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»Schurke!« – schrie der herausstürzende Flamin mit sprühenden Blicken, mit schneeweißen Wangen, mit wie Mähnen herunterhängenden Locken, mit zwei Taschenpistolen in den Händen – »Da nimm, nimm, Blut will ich« und stieß ihm das Mordgewehr entgegen – Viktor drängte Klotilden weg und sagte: »Unschuldige! vermehre deine Schmerzen nicht!« – Flamin rief in neuer Entflammung: »Blut! – Treuloser, nimm, schieß!« Matthieu fiel ihm in den rechten Arm, aber der linke drang bebend dem Viktor das Geschoß auf. – Viktor riß es zu sich, weil die Mündung um Klotilden herumwankte. – »Du bist ja mein Bruder«, rief die Gemarterte, bloß durch Todesangst vom Tode der Ohnmacht weggequält. – Flamin warf mit beiden Armen alles von sich und sagte gräßlich-leise langgedehnt in wütender Erschöpfung: »Blut! – Tod!« – Klotilde sank um – Viktor blickte auf sie und sprach gegen ihn: »Feuer' nur, hier ist mein Leben!« – Flamin schrie laut: »Du zuerst!« – Viktor schoß, hob den Arm weit empor, um in die Luft zu schießen, und der zersplitterte Gipfel wurde von seiner Kugel heruntergestürzt. – Klotilde wachte auf – Emanuel flog her – warf sich an seines Schülers Herz – seiner seit Jahren zum ersten Male von Leidenschaft auseinandergerissenen Brust quoll das sieche Blut aus – Flamin schleuderte stolz seine Pistole weg und sagte zu Matthieu: »Komm! es ist der Mühe nicht wert« und ging mit ihm davon.
Als Klotilde Emanuels Blut auf ihres Geliebten Kleidern sah, hielt sie ihn für getroffen und legte ihr Tuch auf das Blut und sagte: »Ach das haben Sie nicht um mich verdient.« – Emanuel atmete wieder durch sein Blut hindurch, niemand konnte weiter sprechen, niemand überlegen, jeder fürchtete sich, zu trösten, die tödlich zermalmten Herzen schieden mit verbissenem Weh auseinander; bloß Viktor, den das gräßliche Wort »Schurke« bei jeder Erinnerung wie ein Dolch durchstieß, sagte noch zur Schwester: »Ich lieb' ihn nicht mehr, aber er ist unglücklicher als wir, ach er hat alles verloren und nichts behalten als einen Teufel.«
Nämlich Matthieu. Dieser hatte heute die Stimme Emanuels, die mit Julius gesprochen und die Dahore für des Vaters seine gehalten, und nachher die Stimme der Nachtigall, der Viktor nachgegangen, nachgemacht, um den Regierungrat durch seine eigne Ohren und Augen von Viktors Liebe gegen Klotilden zu überführen.
Viktor führte den schwachen Lehrer in die indische Hütte. Er fühlte jetzo nach so vielen auflösenden Tagen seine Nerven durch dieses Ungewitter gekühlt und gestählt; der Seelenschmerz und die Aufopferung hatten sein Blut, wie engere versperrende Wege die Ströme, schneller und heftiger gemacht, und die Liebe zu Klotilden war männlicher und kühner durch den Gedanken geworden, daß er sie nun ganz verdiene. Nichts gibts außer Großmut und Sanftmut Schöneres als das Bündnis derselben.
Emanuel war nichts weiter als matt und setzte sich, da der Abend schwül auf allen brütete, mit Viktor auf die Grasbank seines Hauses, um mit der zuckenden Brust aufrecht zu bleiben, und eine sanfte Freude glänzte in seinen Mienen über jeden gefallnen Bluttropfen, weil jeder ein rotes Siegel auf seine Hoffnung zu sterben war. Aber als Viktor das müde Haupt des guten Mannes an seinen Busen nahm und ihn darauf entschlummern ließ: so wurde ihm im stillen Abend wieder weh, und sein Herz schmerzte ihn erst. Er dachte sich es einsam, wie sich drüben heiße Schwerter durch die schuldlose blutende Seele zischend ziehen würden – er fühlte, wie nun das zweisilbige, zweischneidige Zornwort Flamins durch das ganze Band ihrer Freundschaft geschnitten – er stellte sich das neben ihm blühende Theater der schönen Tage verödet vor und das Vorüberwehen der Freuden, die uns nur wie Schmetterlinge in weiten Kreisen umspielen, indes der Nervenwurm des Grams sich tief in unsere Nerven einbeißet. Endlich lehnt' er sich weinend an den schlummernden Vater und drückte ihn leise und sagte: »Ach ohne Freundschaft und Liebe könnt' ich die Erde nicht ertragen.« – Und endlich wurde auch seine zersetzte und versiegte Seele vom schweren Körper in den dicken Schlaf gedrückt und hinabgezogen.
