Wilhelm Jordan
Strophen und Stäbe
Wilhelm Jordan

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Psalm 139.

        Du Herr, hast mich erforschet und durchschaut,
Mit meinem Herzen bist du ganz vertraut.
Ich mag nun aufstehn, mag mich niedersetzen,
Du weißt mein Sinnen schon von fern zu schätzen.
Du weißt es ob ich liege, ob ich wandle,
Du siehst auf allen Wegen wie ich handle.
Du hältst im Rücken mich wie vorn umgeben
Und mir zu Häupten deine Hände schweben.
Solch Wissen ist ein Wunder, unvergleichbar,
Für mich zu hoch und völlig unerreichbar.
Wo blieb' ich deinem Geist wohl unvernommen,
Wo könnt' ich deinem Antliz wohl entkommen?
Wenn ich gen Himmel flöge, so bist Du da,
Hinab zur Hölle zöge, so bist Du da.
Wenn ich der Morgenröthe Flügel nähme,
Am fernsten Meeressaum herunterkäme,
So würd' auch dort mich deine Hand nicht lassen,
So würd' auch dort mich deine Rechte fassen.
Und wenn ich spräche: hinter mir sei Nacht! –
So wäre Finsterniß von Glanz entfacht.
Vor Dir verdunkelt auch das Dunkel nicht,
Dir ist das Düsterste noch Funkellicht.

Du bildetest mir das womit man denkt
Als in der Mutter Schooß du mich gesenkt.
Dich preist, erstaunt bei deiner Werke Schau,
Mein Geist in meines Leibes Wunderbau.
Du kennst das Räthsel, wie ich im Geheimen
Gewoben ward aus unbekannten Keimen.
Du sahest meines Urstoffs ersten Zug,
All meine Tage schriebst du in dein Buch,
Bestimmtest schon mein letztes Lebensjahr
Als noch das erste nicht begonnen war.

Doch deine unergründlichen Gedanken
In ihrer Summe fassen keine Schranken
Und leichter zählte alle Körner Sand
Als ihre Zahl mein menschlicher Verstand.
Wann ich vom Schlaf erwache muß mein Denken
Sich immer wieder, Herr, in Dich versenken.


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