Jean Paul
Hesperus oder 45 Hundposttage
Jean Paul

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– Ich hatte die Augen noch geschlossen, als ein Lispeln, von tausend Gipfeln weitergewirbelt, mich umschwamm, das getriebene Luftmeer zog durch enge Äolsharfen und schlug daran Wellen, und die Wellen überspülten mich mit Melodien – eine hohe Bergluft, von einer vorüberschießenden Wolke herzuschlagend, fuhr wie ein Wasserstrahl kühl an meine Brust – ich öffnete die Augen und dachte, ich träumte, weil ich ohne die eiserne Maske war – ich war an die fünfte Säule auf der obersten Stufe eines griechischen Tempels gelehnt, dessen weißen Fußboden die Gipfel taumelnder Pappeln umzingelten – und die Gipfel von Eichen und Kastanien liefen nur wie Fruchthecken und Geländerbäume wallend um den hohen Tempel und reichten dem Menschen darin nur bis an das Herz. –

Ich muß ja diese wühlende Gipfelsaat kennen, sagt' ich – dort hängen Trauerbirken die Arme – da draußen knien Stämme vor dem Donner, der sie getroffen – flattern nicht neun Flöre und zerstäubte Springbrunnen in gefleckten Zweigen durcheinander? – und die Gewitter haben hier ihre Ableiter als fünf eiserne Zepter in die Erde gepflanzt. – Das ist doch gewiß ein Traum von der Insel der Vereinigung, die so oft bisher den Nebel des Schlafs mit Strahlen durchschnitten und himmlisch und ziehend meine Seele angeschimmert hat. – –

Es war aber kein Traum. Ich stand von der Stufe auf und wollte in den griechischen durchhellten Tempel, der bloß aus einem griechischen Dache und aus fünf Säulen und der ganzen um ihn gelagerten Erde bestand, eintreten, als mich acht Arme umfaßten und vier Stimmen anredeten: »Bruder! – wir sind deine Brüder.« Eh' ich sie anschauete, eh' ich sie anredete: fiel ich gern mit ausgebreiteten Armen zwischen drei Herzen, die ich nicht kannte, und vergoß Tränen an einem vierten, das ich nicht kannte, und hob endlich, nicht fragend, sondern beglückt, die Augen von den unbekannten Herzen auf in ihr Angesicht, und unter dem Anschauen sagte hinter mir mein geliebter Doktor Fenk: »Du bist der Bruder Flamins, und diese drei Engländer sind deine leiblichen Brüder.«... Die Freude zuckte durch mich wie ein Schmerz – ich drückte mich stumm an die Lippen der vier Umarmten und Umarmenden – aber ich stürzte dann an den ältern Freund und stammelte: »Guter lieber Fenk! sag mir alles! Ich bin zerrüttet und bezaubert von Dingen, die ich doch nicht fasse.«

Fenk ging lächelnd mit mir wieder zu den vier Brüdern und sagte zu ihnen: »Seht, das ist der Monsieur, euer fünfter, auf den sieben Inseln verlorner Bruder und euer Biograph dazu – nun hat er endlich sein 45stes Kapitel erwischt.« – Da wandte er sich an mich: »Du siehst doch,« (sagt' er) »daß das die Insel der Vereinigung ist – daß die Drillinge hier die drei Söhne des Fürsten sind, die unser Lord bringen wollte. – Deinetwegen, weil du schon lange von den sieben Inseln weg bist, ist er durch alle Marktflecken und um alle Inseln von Europa gefahren. Endlich schrieb ich ihm«....

»Du bist gewiß auch« (unterbrach ich ihn) »mein Korrespondent mit dem Hund gewesen.« –

»Fahr nur fort«, sagt' er.

