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140. An Dr. Carl Fuchs.

Nizza(France), den 14. Dez. 1887.
Pension de Genève

Lieber und werter Freund,

es war ein sehr guter Augenblick, mir einen solchen Brief zu schreiben. Denn ich bin, fast ohne den Willen dazu, aber gemäß einer unerbittlichen Notwendigkeit, gerade mitten darin, mit Mensch und Ding bei mir abzurechnen und mein ganzes »Bisher« ad acta zu legen. Fast alles, was ich jetzt tue, ist ein Strich-drunter-ziehn. Die Vehemenz der inneren Schwingungen war erschrecklich, die letzten Jahre hindurch; nunmehr, wo ich zu einer neuen und höheren Form übergehn muß, brauche ich zuallererst eine neue Entfremdung, eine noch höhere Entpersönlichung. Dabei ist es wesentlich, was und wer mir noch bleibt. –

Wie alt ich eigentlich schon bin? Ich weiß es nicht; ebensowenig, wie jung ich noch sein werde. –

Ich betrachte mit Vergnügen Ihr Bild; es scheint mir viel Jugend und Tapferkeit drin zu sein, gemischt, wie es sich ziemt, mit beginnender Weisheit (und weißen Haaren? ...).

In Deutschland beschwert man sich stark über meine »Exzentrizitäten«. Aber da man nicht weiß, wo mein Zentrum ist, wird man schwerlich darüber die Wahrheit treffen, wo und wann ich bisher »exzentrisch« gewesen bin. Zum Beispiel, daß ich Philologe war – damit war ich außerhalb meines Zentrums (womit, glücklicherweise, durchaus nicht gesagt ist, daß ich ein schlechter Philologe war). Insgleichen: heute scheint es mir eine Exzentrizität, daß ich Wagnerianer gewesen bin. Es war ein über alle Maßen gefährliches Experiment; jetzt, wo ich weiß, daß ich nicht daran zugrunde gegangen bin, weiß ich auch, welchen Sinn es für mich gehabt hat – es war meine stärkste Charakterprobe. Allmählich diszipliniert einen freilich das Innewendigste zur Einheit zurück; jene Leidenschaft, für die man lange keinen Namen hat, rettet uns aus allen Digressionen und Dispersionen, jene Aufgabe, deren unfreiwilliger Missionär man ist.

– Dergleichen ist schwer aus der Ferne zu verstehn. Meine letzten zehn Jahre waren dadurch über die Maßen schmerzhaft und gewaltsam. Falls Sie Lust haben sollten, mehr von dieser bösen und problematischen Geschichte zu hören, so seien Ihrer freundschaftlichen Teilnahme die Neuausgaben meiner früheren Schriften empfohlen, insbesondere deren Vorreden. [Anbei bemerkt: mein aus guten Gründen etwas desperater Verleger, der treffliche E. W. Fritzsch in Leipzig, ist bereit, jedermann diese Neuausgaben auszuhändigen, vorausgesetzt, daß man ihm dafür einen längeren Essay (über »Nietzsche en bloc«) verspricht. Die größeren Literaturblätter, wie Lindaus »Nord und Süd«, sind reif dafür, einen solchen Essay nötig zu haben, da eine wirkliche Unruhe und Aufregung über die Bedeutung meiner Literatur sich bemerkbar macht. Bisher hat noch niemand genug Mut und Intelligenz gehabt, mich den lieben Deutschen zu entdecken: meine Probleme sind neu, mein psychologischer Horizont ist bis zum Erschrecken umfänglich, meine Sprache kühn und deutsch, vielleicht gibt es keine gedankenreicheren und unabhängigeren deutschen Bücher als die meinen.]

– Der Hymnus gehört zu diesem »Strich-drunter-ziehn«. Können Sie ihn nicht sich einmal singen lassen? Man hat mir von verschiedenen Seiten schon die Aufführung in Aussicht gestellt (z. B. Mottl in Karlsruhe). Seine eigentliche Bestimmung soll freilich sein, einmal »zu meinem Gedächtnis« gesungen zu werden: er soll von mir übrigbleiben, gesetzt, daß ich selbst übrigbleibe. Behalten Sie mich in guter Erinnerung, mein lieber Herr Doktor: ich danke Ihnen auf das herzlichste dafür, daß Sie mir auch in der zweiten Hälfte Ihres Jahrhunderts zugetan bleiben wollen.

Ihr Freund Nietzsche.


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