte sein Gesicht und weinte. Was die Damen unendlich rührte.

Noch besonders will ich Dir eine Dame nennen, Frau Szarvady aus Paris, die Klaviervirtuosin. Denke Dir eine kleine noch junge Persönlichkeit, ganz Feuer, unschön, interessant, schwarze Locken.

Die letzte Nacht habe ich aus gänzlichem Mangel an dem nervus rerum wieder bei dem alten Frankonen verbracht, und zwar auf der Erde. Was nicht sehr schön war. Morgens fuhr ich wieder nach Bonn zurück.

Es war eine »rein künstlerische Existenz«, wie eine Dame zu mir sagte.

Man kehrt mit förmlicher Ironie zu seinen Büchern, zu Textkritik und anderem Zeug zurück.

Daß ich nach Leipzig gehe, ist sicher. Der Jahn-Ritschl-Streit S. 12: Der »Jahn-Ritschlstreit« betraf keine wissenschaftlichen, sondern nur Personal- und Verwaltungsfragen der Universität Bonn (vgl. Ribbecks Ritschl-Biographie S. 332-381). wütet fort. Beide Parteien drohen sich mit vernichtenden Publikationen. Deussen wird wahrscheinlich auch nach Leipzig gehn.

Zum Schulfest (21. Mai) sandten wir Bonner Pförtner ein Telegramm an das Lehrerkollegium und bekamen eine sehr freundliche Antwort.

Heute machen wir eine Pförtnerspritze nach Königswinter. – Unsre roten Stürmer mit goldner Litze sehen vorzüglich aus.

Ich werde nächstens an den lieben Rudolf schreiben, der mir einen so liebenswürdigen Brief geschickt hat. Sage der lieben Tante und dem lieben Onkel meine herzlichsten Empfehlungen.

Bonn, am Sonntag nach Pfingsten.

Fritz.


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