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116. An Peter Gast.

Sils-Maria, Montag, 3. September 1883.

Mein lieber Freund,

nun ist es wieder einmal mit dem Engadin für mich zu Ende: Mittwoch will ich abreisen – nach Deutschland, wo es mehreres für mich zu tun und abzutun gibt. Geben Sie, wenn Sie mir schreiben wollen, Ihrem Briefe die Richtung auf Naumburg; da will ich ein wenig mich in den natürlichsten Empfindungen ausruhen und erholen, eingerechnet, daß ich viel schönes Obst essen will. Was mir auch dort fehlen wird, wie es mir überall fehlt – das ist Ihre Musik. Ich glaube, wie Sie meine Sachen vielleicht stärker und unbequemer empfinden als irgend jemand, so muß ich alles, was von Ihnen kommt, balsamischer empfinden, als andere es können; dies ist ja ein ganz artiges Verhältnis zwischen uns! Vielleicht ist es ein Verhältnis wie zwischen Komödien- und Tragödiendichtern (ich sagte Ihnen wohl einmal, daß Wagner in mir einen verkappten Tragödiendichter sah): gewiß ist, daß ich im ganzen »epikurischer« dabei wegkomme als Sie; und so ist es das »Gesetz der Dinge«: der Komödiendichter ist die höhere Gattung und muß mehr wohltun als jener andere, ob er es nun will oder nicht.

Dies Engadin ist die Geburtsstätte meines »Zarathustra«. Ich fand eben noch die erste Skizze der in ihm verbundenen Gedanken; darunter steht »Anfang August 1881 in Sils-Maria, 6000 Fuß über dem Meere und viel höher über allen menschlichen Dingen«.

Wie die Qual und Wirrsal meines Gemüts auf die Farben der zwei ersten Teile gewirkt haben mag? (denn die Gedanken und Richtungen waren gegeben) seltsam, alter Freund! Ich meine allen Ernstes, daß »Zarathustra« heiterer und lustiger ausgefallen ist, als er sonst ausgefallen sein würde. Ich könnte dies beinahe »aktenmäßig« beweisen.

Andrerseits: ich würde lange, lange, lange nicht so tief gelitten haben und leiden, wenn ich nicht in den zwei letzten Jahren fünfzigmal Motive aus meiner Einsiedlertheorie auf die Praxis übertragen hätte und aus den schlimmen, ja schauerlichen Folgen dieser »Praktik« zum Zweifel an mir selber getrieben worden wäre. Dergestalt hat »Zarathustra« sich auf meine Kosten erheitert, und ich habe mich auf seine Kosten verdüstert.

Übrigens muß ich Ihnen, nicht ohne Betrübnis, melden, daß jetzt, mit dem dritten Teile, der arme Zarathustra wirklich ins Düstere gerät – so sehr, daß Schopenhauer und Leopardi nur als Anfänger und Neulinge gegen seinen »Pessimismus« erscheinen werden. So will es der Plan. Um aber diesen Teil machen zu können, brauche ich selber erst tiefe, himmlische Heiterkeit: denn das Pathetische der höchsten Gattung wird mir nur als Spiel gelingen. (Zum Schluß wird Alles hell.)

Vielleicht arbeite ich inzwischen noch etwas Theoretisches aus; meine Skizzen dafür haben jetzt die Überschrift

Die Unschuld des Werdens.
Ein Wegweiser zur Erlösung von der Moral.

Der erste Teil »Zarathustra« ist jetzt endlich unterwegs, der zweite fertig gedruckt (ich notiere für den Fall einer zweiten Auflage diese Druckfehler:

p. 6 oben: Denkbarkeit, nicht Dankb. / p. 7 ganz unten: euch, nicht auch / p. 38: Rosenhänge, nicht Nosengänge / p. 44: schreien, nicht schreie / p. 98 Zeile 9: Da, nicht Dann //

Beinahe wäre ich nach Venedig gekommen! Feiern Sie ein Fest dafür, daß es nicht geschehen ist, und behalten Sie lieb Ihren Freund

Nietzsche.


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