»Und Knef ist der umgekehrte Fenk – und hast dich bei Viktor für einen Italiener, der kein Deutsch kann, ausgegeben – und ihm den ganzen Tag seine eigne Konduitenliste für den Lord abgeschrieben, und für mich im Grunde auch, um sein und mein Spion zu sein.« –

»So ists – und habe also« (sagt' er) »dem Lord auch geschrieben, dein französischer Name Jean Paul mache dich verdächtig, und da du noch dazu selber nicht weißt, wo du her bist, und dazu gerechnet dein närrisches Stück Lebensweg, der wie in einem englischen Garten nicht eine Meile lang geradeaus geht« – –

»Der Biograph«, sagt' ich, »sollte überhaupt sein eigner sein.Und ich mache hier mit Vergnügen dem Publikum zu meiner eignen Lebensbeschreibung Hoffnung, womit ich es, wenn ich nur noch einige nötige Kapitel daraus erlebt habe, unter dem Titel beschenken werde: Jean Pauls Apostelgeschichte, oder dessen Taten, Begebenheiten und Meinungen.« –

»Jetzo wird mirs unbegreiflich, wie ich nur nicht gleich darauf fallen können; denn deine Ähnlichkeit mit Sebastian, die der fünfte Sohn des Fürsten haben sollte, merktest du längst selber – und dein Stettiner-Dosenstück auf dem Schulterblatt, das die Herren da alle aufhoben, und das der Lord vorgestern selber unter deinem Verbande angesehen.«

»So, so!« (sagt' ich) »Deswegen bekam also euer Biograph die Falkenhaube, die Rückenwunde, den hübschen Rappen, und der Fremde in Hof war der Lord?« –

Kurz bei allem diesen hatte der Lord sich gar völlig überzeugt, daß ich der sei, den er so lange gesucht; denn vorher hatte er schon lange das Schreiben von Fenk durch funfzehn Hände erhalten, indem es von Hamburg oder auch aus dem Lande Hadeln nach Ziegenhain in Niederhessen lief, dann in die Herrschaft Schwabeck, dann in die Grafschaft Holzapfel, nach Schweinfurt, nach Scheer-Scheer und doch wieder zurück nach ** und nach *** und endlich nach Flachsenfingen, wo ers erst erhielt: dort, in der Insel der Vereinigung, war er lange versteckt gewesen, bis ihn das Schreiben, der endigende Oktober, der die Muttermäler gleichsam mit roter Dinte unterstrich, und am meisten die drei aus St. Lüne verwiesenen Briten, die auf der Insel ausstiegen, nach Scheerau oder vielmehr nach Hof im Voigtland abzureisen zwangen. Hier mußt' ich ihm nach einer Verabredung mit dem italienischen Bedienten, d. h. mit dem Doktor Fenk, derenwegen er mich eben aus meiner Insel dem 45sten Kapitel nachschickte und deren Wiederholung in dem vom Blinden aufgefangnen, nun entzifferten Billet vorkam, natürlich begegnen, und mein altes Gesicht, das er sofort mit einem jüngern Nachstich vom fünften Fürstensohne zusammenhielt, warf sogleich im »Habergäßchen« über alles das reichlichste Licht.

