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33. An Freiherrn von Gersdorff.

Naumburg, 20. Oktober 1870.

Mein lieber Freund,

dieser Morgen brachte mir die freudigste Überraschung und Befreiung von viel Unruhe und Beängstigung – Deinen Brief. Noch vorgestern wurde ich auf das ärgste erschreckt, als ich in Pforta Deinen Namen mit zweifelnder Stimme aussprechen hörte: Du weißt, was jetzt dieser zweifelnde Ton zu bedeuten pflegt. Sofort requirierte ich vom Rektor eine Liste der gefallenen Pförtner, die gestern abend bei mir eintraf. Sie beruhigte mich in einem Hauptpunkte. Sonst gab sie viel Trauriges. Außer den Namen, die Du schon genannt hast, lese ich hier an erster Stelle Stöckert, dann von Oertzen (doch mit einem Fragezeichen), dann von Riedesel usw., in summa 16.

Alles, was Du mir schreibst, hat mich auf das stärkste ergriffen, vor allem der treue, ernste Ton, mit dem Du von dieser Feuerprobe der uns gemeinsamen Weltanschauung sprichst. Auch ich habe eine gleiche Erfahrung gemacht, auch für mich bedeuten diese Monate eine Zeit, in der jene Grundlehren sich als festgewurzelt bewährten: man kann mit ihnen sterben; das ist mehr, als wenn man von ihnen sagen wollte: man kann mit ihnen leben. Ich war nämlich doch nicht in so unbedingter Sicherheit und Entrücktheit von den Gefahren dieses Krieges. Ich hatte bei meinen Behörden sofort den Antrag gestellt, mir Urlaub zu geben, um als Soldat meine deutsche Pflicht zu tun. Man gab mir Urlaub, aber verpflichtete mich auf Grund der schweizerischen Neutralität, keine Waffen zu tragen. (Ich habe seit 69 kein preußisches Heimatsrecht mehr.) Sofort reiste ich nun mit einem vortrefflichen Freunde ab, um freiwillige Krankenpflegerdienste zu tun. Dieser Freund, mit dem ich durch 7 Wochen alles gemeinsam gehabt habe, ist der Maler Mosengel aus Hamburg, mit dem ich Dich in Friedenszeiten bekanntmachen muß. Ohne seinen gemütvollen Beistand hätte ich schwerlich die Ereignisse der nun kommenden Zeit überstanden. In Erlangen ließ ich mich von dortigen Universitätskollegen medizinisch und chirurgisch ausbilden; wir hatten dort 200 Verwundete. Nach wenigen Tagen wurden mir 2 Preußen und 2 Turkos zur speziellen Behandlung übertragen. Zwei von diesen bekamen bald die Wunddiphtheritis, und ich hatte viel zu pinseln. Nach 14 Tagen wurden wir beide, Mosengel und ich, von einem dortigen Hilfsvereine ausgeschickt. Wir hatten eine Menge Privataufträge, auch erhebliche Geldsummen zur Besorgung an 80 früher ausgesandte Felddiakonen. Unser Plan war, in Pont-à-Mousson mit meinem Kollegen Ziemssen zusammenzutreffen und uns dessen Zug von 15 jungen Männern anzuschließen. Das ist nun freilich nicht in Erfüllung gegangen. Die Erledigung unsrer Aufträge war sehr schwer: wir mußten, da wir gar keine Adressen hatten, persönlich in anstrengenden Märschen nach sehr unbestimmten Andeutungen hin die Lazarette bei Weißenburg, auf dem Wörther Schlachtfelde, in Hagenau, Luneville, Nanzig bis Metz durchsuchen. In Ars sur Moselle wurden uns Verwundete zur Verpflegung übergeben. Mit diesen sind wir, da sie nach Karlsruhe transportiert wurden, wieder zurückgekehrt. Ich hatte 6 Schwerverwundete 3 Tage und 3 Nächte lang ganz allein zu verpflegen, Mosengel 5; es war schlechtes Wetter, unsre Güterwagen mußten fast geschlossen werden, damit die armen Kranken nicht durchnäßt würden. Der Dunstkreis solcher Wagen war fürchterlich; dazu hatten meine Leute die Ruhr, zwei die Diphtheritis, kurz, ich hatte unglaublich zu tun und verband vormittags 3 Stunden und abends ebensolange. Dazu nachts nie Ruhe bei den menschlichen Bedürfnissen der Leidenden. Als ich meine Kranken in ein ausgezeichnetes Lazarett abgeliefert hatte, wurde ich schwer krank: sehr gefährliche Brechruhr und Rachendiphtheritis stellten sich sogleich ein. Mit Mühe kam ich bis Erlangen. Dort blieb ich liegen. Mosengel besaß die Aufopferung, mich hier zu pflegen. Und das war nichts Kleines bei dem Charakter jener Übel. Nachdem ich mehrere Tage mit Opium- und Tanninklystieren und Höllensteinmixturen meinem Leibe zugesetzt hatte, war die erste Gefahr beseitigt. Nach einer Woche konnte ich nach Naumburg abreisen, bin aber bis jetzt noch nicht wieder gesund. Dazu hatte sich die Atmosphäre der Erlebnisse wie ein düsterer Nebel um mich gebreitet: eine Zeitlang hörte ich einen nie endenwollenden Klagelaut. »nie endenwollenden Klagelaut«, dieser Eindruck kehrt, gesteigert und erhöht, als Notschrei der höheren Menschen in »Also sprach Zarathustra« wieder, vgl. Werke VI S. 350ff., 405, 475. Meine Absicht, wieder auf den Kriegsschauplatz abzugehen, wurde deshalb unmöglich gemacht. Ich muß mich jetzt begnügen, aus der Ferne zuzusehen und mitzuleiden.

Ach, mein lieber Freund, welche Segenswünsche soll ich Dir zurufen! Wir wissen beide, was wir vom Leben zu halten haben. Aber wir müssen leben, nicht für uns. Also lebe, lebe, liebster Freund! und lebe wohl! Ich kenne Deine heldenmütige Natur. Ach daß Du mir erhalten bliebest!

Treulich Friedrich Nietzsche

(von morgen an in Basel).

Naumburg, 20. Oktober 1870.

Heute habe ich nicht mehr zum Schreiben Zeit, da meine Abreise bevorsteht. Von Basel aus erfährst Du mehr von mir. Ich bin glücklich, endlich Deine Adresse zu haben. Meine Angehörigen begleiten Dich mit ihren besten Wünschen.


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