*
Leser! der letzte Augenblick in Maienthal ist der größte – erhebe deine Seele durch Schauder und steige auf Gräber wie auf hohe Gebirge, um hinüberzusehen in die andere Welt!
Um Mitternacht, wo die Phantasie die verhüllten Toten aus den Särgen zieht und sie aufgerichtet in die Nacht um sich stellt und aus der zweiten Welt unbekannte Gestalten zu uns verschlägt – so wie unkenntliche Leichname aus Amerika an die Küsten der alten Welt antrieben und ihr die neue verkündigten –, in der Geisterstunde schlug Viktor die Augen auf, aber unaussprechlich heiter. Ein vergessener Traum hatte die heutige Vergangenheit mit allem ihrem Getöse und Gewölke weit hinabgesenkt; – der lichte Mond stand oben in der blauen Verfinsterung wie die silberne Spalte und quellenhelle Mündung, aus der der Lichtstrom der andern Welt in unsere bricht und in ätherischem Dufte niedersinkt. – »Wie ist alles so still und so licht!« sagte Viktor. »Ist diese dämmernde Gegend nicht aus meinem Traume übrig geblieben, ist das nicht die magische Vorstadt der überirdischen Stadt Gottes?« – Eine vorübereilende Stimme sagte: »Tod! ich bin schon begraben.«
Emanuel öffnete darüber die Augen, warf sie durch das Laubwerk in den über das Dörfchen erhöhten Kirchhof und sagte mit einer Zuckung seines ganzen Wesens: »Horion, wach auf, Giulia hat die Ewigkeit verlassen und steht auf ihrem Grabe.« – Viktor blickte fieberhaft hinauf; und in einem schneidenden Eisschauer wurden alle warmen Gedanken und Nerven des Lebens hart und starr, da er oben am Grabe eine weiße verschleierte Gestalt ruhen sah. Emanuel riß sich und seinen Schüler auf und sagte: »Wir wollen hinauf auf das Theater der Geister: vielleicht ergreift die Tote meine Seele und nimmt sie mit.«... Fürchterlich schwiegen die Gegenden um ihren Weg... die Menschen fahren aus dem Fußboden wie stumme Knechte, wie Maschinen zur Bedienung, und fallen wieder hinunter, wenn sie abgeleeret sind.... Das Menschengeschlecht zieht wie ein fliegender Sommer durch den Sonnenschein, und das betauete Gewebe hängt sich flatternd an zwei Welten an, und in der Nacht vergehts.... So dachten beide Menschen auf der Wallfahrt zur Toten, sie wunderten sich über ihre eigne schwere Verkörperung und über das Geräusch ihrer Tritte. – Emanuel knüpfte seinen Blick auf die verschleierte Gestalt, die jetzt niederkniete; er dachte, sie höre seine Gedanken und fliege zu seinem Herzen durch das Mondlicht herüber....
Die Brust der zwei Menschen hob sich gleichsam unter zwei Leichensteinen auf und nieder, da sie die übergrasten langen Stufen zum Kirchhof aufstiegen und das schwere Tor, das mit verwitterten, weggewaschenen Auferstandenen angemalet war, berührten und aufdrehten. Das warme Erdenblut friert ein und das weiche Gehirn gerinnt zu einem einzigen Schreckenbilde, wenn von der Ewigkeit und von der Pforte der Geisterwelt die große Wolke wegrückt; Emanuel rief auf der Bühne der Toten wie außer sich: »Schauderhafter Geist, ich bin ein Geist wie du, du stehst auch unter Gott, willst du mich töten: so töte mich durch keinen Schauer, durch keine zermalmende Gestalt, sondern lächle wie die Menschen und drehe still mein Herz ab.« – Da stand die verhüllte Gestalt auf und kam – Emanuel griff wild nach seinem Freund, hüllte sich in das Angesicht desselben und sagte angedrückt: »An dir sterb' ich, an deinem warmen Herzen – o lebe glücklich, wenn du nicht mit mir erkaltest, ach! ziehe mit!«...
