Jean Paul
Hesperus oder 45 Hundposttage
Jean Paul

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Nach dem Abmarsch des Evangelisten – als er sich auszankte, daß er ihn den Florhut finden lassen, den er überhaupt mehr verschlossen hätte, wäre Flamin öfter gekommen – sah er sich nach Klotildens Schattenriß um, damit der reizende Schatte sein Zürnen kühle. Er war nicht anzutreffen: seine erste Hypothese war, Matz hab' ihn still gestohlen, um so mehr da er ihn geschnitten. Hat er den Schattenriß wirklich eingesteckt: so wäre der Evangelist – denn mir wurde wie bekanntlich gleich beim Anfange dieser Geschichte die Silhouette übermacht – gar mein korrespondierendes Mitglied Knef, und er schickte mir die Avisfregatte, den Spitzhund, zu. – Toll ists, daß mich der Korrespondent durch solche Nachrichten selber auf den Argwohn bringt.

Indem Viktor den lieben Florhut als den Ersatz des Bildes in die Hand nahm und träumend besah: so schlugen am Hute ganz neue frische Blumen für seine Seele aus. »Wie,« sagt' er zu sich, »muß ich denn gerade den Schattenriß anschauen? Kann ich nicht das – Urbild selber dazu wählen?« Kurz der Hut wurde ein Glücktopf, aus dem er eine frohe Stunde zog, nämlich den Vorsatz, auf Pfingsten zu verreisen, aber nach – Maienthal. Er hielt sich ernstlich vor, daß ihm und Klotilden die zu weit getriebene Schonung eines eifersüchtigen Bruders, dessen irre Hoffnungen ja keine Schwester zu stärken verpflichtet sei, noch dazu durch die menschenfeindlichen Eingebungen Matthieus erschweret und vereitelt werde – daß also ihr Absondern so wenig erleichtere, als ihr Besuchen verbreche – daß es indessen schön sei, den Bruder zu schonen und bloß in seine Abwesenheit einen verdächtigen Ausflug zu verlegen, bis ihm einmal die heruntergezogne Binde in der Ungetreuen die Schwester entdecke und im Nebenbuhler den schonenden Freund – und daß es immer besser sei, sie in Maienthal als bei ihrer Zurückkunft in seiner Nähe zu sprechen – und daß der über seine Abstammung belehrte Bruder ihm einmal doch bloß vorrücken könne, er habe ihm keine Täuschungen genommen als höchstens unangenehme. – O die Liebe und die Tugend haben ein nacktes Gewissen und entschuldigen ihre himmlischen Freuden länger und mehr als andere ihre höllischen!

Als Viktor noch dazu daran dachte, daß den Tagen der Liebe so bald das Laub und die Blüten abfallen, und daß Emanuel und selber Klotilde zwei hart ans Ufer des Grabes gerückte Blumen sind, deren lose nackte Wurzeln schon erstorben hinunterhängen: so war sein Entschluß befestigt, und er schrieb an Emanuel die Nachricht seiner Ankunft zu Pfingsten, um Klotilden durch keinen Überfall zu erzürnen und um ihr noch dazu die Gelegenheit eines Verbotes zu lassen. Seine Wendung war die: »Wenn es ein sokratischer Genius erlaube (d. h. Klotilde), der ihm immer sage was er nicht tun solle: so komm' er zu Pfingsten, da ohnehin die Stadt da veröde, da Flamin auf 4, 5 Tage nach Kussewitz reise« etc.

Als er den Brief fertig hatte: fiel ihm ein, daß er gerade heute an diesem 29. April vor einem Jahre die ganze Nacht gereiset sei, um mit dem ersten Mai am Morgen durch den Nebel ins Pfarrhaus zu treten. »Ich kann ja wieder die schwüle Zephyr-Nacht nicht unter dem Deckbette, sondern unter den Sternen verbringen. – Ich kann in einem fort ins Abendrot nach Maienthals Bergen schauen. – Ich kann ja lieber den halben Weg darauf zugehen – oder gar den ganzen. – Ich kann mich auf einen Berg stellen und ins Dörfchen schauen – Wahrlich ich kann dann mein Billet hier irgendeinem Maienthaler inkognito einhändigen und wieder Reißaus nehmen noch vor tags.« –

Um sieben Uhr nachts ging er wie das Meer von Osten nach Westen. Orion, Kastor und Andromeda blinken in Westen nicht weit vom Abendrot über den Gefilden der Geliebten und werden wie diese bald aus einem Himmel in den andern untergehen. Das von lauter Hoffnungen erschütterte Herz, seine erhitzten Gehirnkammern, an denen das mit sympathetischer Dinte gezeichnete Maienthal immer lichter und farbiger vortrat, dieses innere, fast schmerzliche Brausen der Freude raubte ihm anfangs das Vermögen, den in griechischer Schönheit aufgebaueten Frühlingtempel in eine stille helle Seele aufzufassen. Die Natur und die Kunst werden nur mit einem reinen Auge, aus welchem die beiden Arten von Tränen weggewischet sind, am besten genossen.