Sobald er das wußte, ließ er mich allein hinter meiner Bienen-Blechkappe und Mosis-Decke fahren und eilte voraus zum Fürsten gerade eine Minute früher, eh' es – zu spät war. Denn Matthieu hatte alles verraten; und die Drillinge wollte man eben aus der Insel, worein sie geflohen waren, und unsern Viktor aus seiner Mutter Hause, worin er schon Hof und Adel über Patienten und Wissenschaften und Braut vergessen hatte, abholen zum Verhaft, als der Lord sich bei dem Fürsten melden ließ. Der Fürst fürchtete von ihm, wie Cäsar von Cicero, überredet zu werden. Der Lord – dessen Seele ohnehin eine petrographische Karte erhabener Ideen war – verwirrte die Maßregeln des Fürsten durch einen kühnern Trotz, als die Maßregeln berechnet hatten. Er fing mit der Nachricht an, daß er nicht bloß einen Sohn dem Fürsten bringe, sondern alle, welches letzte er darum nicht versprochen habe, weil er nicht wissen können, inwiefern ihn das Schicksal vielleicht verlasse oder trage. – Er drang dem Fürsten eine lange kalte Rede auf, worin er ihm den Studienplan der fünf Söhne und ihre Entwicklung, Geschichte und Bestimmung vorlegte. Indem er die Beweise ihrer Abstammung vorauszusetzen schien, webte er sie doch in die Schlüsse aus der Abstammung künstlich ein. So sagt' er z. B., niemand habe um das wichtige Geheimnis gewußt als die Lady und Klotilde und Emanuel, dessen heilige, alles mit dem Tode beschwörenden Dokumente er ihm hier neben andern für die Kinder gebe; bloß ein gewisser Hofjunker habe während der Blindheit von fünf Geheimnissen eines entwendet und gemißbraucht. Der Lord zerfaserte diese Fallstrick-Seele nicht, da sie, wie er sagte, zu unbedeutend zur Genugtuung, zu schwarz gebeizet zur Strafe sei, und da er selber ohnehin bald aus diesen Gegenden auf immer komme. Kurz, er griff so mit seiner Allmacht den Fürsten an und zog so rein der Vergangenheit alle Schleier ab, daß er diesen fast zwang, statt zu verdammen oder loszusprechen, bloß abzubitten und Anklage und Mißtrauen mit Dankbarkeit zu vertauschen. Das einzige Gute, endigte Lord Horion, was der Junker getan, sei, daß er durch seine Säemaschinen des Unkrauts die große schöne Erkennung gerade auf eine Monatzeit gereift und beschleunigt habe, worin die Fruchtschnur der fünf Schultern (die Muttermale) in Blüte stehe. Der Fürst wurde trotz des fremden Eises geschmolzen, denn seine väterliche Liebe war mit neuen Schätzen bereichert. Doch mischt' er in seinen Dank diesen feinen Vorwurf wegen Viktors vorgeblichen Adel: »Ich bin voll Dankbarkeit für Sie, ob Sie mir gleich zu bald die Gelegenheit nehmen, sie zu zeigen. Bisher freuet' ich mich, daß ich wenigstens an dem Sohne beweisen konnte, wie sehr ich dem Vater, wenn nicht dankbar, doch verbunden wäre. Aber Sie kennen meinen Irrtum.« Der Lord – jetzo biegsamer durch den Sieg – versetzte: »Ich weiß nicht, ob mich gute Absichten und schlimme Verhältnisse entschuldigen; aber ich konnte nur einen Menschen für würdig halten, Ihr Leibarzt zu sein, den ich für würdig erkannte, mein Sohn zu sein.« – Der Fürst umarmte ihn aufrichtig; der Lord erwiderte es ebenso warm und sagte: am 31sten Oktober (der ist heute, und gestern sagte ers) woll' er seine redlichen Gesinnungen gegen den Fürsten auf eine Weise besiegeln, die mehr als alle Worte entscheide – –

Edler Mann! Du verzehrst nichts weiter auf der Erde als dich und bist ein Sturmvogel, durch dessen Fett ein Docht des Leuchtens gefädelt ist und den jetzo sein eignes Licht ausbrennt und verkohlt – mir ahnet, als wenn deine schöne Seele bald auf einer andern, auf einer höhern Insel der Vereinigung sein werde als auf dieser irdischen!

Ich schreibe dieses den 31sten Oktober vormittags um 10 Uhr auf der Insel.

