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141. An Freiherrn von Gersdorff.

Nice (France), Pension
de Genève.

20. Dez. 1887.

Lieber Freund,

selten in meinem Leben hat mir ein Brief solche Freude gemacht wie der Deinige vom 30. November. Es scheint mir, daß damit alles zwischen uns auf das rechtschaffenste und gründlichste wieder in Ordnung gebracht ist. Ein solches Glück konnte gar nicht auf einen passenderen Zeitpunkt mir aufgespart bleiben, als es der jetzige ist. In einem bedeutenden Sinn steht mein Leben gerade jetzt wie im vollen Mittag: eine Tür schließt sich, eine andre tut sich auf. Was ich nur in den letzten Jahren getan habe, war ein Abrechnen, Abschließen, Zusammenaddieren von Vergangenem, ich bin mit Mensch und Ding nachgerade fertig geworden und habe einen Strich drunter gezogen. Wer und was mir übrigbleiben soll, jetzt wo ich zur eigentlichen Hauptsache meines Daseins übergehn muß (überzugehn verurteilt bin ...), das ist jetzt eine kapitale Frage. Denn, unter uns gesagt, die Spannung, in welcher ich lebe, der Druck einer großen Aufgabe und Leidenschaft, ist zu groß, als daß jetzt noch neue Menschen an mich herankommen könnten. Tatsächlich ist die Öde um mich ungeheuer; ich vertrage eigentlich nur noch die ganz Fremden und Zufälligen und, andererseits, die von alters her und aus der Kindheit mir Zugehörigen. Alles andre ist abgebröckelt, oder auch abgestoßen worden (es gab viel Gewaltsames und Schmerzliches dabei –).

Es bewegte mich, Deinen Brief, und Deine alte Freundschaft darin, gerade jetzt zum Geschenk zu erhalten. Etwas Ähnliches geschah im vorigen Sommer, als plötzlich Deussen im Engadin erschien, den ich 15 Jahre lang nicht gesehn hatte (– er ist der erste Philosophie-Professor Schopenhauerischer Konfession und behauptet, daß ich die Ursache seiner Verwandlung sei). Insgleichen bin ich tief dankbar für alles das, was ich dem Venediger maëstro verdanke. Ich habe ihn fast jedes Jahr besucht und darf Dir ohne Übertreibung sagen: er ist in rebus musicis et musicantibus meine einzige Hoffnung, mein Trost und mein Stolz. Denn er ist beinahe aus mir gewachsen: und das, was er jetzt von Musik macht, ist an Höhe und Güte der Seele und an Klassizität des Geschmacks weit über allem, was jetzt sonst von Musik gemacht wird. Daß man sich ablehnend und unanständig gegen ihn verhält und daß er ganze Jahre einer wirklichen Tortur durch Zurückweisungen, Taktlosigkeiten und deutsche Tölpeleien durchgemacht hat, steht dazu nicht im Widerspruch. Aber dies ist die Moral der Geschichte: entweder geht man an den Widerwärtigkeiten des Lebens zugrunde oder kommt stärker aus ihnen heraus.

Auch Du, mein lieber alter Freund! Du Vielgeprüfter! wirst diesen Satz unterschreiben können? –

Es scheint mir, daß ich Dir diesmal einen Geburtstagsbrief geschrieben habe? Ganz wie ehedem, in unsrer »guten alten« Zeit? (Ich bin Dir wirklich nicht einen Augenblick untreu geworden: sage das auch Deiner lieben Frau, zugleich mit meiner angelegentlichen Empfehlung!)

In alter Liebe und Freundschaft
Dein Nietzsche.

Eben erschienen, bei E. W. Fritzsch: Hymnus an das Leben. Für gemischten Chor und Orchester komponiert von Friedrich Nietzsche. Partitur. – Bitte, lies doch die neue Ausgabe der »Fröhlichen Wissenschaft«: – es ist einiges zum Lachen darin.


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