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74. An Freiherrn von Gersdorff.

Basel, Ostersonnabend, 15. April 1876.

Liebster Freund, am Abend vor dem grünen Donnerstag bin ich von Genf wieder zurückgekommen und habe dort sechs Tage zugebracht, sehr reiche Tage mit mancherlei Erfahrungen. Die Woche Vorher, welche ich nach Deiner Abreise noch als einziger Gast in der Printanière »Printanière«, Hotel bei Chillon-Montreuz.aushielt, benutzte ich namentlich zu einer innerlichen Sammlung und Säuberung und wurde über vieles Kränkliche und Grillenhafte und Verzagte wieder Herr, namentlich aber hielt ich meine Ziele mit neuer Begierde mir vor Augen und verlor den Hang (mit dem ich auch Dich gequält habe!), gegen mich selbst ungerecht zu sein. Ich fand das »gute Gewissen« wieder, bis jetzt zu meiner Befreiung so viel getan zu haben, als ich konnte, und damit auch andern Menschen einen wahren Dienst getan zu haben. Auf dieser Bahn gehe ich wieder vorwärts und lasse mich auf desperate Rückblicke und Vorblicke nicht mehr ein. Ich verdanke sehr viel dem Buche unfrei herrlichen Freundin Meysenbug »Buch unserer herrlichen Freundin Meysenbug«, ihre »Memoiren einer Idealistin«, die damals deutsch erschienen waren. und werde den einen Sonntag, den ich in der höchsten moralischen Nachbarschaft mit ihr verbrachte, von früh bis nachts im Freien, nicht vergessen.

Der Genfer Aufenthalt kam gerade im rechten Augenblick, als eine Art Bestätigung und Verstärkung des einsam-Beschlossnen. Vor allem habe ich, zur Bereicherung von uns allen, einen wahren Freund hinzugefunden, in Herrn von Senger. Ich wüßte in wenig Worten gar nicht zu sagen, wieviel ich dabei gewonnen habe. Du wirst ihn kennen lernen, einstweilen sage ich nichts.

Wenn wir uns wiedersehn, will ich Dir von Ferney, dem Sitze Voltaires (dem ich meine ersten Huldigungen brachte), erzählen, von dem glänzenden und doch wunderbar gebirgsnahen und freiheitatmenden Genf, von Villa Diodati, »Villa Diodati«, Wohnsitz der Gräfin Diodati, der Übersetzerin von Nietzsches »Geburt der Tragödie« ins Französische. von einzelnen Menschen, von dem besten Schuster in Genf (einem berühmten Kommunard), von dem Concert populaire, in dem meinetwegen die Benvenuto-Cellini-Ouvertüre von Berlioz gemacht wurde, von der Frau Sengers, einer höchst charaktervollen Engländerin, und seinen merkwürdigen Kindern Leila und Agenor, von Madame de Saussure, Bankier Köckert (ehemaligem Virtuos), von zwei liebenswürdigen Russinnen in einer englischen Pension, von Ausflügen ins Savoyische, von der Entdeckung, daß ich ein großer Klavierspieler sein soll, von zahlreichen moralistischen Gesprächen, von Herrn Jansen und dem Makler usw. usw. In der Hauptsache habe ich aber so viel erkannt: das einzige, was die Menschen aller Art wahrhaft anerkennen und dem sie sich beugen, ist die hochsinnige Tat. Um alles in der Welt keinen Schritt zur Akkommodation! Man kann den großen Erfolg nur haben, wenn man sich selbst treu bleibt. Ich erfahre es, welchen Einfluß ich jetzt schon habe, und würde mich selbst nicht nur, sondern viele mit mir wachsende Menschen schädigen oder vernichten, wenn ich schwächer und skeptisch werden wollte.

Mit einer Nutzanwendung für Dich, mein geliebter Freund: ich bitte Dich inständig, mancherlei nicht zu berücksichtigen, was ich Dir in schwächeren Stunden in betreff Deiner Verehelichung sagte. Um keinen Preis eine Konventionsehe! (wie es alle mir bis jetzt von Dir genannten und Dir von andern proponierten Ehen sind). Wir wollen in diesem Punkte der Reinheit des Charakters ja nicht wankend werden! Zehntausendmal lieber immer allein bleiben – das ist jetzt meine Losung in dieser Sache.

Nochmals danke ich Dir von ganzem Herzen für die Aufopferung Deiner Ferien und Deine treuen Freundesdienste, über deren Wert für mich Du Dir auch keinen Augenblick einen quälenden Gedanken darfst beikommen lassen. Ein anderes Mal soll es heiterer und mutiger zugehen: diesmal war ich im ganzen doch krank, und namentlich auch moralisch krank; über die Bosheit der Welt sollte nicht soviel geredet werden, aber über das Durchsetzen und Vollbringen des Guten und Rechten; dabei stiehl jede Morosität, und jede Muskel spannt sich straffer.

In dankbarer Liebe
der Deinige
F. Nietzsche.

Meine Schwester und der Rektor Overbeck grüßen herzlich.

Am Tage nach Charfreitag 1876,
Basel.


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