Jean Paul
Hesperus oder 45 Hundposttage
Jean Paul

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Als er kniete: war alles so erhaben und so mild – Welten und Sonnen zogen von Morgen herauf, und das schillernde Würmchen drängte sich in seinen staubichten Blumenkelch hinab – der Abendwind schlug seinen unermeßlichen Flügel, und die kleine nackte Lerche ruhte warm unter der federweichen Brust der Mutter – ein Mensch stand auf dem Gebirge, und ein Gold-Käferchen auf dem Staubfaden... und der Ewige liebte seine ganze Welt. – –

Sein Geist war jetzt gemacht, einen großen Menschen zu fassen, und er sehnte sich nach der Stimme eines Bruders.

Er wankte ohne Steig ins Dorf hinab, umzogen von den großen Kreisen des Kibitzvogels und von den kleinen des Maikäfers. Am Fuße des Berges war der Zwittertag dunkler – am Sternenhimmel hob sich der Vorhang auf – der Dampf des Abends, der heiß aufgezogen war, fiel kalt, wie Menschen, in die Erde zurück: noch eine laute Lerche drehte sich als das letzte Echo des Tages über dem Berge.

Endlich hört' er Emanuels Linde. – Er hätte ihn lieber unter dem großen Himmel als unter der engen Stubendecke umarmt. Hinter dem Fenster sah er einen außerordentlich schönen Jüngling stehen, der auf der Flöte blies. Dieser zog aus ihren Himmelpforten ein fliehendes schwebendes Elysium; Viktor hörte ihn lange an, um sein schlagendes Herz zu stillen; endlich ging er mit tränenvollen Augen um das Haus und wollte sprachlos und blind an den Jüngling und an Emanuel fallen. Als er vor dem Fenster vorbeiging, erwiderte der Jüngling den Gruß nicht – als er die Haustüre eröffnete, fing ein sanftes Glockenspiel zu tönen an. Sogleich kam der Jüngling heraus und fragte ihn freundlich, wer da sei; denn er war blind. Viktor trat in ein Allerheiligstes, da er in die mit Linden ausgelaubte Stube ging, die den geflügelten Menschen umgab, der jetzt außer derselben unter der großen Nacht Gottes war. Gegen Mitternacht sollte Emanuel zurückkommen. Das Zimmer war offen und rein – einige Blätter von genossenen Früchten lagen auf dem Tisch – um alle Fenster glühten Blumen – ein Sternrohr lehnte an der Wand – Reste einer orientalischen Kleiderkammer verkündigten den Indier. – –

Die Stimme des schönen Jünglings hatte etwas unaussprechlich Rührendes für ihn, weil sie ihm bekannt vorkam; sie zog tief in sein Herz hinein, wie die Melodie eines Liedes, das aus der Kindheit heraufklingt. Er durfte frei mit dem steten Blick der Liebe auf dem in eine ewige Nacht gerichteten Angesicht ruhen; er wollte die kindlichen Lippen voll Melodien küssen und zögerte noch; – aber da er wieder aus dem Hause ging, um Emanuel zu suchen, und da das Glockenspiel wieder anfing – denn es tönte, wenn die Tür auflief, um dem Blinden alles anzumelden –, so konnt' er sich nicht mehr halten unter dem lieblichen Getöne, sondern er berührte den Mund des Blinden, da er am offnen Fenster lehnte, mit einem weichen Kusse wie mit einem Hauch. »Ach Engel! bist du denn wieder vom Himmel herunter?« sagte der Blinde, der ihn mit irgendeinem bekannten Wesen verwechselte.

Wie war draußen alles so gut! Die Abendglocke des Dorfes rief über die entschlummerten Fluren, und eine entfernte Seele neigte sich vielleicht nach ihren verwehten gebrochnen Tönen herüber. Der Abendwind rauschte mit Gipfeln voll grüner Früchte darein. Der Abendstern – der Mond unserer Dämmerung – ruhte freundlich auf dem Wege der Sonne und des Mondes und schickte seinen Trost zwischen die Abwesenheit von beiden. – »Wo wirst du jetzt sein, mein Emanuel? Ruhest du vielleicht vor dem Abendrot – oder schauest du in das Sternenmeer – bist du in der Entzückung, die wir ein Gebet nennen – oder...«

