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Einleitung

Wer die Fähigkeit zur Empfindung feinster Persönlichkeitsunterschiede besitzt, äußert sich in Briefen an jeden Adressaten auf andere Weise. Die Eigenart des Empfängers wandelt den Ton ab zu einer besonderen Stimmung, gibt ihm eine individuell nuancierte Färbung. Das wird um so stärker zur Geltung kommen, je größer die psychische Reizbarkeit eines Menschen ist. Von Nietzsche wissen wir, daß er die höchste Eindrucksfähigkeit besaß, eine hervorragende Begabung zur Aufnahme individueller Unterschiede, zu unmittelbarer Witterung der Hintergründe und verborgensten Winkel einer Seele. Wüßten wir das nicht aus seinen eigenen Äußerungen und durch Überlieferung derer, die mit ihm lebten, so könnte man es seinen Werken entnehmen. Sie enthalten einen solchen Reichtum psychischen Materials, eine derartige Schärfe im Analysieren eigener oder fremder Seelenzustände, daß man daraus ohne weiteres auf eine einzigartige Feinsinnigkeit bei der Wechselbeziehung zwischen Mensch und Mensch schließen kann. Deshalb dürfen die Briefe Nietzsches ein weit über den Kreis seiner besonderen Verehrer hinausreichendes Interesse beanspruchen: sie können als hochbedeutsame Dokumente dafür dienen, was für eine Fülle von Möglichkeiten der Äußerungsform in einer reichen Natur verborgen liegt.

Zweierlei, die feinsinnige Art der Berücksichtigung des Empfängers und andrerseits die Freiheit in der persönlichen Selbstdarstellung des Absenders machen diese Briefe anziehend. Freunde, Verehrer, Berufsgenossen, Mitstrebende, Angehörige, sie alle werden in der Tiefe ihrer individuellen Besonderheit auf eine so verbindliche Weise berührt, daß man begreift, wie lebhaft sie sich immer wieder zu dem Spender dieser Herzensgaben hingezogen fühlen mußten. Zugleich aber bringt Nietzsche immer die ganze Eigenart seines Ichs zum Ausdruck. Überall treten die persönlichen Akzente hervor, nirgends begegnen wir den verwaschenen Farben neutraler Allgemeinheit. Dabei ist eine aufsteigende Linie zu beobachten: je deutlicher die Persönlichkeit zum Bewußtsein ihrer selbst gelangt, um so mehr tritt die Bezugnahme auf des Empfängers Besonderheit zurück, und zuletzt überwiegt in allen Äußerungen das scharf herausgearbeitete Gepräge seiner überragenden Individualität.

Man kann deshalb sagen: Nietzsches Briefe sind eine gute Vorbereitung auf seine Gedankenwelt. Die Feinheit des Taktgefühls im Verkehr und die großzügige innere Freiheit erwecken Sympathie für diese Persönlichkeit, erregen Spannung für das, was dieser Mensch als Denker, als Schaffender in seinen Werken hinterlassen hat. In allen Einzeläußerungen spiegelt sich die Erhabenheit der Probleme wieder, mit denen Nietzsche umging, die Höhe seiner Gesichtspunkte, und man trägt nach dem Lesen dieser Briefe das Bild eines Mannes in sich, der die höchsten Kulturprobleme der Menschheit zum Gegenstand seines schaffenden Willens erwählt hat, man ist ausgerüstet für das Verständnis der Weiten und Tiefen seiner Schriften. Die vorliegende Auswahl soll nur einen ersten Eindruck geben von dem, was in den großen Briefsammlungen enthalten ist. Sie soll diese nicht ersetzen und kann es nicht; vielmehr ist ihr Zweck gerade, zum Studium dieser Gesamtausgaben anzuregen. Denn einen vollen Einblick in die Reichhaltigkeit dieser Persönlichkeit kann allein die Lektüre aller Briefe, insonderheit aber des Briefwechsels verschaffen. Da erst treten die Schattierungen mit ihrem ganzen Nuancenreichtum klar hervor. Zur Vervollständigung des Eindrucks sind einige noch unveröffentlichte oder bisher in der Gesamtausgabe nicht gedruckte Briefe hier mit veröffentlicht worden. Es sind die Nummern 7, 8, 10, 63, 78, 110, 120.

Diesem Druck ist der Text der Gesamtausgabe zugrunde gelegt worden. Nur da, wo es sich um eine erstmalige Veröffentlichung handelt, wurden die Originale oder, wenn diese nicht erreichbar waren, zuverlässige Abschriften herangezogen.

Berlin-Friedenau.

Dr. Richard Oehler.


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