*

Abends um 6 Uhr in Maienthal

Womit wird dieses Buch noch enden? – mit einer Träne oder mit einem Jauchzen? –

Der Doktor Fenk warf bis um 2 Uhr (wo der Lord erst kommen wollte) den Koch- oder Lumpen-Zucker der Laune auf unsere Minuten und Schmerzen; sein närrisches rotes Gesicht war das violette Zuckerpapier der Süßigkeit. Mein guter Viktor war mit Klotilden in Maienthal. Fenk lachte mich in einem fort aus als einen Dauphin. Er macht viel Gleichnisse, er sagt: ich bekäme erst am Ende eines Buchs und der ganzen Komödie den rechten Titel, wie man den Journalen den Haupttitel erst im letzten Heft beidruckt – oder ich avanciere, gleich einem Schachbauern, erst auf dem letzten Felde zu einem Offizier. Es ist mir aber aus der Geschichte recht gut bekannt, daß in Frankreich schon unter Ludwig XIV. das jetzige Gleichheitsystem, obwohl erst für Prinzen, da war, die der König gleichmachte, sie mochten als Mestizen oder Kreolen oder QuarteronenQuarteronen sind Kinder von Terzeronen, die wieder Kinder von Mulatten und Weißen sind. oder Quinteronen oder Eingeborne des Throns ans Leben ausgestiegen sein. Da man nun ebensogut in Deutschland neue Gesetze und Novellen der Reichsgesetze hervorzubringen vermag als außer den Grenzen desselben: so könnt' es ja bei meinen Lebzeiten geschehen, daß legitimierte Prinzen für thronfähig erklärt würden – wodurch ich freilich zur Regierung käme. Gut wär's für Flachsenfingen, wenns geschähe, weil ich mir vorher die besten französischen und lateinischen Werke über das Regieren kaufen und es darin so studieren will, daß ich nicht fehlen kann. Ich glaube, ich darf mir vorsetzen, das arme Menschengeschlecht, das ewig im ersten April lebt und das nie vom Gängelwagen steigt – bloß mehre Räder werden dem Wagen angesetzt –, ein wenig auf die Beine zu bringen durch meinen Zepter. Sonst war ein Edelmann und das Pferd eines englischen Bereiters imstande, den Hut abzuziehen, ein Pistol loszuschießen, Tabak zu rauchen, zu wissen, ob eine Jungfer in der Gesellschaft war u. s. w.; jetzt aber haben sich Pferd und Edelmann durch die Kultur so voneinander getrennt, daß es eine wahre Ehre ist, letzter zu sein, und daß es meinem Adel nichts schadet (ob ichs gleich anfangs besorgte), daß ich mehr als gemeine Kenntnisse habe. In unsern Tagen sind die adeligen Vorderpferde nicht mehr so weit wie vor hundert Jahren vor den bürgerlichen Deichselpferden am Staatswagen vorausgespannt; daher ists Pflicht, wenigstens Klugheit (auch für einen neuen Edelmann wie ich), daß er (oder ich) sich herablässet und das Gefühl seines Standes – warum soll mir das nicht so gut gelingen wie andern? – unter die Verzierung einer gefälligen leichten Lebensart versteckt, und sich überhaupt auf keine Ahnen etwas einbildet als auf die künftigen, deren sämtliche Verdienste ich mir nicht groß genug denken kann, weil die Erde noch blutjung und erst im Flügelkleide und, wie Polen, im polnischen Röckchen ist.

Ich komme zurück. Um 2 Uhr kam der Lord mit seinem blinden Sohn, gleichsam die Philosophie mit der Dichtkunst. Schöner, schöner Jüngling! die Unschuld hat deine Wangen gezeichnet, die Liebe deine Lippen, die Schwärmerei deine Stirne. Der Lord mit der Laudons-Stirne und mit einem heute mehr als in Hof verdunkelten schattigen Gesicht, an das die Flitterwochen der Jugend und die Marterwochen des spätern Alters vermischtes Helldunkel warfen, dieser trat heute fast wärmer zu uns, obwohl mit lauter Zügen des Gefühls, daß das Leben ein Schalttag sei und daß er nur die Menschenliebe, nicht die Menschen liebe. Er sagte, wir sollten ihm und dem Hofmedikus den Gefallen tun, letzten noch heute in Maienthal zu besuchen und herzubringen, weil er hier ohne Augenzeugen noch allerlei Anordnungen für die Ankunft des Fürsten zu vollenden habe; wir sollten aber in der Nacht mit Viktor wiederkommen, weil unser Herr Vater morgen sehr frühe eintreffe. Der Blinde konnte als Blinder dableiben. Es fiel mir nicht auf, daß er dem guten verhüllten Julius verbarg, daß er sein Vater war, denn er sagte zwei- und dreideutig: »Da der Gute schon einmal den Schmerz, einen Vater zu verlieren, überstanden hat, so muß man ihn diesem Schmerze nicht zum zweiten Male aussetzen.« Aber dies fiel mir auf, daß er uns bat, ihn für das, was er bisher für Flachsenfingen tun wollen, dadurch zu belohnen, daß wirs selber täten, und ihm eidlich zu versichern, daß wir in den Staatsämtern, die wir bekommen würden, seine kosmopolitischen Wünsche, die er uns schriftlich übergab, erfüllen würden, wenigstens so lange bis er uns wiedersähe. Der Fürst hatt' ihm dieselbe feierliche Versicherung geben müssen. Wir sahen zu ihm hinauf wie zu einem bewölkten Kometen und schwuren mit Trauer.


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