Jetzo blitzte in ihm auf einmal der Gedanke, sein Emanuel sei, da heute nachts der Johannistag anfing, vielleicht am Genusse des Abends verschieden... Er suchte ihn mit den Augen eifriger unter jedem Baume, in jedem tiefern Schatten, er blickte zu den Bergen auf, als könnt' er ihn da sehen, und zu den Sternen, als dürft' er ihn da suchen. – Er umging das Dorf, dessen Ringmauer eine Fruchtschnur von Kirschbäumen war, die mit einer herabgeworfnen Milchstraße von längst gefallnen Blüten den grünen Umkreis versilberten, und eilte über die Ruinen der Häuser, die die Kinder am Tage erbauet hatten, gegen die ausglimmenden Fenster der Abtei zu, die sich am südlichen Berge, wovon er hereingestiegen war, in die Höhe richtete. Denn der Blinde hatte ihm gesagt, daß dieser Berg Emanuels Sternwarte sei, und daß er jede Nacht dahin komme. Die grüne Treppe, die mit Terrassen und Moosbänken absetzte, und an der ein Treppengeländer von Buschwerk hinaufwuchs, führte ihn einem Berge zu, der sich erhaben im Äther mit einer hohen Trauerbirke schloß. Mit jedem Rasenplatz hoben sich, wie aus einem Bade, neue Glieder der dunkeln Natur heraus – er zog gleichsam von einem Planeten in den andern. Über das aufsteigende verhüllte Gefilde strömte der Nachtwind und zog einsam von Wald zu Wald und spielte kräuselnd am Gefieder des schlafenden Vogels und des schwirrenden Nachtschmetterlings. Viktor sah hinüber zur Abendröte, die die Nacht wie eine Vorsteckrose vor den Busen, an dem die Sonnen liegen, vorgenommen hatte. Das Meer der Ewigkeit stand in Gestalt der Nacht auf dem Silbersand der Welten und Sonnen, und aus dem Meeresgrund blinkten die Sandkörner tief herauf.

Um die Trauerbirke nahm ein unbekanntes melodisches Tönen zu, das er schon heute auf der Insel gehört: endlich stand er oben unter der Birke, und das Tönen, wie das einer Harmonika, das erst über Paradiese und durch Blumenhecken geflossen ist, war laut um ihn; aber er sah nichts weiter als einen hohen Grasaltar (die Geburtstätte von Emanuels Brief) und eine tiefe Grasbank. Aus welcher unsichtbaren Hand, dacht' er schauernd, gehen diese Töne, die von Engeln abzugleiten scheinen, wenn sie über die zweite Welt fliegen, von vereinigten Seelen, wenn eine zu große Wonne sich zum Seufzer ausatmet und der Seufzer sich in verwehtes Getön zerlegt? Es ist ihm zu vergeben, daß er an einem solchen Tage, der seine Seele in immer größere Erschütterungen setzte, in diesem Schauder der Nacht, unter diesem melodischen Trauerbaum, an diesem Allerheiligsten des unsichtbaren Emanuels, daß er endlich glaubte, dieser sei an diesem Abend aus dem Leben geflohen, und seine Seele voll Liebe fliege noch in diesen Echos um ihn und sehne sich nach der ersten und letzten Umarmung. Er verlor sich immer mehr in die Töne und in die Stille rings um sie – seine Seele wurde ihm zu einem Traum, und die ganze Nachtlandschaft wurde zum Nebel aus Schlaf, in dem dieser lichte Traum stand – die Quelle des unendlichen Lebens, die der Ewige ausgießet, flog weit von der Erde im unermeßlichen Bogen mit den stäubenden Silberfunken der Sonnen über die Unendlichkeit, sie bog sich glimmend um die ganze Nacht, und der Widerschein des Unendlichen bedeckte die dunkle Ewigkeit.