»Ach, Klotilde!« – sagte Viktor; denn sie war die Gestalt. Sie war stumm wie das Geisterreich, denn die besuchte Tote umklammerte noch ihr Herz; aber sie war groß wie ein Geist daraus: denn der ätherische Lichtnebel des Mondes, der Stand auf Toten, der Blick in die Ewigkeit, die hohe Nacht und die Trauer erhoben ihre Seele, und man vergaß fast, daß sie weinte. – Emanuel hielt seine Flügel noch ausgebreitet über die Szene und schauete erhaben über die Gräber: »Wie alles hier schläft und ruht auf dem großen grünen Totenbette! Ich möchte darauf erliegen – Sprach jetzo nichts? – Die Gedanken der Menschen sind Worte der Geister. – Wir sind schleichende Nachtvögel im dämmernden Dunstkreis, wir sind stumme Nachtwandler, die in diese Höhlen fallen, wenn sie erwachen – Ihr Toten! verstäubet nicht so stumm, ihr Geister, die ihr aus euren begrabnen Herzen zieht, flattert nicht so durchsichtig um uns! – – O der Mensch wäre auf der Erde eitel und Asche und Spielwerk und Dunst, wenn er nicht fühlte, daß ers wäre – – o Gott, dieses Gefühl ist unsere Unsterblichkeit!« – –
Klotilde, um ihn von dieser verheerenden Begeisterung herabzuziehen, nahm ihn bei der Hand und sagte: »Leben Sie wohl, Verehrungswürdiger, ich nehme heute noch Abschied, weil ich morgen aus Maienthal gehe – leben Sie glücklich – glücklich, bis wir uns wiedersehen; mein Herz vergisset Ihre Größe nie, aber ich sehe Sie bald wieder.«... Ihre Wehmut über den Gedanken an sein geweissagtes Sterben, ihre Furcht eines ewigen Abschieds erdrückten die andern Worte, denn sie wollte mehr sagen und wärmer danken. Emanuel sagte: »Wir sehen uns nicht wieder, Klotilde; denn ich sterb' in vier Wochen.« – »O Gott! nein!« sagte Klotilde mit dem innigsten heißesten Tone. – »Mein guter Emanuel,« sagte Viktor, »quäle diese Gequälte nicht. – Fasse dich, Gemarterte! unser Freund bleibt gewiß bei uns.« – Hier hob Emanuel sein Auge in den Himmel und sagte mit einem Blick, in dem eine Welt war: »Ewiger! könntest du mich bisher so getäuscht haben? – Nein, nein, am längsten Tage ziehen mich deine Sterne auf, und deine Erde kühlt mein Herz. – Und dich, du gute Klotilde, du Seele vom Himmel, dich seh' ich also heute gewiß, bei Gott! zum letztenmal mit deinen schönen Wangen und in deiner Erdengestalt – ich segne dich und sage dir Lebewohl, aber schwer und trübe, weil ich noch so viele Tage leben soll ohne dich. Ziehe sanft umweht durchs Leben, halte dein Herz hoch über den bunten Dunst der Erde und über ihre Wetterwolken – du hörst mich ja nicht, du bitter-weinendes Angesicht, Gott gieße Trost in deine Seele, scheide froher! – Dein Freund ist bei mir, wann ich von hinnen gehe.« – Hier faßte Viktor die Hände der wankenden verweinten Gestalt, die sich vergeblich die Tränen abstreifte, um den Lehrer noch einmal zu sehen und in die Seele zu drücken; und als Viktor ohne Besinnung rief: »Giulia! Selige! mildere das Weh deiner Freundin in dieser Stunde, halte dieses brechende Herz«, so sagte Emanuel, unbeschreiblich zärtlich beide anblickend: »Ich segne euch ein wie ein Vater, heiliges Seelen-Paar! Nie verlasset, nie vergesset einander! – O ihr seligen Geister hier über dem glimmenden Moder der zerstückten Särge, gebet diesen zwei Herzen Frieden und Glück, und wenn ich einmal gestorben bin, will ich um eure Seelen schweben und sie beruhigen. Und du, Ewiger unter deinen Sternen, mache diese zwei Menschen so glücklich wie mich – o nimm ihnen nichts, nichts auf der Erde als das Leben. – Gute Nacht, Klotilde!«....
– Die Pfingsttage sind vorüber! –
Und dir, gutes Schicksal, dank' ich, daß du mir die Gesundheit zur Freude gereicht, ein solches flüchtiges goldnes Zeitalter abzuschatten, da mein schwaches, so ungleich schlagendes Herz nicht verdient, solche Entzückungen nachzumalen. – Und dir, mein lieber Leser, möge das Pfingstfest irgendeinen Brandsonntag oder eine Marterwoche deines Lebens versüßet haben! –
Ende des dritten Heftleins