Aber endlich überdeckte das ausgebreitete Nachtstück seine heißen Fieberbilder, und der Himmel drang mit seinen Lichtern und die Erde mit ihren Schatten in sein erweitertes Herz. Die Nacht war ohne Mondlicht, aber ohne Wolken. Der Tempel der Natur war wie ein christlicher erhaben verdunkelt. Viktor konnte sich aus den Laufgräben langer Täler, aus Wälder-Finsternissen und aus dem schillernden Nebel der Wiesen nicht eher erheben als in der Mitternachtstunde, wo er einen Berg wie einen Thron bestieg und sich da auf den Rücken legte, um die Augen in den Himmel unterzutauchen und sich abzukühlen vom Träumen und Laufen. Das hereinhängende Himmelblau schien ihm eine dünne blaue Wolke, ein in blaue Dünste zerschlagnes Meer zu sein, und eine Sonne um die andre teilte mit ihren langen Strahlen diese blaue Flut ein wenig auseinander. Der Arkturus, der dem liegenden Menschen gegenüberstand, stieg schon von der Zinne des Himmels herab, und drei große Sternbilder, der Luchs, der Stier, der große Bär, zogen weit voraus unter das Abendtor. – Diese nähern Sonnen wurden von entrückten Milchstraßen mit einem Hof umschwommen, und tausend große, in die Ewigkeit geworfne Himmel standen in unserm Himmel als weiße spannenlange Düfte, als lichte Schneeflocken aus der Unermeßlichkeit, als silberne Kreise aus Reif. – Und die Schichten aneinandergerückter Sonnen, die erst vor dem tausendäugigen Auge der Kunst den Nebelschleier fallen lassen, spielten, wie Streife unserer Sonnenstäubchen, im glühenden, durch das Unermeßliche brennenden Sonnenstrahl des Ewigen. – Und der Widerschein seines durchglühten Thrones lag hell auf allen Sonnen –

– Plötzlich stellen sich nähere zerschmolzene Lichtwölkchen, nähere Nebel, aufgeflogen aus Tau, unter der Versilberung, tief herab vor die Sonnen, und der Silberblick des Himmels läuft mit zertragenen dunkeln Flocken an. – – Viktor begreifet die überirdische Entzündung nicht und richtet sich bezaubert empor..... und siehe, der gute verwandte nahe Mond, der sechste Weltteil unserer kleinen Erde, war still und ohne das Freudengeschrei des Morgens neben der Triumphpforte der Sonne hereingetreten in die Nacht seiner Mutter-Erde mit seinem halben Tage.

Und als jetzt die Schatten von allen Bergen rannen und durch die aufgedeckten Landschaften nur in Bächen zwischen Bäumen zogen und als der Mond dem ganzen dunkeln Frühling in der Mitternacht einen kleinen Morgen gab: so faßte Viktor nicht nächtlich-melancholisch, sondern morgendlich-verjüngt den großen runden Spielraum der jährlichen Schöpfung in sein erwachtes Auge, in seine erwachte Seele, und er überschauete den Frühling unter dem innern Freudengeschrei mitten in der weiten Verstummung, unter dem Gefühle der Unsterblichkeit im Kreise des Schlafes. – –

Auch die Erde, nicht nur der Himmel, macht den Menschen groß!

