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Sils-Maria, Oberengadin, 22. Sept. 1886.
Hochverehrter Herr Professor,
es tut mir wehe, so lange Sie nicht gesehn und gesprochen zu haben! Mit wem möchte ich eigentlich noch sprechen, wenn ich nicht mehr zu Ihnen sprechen darf? Das » silentium« um mich nimmt überhand. –
Hoffentlich hat inzwischen C.G. Naumann seine Schuldigkeit getan und mein letzthin erschienenes »Jenseits« in Ihre verehrten Hände gelegt. Bitte lesen Sie dies Buch, (ob es schon dieselben Dinge sagt, wie mein »Zarathustra«, aber anders, sehr anders –). Ich kenne niemanden, der mit mir eine solche Menge Voraussetzungen gemein hätte wie Sie: es scheint mir, daß Sie dieselben Probleme in Sicht bekommen haben, – daß Sie an den gleichen Problemen in ähnlicher Weise laborieren, vielleicht sogar stärker und tiefer noch als ich, da Sie schweigsamer sind. Dafür bin ich jünger ... Die unheimlichen Bedingungen für jedes Wachstum der Kultur, jenes äußerst bedenkliche Verhältnis zwischen dem, was »Verbesserung« des Menschen (oder geradezu »Vermenschlichung«) genannt wird, und der Vergrößerung des Typus Mensch, vor allem der Widerspruch jedes Moralbegriffs mit jedem wissenschaftlichen Begriff des Lebens – genug, genug, hier ist ein Problem, das wir glücklicherweise, wie mir scheint, mit nicht gar vielen unter den Lebenden und Toten gemein haben dürften. Es aussprechen ist vielleicht das gefährlichste Wagnis, das es gibt, nicht in Hinsicht auf den, der es wagt, sondern in Hinsicht auf die, zu denen er davon redet. Mein Trost ist, daß zunächst die Ohren für meine großen Neuigkeiten fehlen, – Ihre Ohren ausgenommen, lieber und hochverehrter Mann: und für Sie wiederum werden es keine »Neuigkeiten« sein! – –
Treulich
der Ihre
Dr. Friedrich Nietzsche.
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