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32. An Paul Deussen.

Basel, Frühling 1870.

Mein lieber Freund,

es ist unglaublich, wie verschiedenartig Dein letzter Brief aussah, gegen alle Deine frühere Briefliteratur gehalten. Jetzt endlich ist eine lang andauernde Entfremdung zwischen uns gewichen, nachdem wir nun beide dieselbe Sprache reden und nicht mehr bei denselben Worten Verschiedenes empfinden. Vielleicht wäre Dir der etwas mühsame und nicht ganz ebene und direkte Weg zu dem jetzigen Höhegrad Deiner Bildung erspart gewesen und durch einen natürlicheren und gelinderen Pfad ersetzt worden, wenn wir immer zusammengeblieben wären. Wenigstens bist Du von allen meinen Freunden der letzte, der den Weg zur Weisheit gefunden hat. Jetzt endlich habe ich auch für Dich noch die besten Hoffnungen: viele Nebel werden vor Deinen Augen sinken. Freilich wirst Du Dich dann einsamer fühlen als je: wie es mir ergeht. Auch sind viele glänzende und in die Augen fallende Stellungen im Leben uns nicht mehr erreichbar, dafür auch nicht mehr erstrebenswert. Die geistige Einsiedelei und gelegentlich ein Gespräch mit Gleichgesinnten sind unser Los: wir brauchen mehr als andre Wesen die Tröstungen der Kunst. Auch wollen wir niemanden bekehren, weil wir die Kluft empfinden als eine von der Natur gesetzte. Mitleid wird uns eine wahrhaft vertraute Empfindung. Wir verstummen mehr und mehr, – es gibt Tage und sehr viele, an denen ich nur im Dienste des Amtes rede, sonst nicht. Freilich habe ich das unschätzbare Glück, den wahren Geistesbruder Schopenhauers, der sich zu ihm wie Schiller zu Kant verhält, als wirklichen Freund zu besitzen, einen Genius, der dasselbe furchtbar erhabene Los empfangen hat, ein Jahrhundert früher zu kommen, als er verstanden werden kann. Ich sehe deshalb tiefer in die Abgründe jener idealistischen Weltanschauung: auch merke ich, wie mein philosophisches, moralisches und wissenschaftliches Streben einem Ziele zustrebt und daß ich – vielleicht der erste aller Philologen – zu einer Ganzheit werde. Wie wunderbar neu und verwandelt sieht mir die Geschichte aus, vornehmlich das Hellenentum! Ich möchte Dir bald einmal meine zuletzt gehaltenen Vorträge schicken, von denen der letzte (»Sokrates und die Tragödie«) hier wie eine Kette von Paradoxien aufgefaßt worden ist und zum Teil Haß und Wut erregt hat. Es muß Anstoß kommen. Ich habe bereits das Rücksichtnehmen in der Hauptsache verlernt: dem einzelnen Menschen gegenüber seien wir mitleidig und nachgebend, im Aussprechen unsrer Weltanschauung starr wie die alte Römertugend.

Nun wirst Du mir wohl öfter schreiben: denn Dir selbst muß eine Sehnsucht kommen, Dein Neuerlebtes jemandem auszuschütten. Auch wirst Du schwerlich einen finden, der so viele Bekehrungen erlebt und das begeisterte Neophytentum so oft an anderen geliebt hat.

Treulichst
F. W. Nietzsche.

Basel, Schützengraben 45.


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