O Ewiger, wenn wir deinen Sternenhimmel nicht sähen, wie viel wüßte denn unser in den Erdenkot untergesunknes Herz von dir und von der Unsterblichkeit? –

Plötzlich wurde in Osten die Nacht lichter, weil der zerflossene Schimmer des Mondes an den Alpengebirgen, die ihn bedeckten, heraufschlug – und auf einmal wurden die unbekannten Töne lauter und die Blätter und der Nachtwind. Da erwachte Viktor wie aus einem Traume und Leben und drückte die harmonischen zerrinnenden Lüfte an die schmachtende Brust und rief unter den vorquellenden Tränen, die ihm das ganze Gefilde wie eine Regenwolke einhüllten, außer sich aus: »Ach Emanuel, komme! – ach ich dürste nach dir. – Töne nicht mehr, du Seliger, nimm dein abgelegtes Menschenangesicht und erscheine mir und töte mich durch einen Schauder und behalte mich in deinen Armen!«...

Siehe! als der dunkle Tränentropfen noch auf dem Auge lag und der Mond noch hinter den Alpen verzog: da stieg den Berg herauf eine weiße Gestalt mit zugeschlossenen Augen – lächelnd – verklärt – selig – gegen den Sirius gewandt – –

»Emanuel, erscheinst du mir?« rief bebend Horion und riß seine Tränen herab. Die Gestalt schlug ihre Augen auf. Sie breitete ihre Arme aus. Viktor sah nicht und hörte nicht, er glühte und zitterte. Die Gestalt flog ihm entgegen, und er gab sich hin: »Nimm mich!« Sie berührten einander – sie umschlangen einander – der Nachtwind riß durch sie – das fremde Getön klang näher – ein Stern zerschoß – der Mond flog über die Alpen herauf....

Und als er mit seinem Edenlicht die Wangen der unbekannten Erscheinung begoß: erkannte Viktor, daß es sein teurer Lehrer – Dahore war, der heute in den Spiegel der Insel seine Gestalt geworfen. Und Dahore sagte: »Geliebter Sohn, kennst du deinen Lehrer noch? Ich bin Emanuel und Dahore.« Da wurde die Umarmung enger – Horion wollte den Dank für eine ganze Kindheit in einen Kuß zusammenpressen und lag aufgelöst in den Armen des Lehrers und in den Armen der liebenden Wonne.

Umschlinget euch fest, ihr Glücklichen, drücket eure gefüllten Herzen bis zum Tränen-Erpressen aneinander, vergesset Himmel und Erde und verlängert die erhabne Umarmung! – Ach sobald sie zerfallen ist, so hat dieses schlaffe Leben nichts Stärkeres mehr, womit es euch verknüpfen kann, als den Anfang des – zweiten....

Emanuel trat endlich aus der Stellung der Liebe heraus und schauete abgebogen, wie eine Sonne, groß und offen in Horions Angesicht und begegnete mit Entzückung dem veredelten Geiste und Angesicht seines blühenden Lieblings. Dieser sank vor dem Blick der Liebe mit aufgehobenem Angesicht unwillkürlich auf die Knie und sagte: »O mein Lehrer, mein Vater – o du Engel, liebst du mich denn noch so sehr?« – Aber er weinte zu sehr, und seine Worte waren unverständlich und erstarben im Herzen.....

Ohne zu antworten, legte Emanuel die Hand auf das Haupt des knienden Schülers und wendete sein verklärtes Auge gegen den schimmernden Himmel und sagte mit feierlicher Stimme: »Dieses Haupt, du Ewiger, weiht sich heute dir in dieser großen Nacht. – Nur deine zweite Welt fülle dieses Haupt und dieses Herz aus – und die kleine dunkle Erde befriedig' es nie! – O mein Horion! hier auf diesem Berge, auf dem ich über ein Jahr aus der Erde ziehe, beschwör' ich dich bei der großen zweiten Welt über uns, bei allen großen Gedanken, womit dir jetzt der Ewige in dir erscheint, beschwör' ich dich, daß du gut bleibst, auch wenn ich lange gestorben bin.«

Emanuel kniete zu ihm nieder, hielt den Erschöpften und neigte sich an sein erblassendes Angesicht und sagte leiser und betend: »Mein Geliebter! – mein Geliebter! wenn wir beide tot sind, in der zweiten Welt scheid' uns Gott nie, nie mich und dich!« – Er weinte nicht, aber konnte doch nicht mehr sprechen; ihre zwei Herzen ruhten verknüpft aneinander, und die Nacht umhüllte schweigend ihre stumme Liebe und ihre großen Gedanken.....


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