Ziehet in meine Seele und in meine Worte, ihr Mai-Gefühle, die ihr in der Brust meines Viktors schluget, da er über die knospende schwellende Erde sah, von Sonnen über seinem Haupte bedeckt, von grünendem Leben umstrickt, das von Gipfeln zu Wurzeln, von Bergen zu Furchen reichte, und von einem zweiten Frühling unter seinen Füßen getragen, da er sich hinter der durchbrochenen Erdrinde die Sonne mit einem Glanztage unter Amerika stehend dachte. – Steige höher, Mond, damit er den quellenden, geschwollenen, dunkel-grünen Frühling leichter sehe, der mit kleinen blassen Spitzen aus der Erde dringt, bis er sich herausgehoben voll glühender Blumen, voll wogender Bäume – damit er die Ebenen erblicke, die unter fetten Blättern liegen und auf deren grünem Wege das Auge von den aufgerichteten Blumen, an welchen die gespaltenen Reize des Lichtes wachsen und sich befestigen, zu den in Blüten zerspringenden Büschen und zu den langsamen Bäumen aufsteigt, deren gleißende Knospen in den Frühlingwinden auf- und niederschwanken – – Viktor war in Träume gesunken, als auf einmal das kalte Anwehen der Lenzluft, die jetzo mehr mit kleinen Wolken als mit Blumen spielen konnte, und das Rauschen der Frühlingbäche, die neben ihm von allen Bergen und über jedes dunklere Grün wegschossen, ihn erweckte und berührte. – Da war der Mond ungesehen gestiegen, und alle Quellen glommen, und die Maiblumen traten weißblühend aus dem Grün, und um die regen Wasserpflanzen hüpften Silberpunkte. Da hob sich sein wonneschwerer Blick, um zu Gott zu kommen, von der Erde auf und von den grünenden Rändern der Bäche und stieg auf die herumgebognen Wälder, aus denen die eisernen Funken- und Dampf-SäulenVon den Eisen- und Kohlenhütten. über die Gipfel sprangen, und zog auf die weißen Berge, wo der Winter in Wolken schläft; – – aber als der heilige Blick in dem Sternen-Himmel war und zu Gott aufsehen wollte, der die Nacht und den Frühling und die Seele geschaffen hat: so fiel er mit zurücksinkendem Flügel und weinend und fromm und demütig und selig zurück.... Seine schwere Seele konnte nur sagen: Er ist! –

Aber sein Herz sog sich voll Leben an der unendlichen, quellenden, wehenden Welt um ihn, über ihm, unter ihm, worin Kraft an Kraft, Blüte an Blüte reicht, und deren Lebensquellen von einer Erde in die andere sprützen, und deren leere Räume nur die Steige der feinern Kräfte und der Aufenthalt der kleinern sind – die ganze unermeßliche Welt stand vor ihm, deren ausgespannter Wasserfall, in Düfte und Ströme, in Milchstraßen und Herzen zersprungen, zwischen den zwei Donnern des Gipfels und des Abgrunds reißend, gestirnt, geflammt herabfährt aus einer vergangnen Ewigkeit und niederspringt in eine künftige – und wenn Gott auf den Wasserfall sieht, so malt sich der Zirkel der Ewigkeit als Regenbogen auf ihn, und der Strom verrückt den schwebenden Zirkel nicht....

Der selige Sterbliche stand auf und wandelte im Gefühle der Unsterblichkeit durch das um ihn pulsierende Frühlingleben weiter; und er dachte, daß der Mensch mitten unter den Beispielen der Unvergänglichkeit den Unterschied zwischen seinem Schlaf und Wachen irrig zum Unterschied zwischen Sein und Nichtsein zerdehne. Jetzo war seinen kräftigen strotzenden Gefühlen jedes Getöse willkommen, das Schlagen der Eisenhämmer in den Wäldern, das Rauschen der Lenzwasser und der Lenzwinde und das aufprasselnde Rebhuhn. –

Um drei Uhr morgens sah er Maienthal liegen. Er trat auf den von fünf einzelnen Tannenbäumen gehobnen Berg, auf dem man durchs ganze Dorf und wieder hinüber zum andern Berge schauen kann, wo die Trauerbirke seinen Emanuel beschattet. Die überwachsene Zelle des letzten konnt' er nicht erblicken; aber am Stifte, wo seine Freundin träumte, schimmerten alle Fenster im ausfunkelnden Mondlicht. In seiner Brust war noch der Rausch der Nacht und auf seinem Angesicht das Brennen der Träume – aber das Tal zog ihn in die Erde heraus und gab seinen Freudenblumen bloß einen festern Boden; und der Morgenwind kühlte seinen Atem und der Tau seine Wangen ab. Die Tränen stiegen in seine Augen, als sie auf die weißverhangnen Fenster fielen, hinter denen eine schöne, eine weise, eine geliebte und eine liebende Seele ihre unschuldigen Morgenträume vollendete. Ach, es träume dir, Klotilde, von deinem Freunde, daß er dir nahe ist, daß er seine überströmenden Augen auf deine Zelle wendet und daß er verschwindet, wenn du erscheinst, und daß er doch seliger werde von Minute zu Minute – ach er träumt ja auch, und wenn die Sonne aufgeht, ist das geliebte Tal wie dein Traum mit dem Sternenhimmel versunken. – O die Berge, die Wälder, hinter denen eine geliebte Seele wohnt, die Mauern, die sie umschließen, schauen den Menschen mit einem rührenden Zauber an und hangen vor ihm wie holde Vorhänge der Zukunft und Vergangenheit.


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