Jean Paul
Hesperus oder 45 Hundposttage
Jean Paul

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– Und du, mein Leser, fühlest du nicht, du würdest dich so nahe vor der Klosterpforte des Todes ebenso veredeln? Aber ich und du stehen ja schon davor; ist unser Tod nicht so gewiß als Viktors seiner, wiewohl in einem längern Zwischenraum? O wenn jeder nur gewiß glaubte, nach 50 Jahren an einem bestimmten Tage führte ihn die Natur auf ihren Richtplatz: er wär' anders; aber wir alle werfen das Bild des Todes aus unserer Seele, wie die Schlesier es am Lätare-Sonntag aus den Städten werfen. Der Gedanke und die Erwartung des Todes bessern so sehr als die Gewißheit und Wahl desselben.

Jetzo zogen die schönen blauen Nachsommertage des heurigen Oktobers auf zarten Phalänenflügeln von Spinnengeweben über den Himmel. Viktor sagte zu sich: »Schöner Erdenhimmel, ich will noch einmal unter dir wandeln! Gutes Mutterland, ich will dich noch einmal mit deinen Bergen und Wäldern überschauen und dein Bild in die unsterbliche Seele heften, eh' dein gelbes Grün mein Herz überwächset und darin einwurzelt – ich will dich sehen, St. Lüne meiner Kindheit, und meine schönen Pfingstwege und dich, du seliges Maienthal, und dich, du guter alter BienenvaterZeidler Lind in Kussewitz., und will dir deine Freudenstunden-Uhr zurückgeben – – und dann werd' ich genug gelebt haben.«

Er fragte sich: »Bin ich denn reif für die Obstkammer des Kirchhofs? – Aber ist denn irgendein Mensch reif? Ist er nicht im 90sten Jahr noch unvollendet wie im 20sten?« – Jawohl! der Tod nimmt Kinder ab und Feuerländer; der Mensch ist Sommerobst, das der Himmel brechen muß, eh' es zeitigt. Die andere Welt ist keine gleichgestellte Allee und Orangerie, sondern die Baumschule unserer hiesigen Samenschule.

Ehe Viktor mit Küssen und Weinen vom Blinden ging: beschied er abends vorher die arme Marie ins Kabinett und empfahl ihr (wie dem italienischen Bedienten) die Pflege des Blinden. Aber seine Absicht war, der zerbrochenen kraftlosen Seele die Hoffnung einiger 100 fl. – soviel durft' er schon als Erbschaft von seinem bemittelten Vater Eymann begehren – vorauszugeben und anzukündigen. Der Eigennutz dieser Erniedrigten, der andere kalt gemacht hätte, rührte gerade sein Innerstes; schon längst hatt' er gesagt: »man sollte mit keinem Menschen Mitleid haben, der philosophisch oder erhaben dächte, am wenigsten mit einem Gelehrten – bei einem solchen gingen die Wespen-Stiche des Schicksals kaum durch den Strumpf – hingegen mit der armen Pöbelseele leid' er und wein' er unendlich, die nichts Größeres kenne als die Güter der Erde, und die, ohne Grundsätze, ohne Trost, bleich, hülflos, zuckend und erstarret niederfalle vor den Ruinen ihrer Güter.« – Es verdoppelte daher bloß sein Mitleiden, da diese Marie in sinnloser Dankbarkeit vor ihm mit abgerissenen Danksagungen – Ausrufungen – Freudengüssen – mit Rockkuß, einfältigem Lachen und Niederknien wechselte.

Als er den andern Morgen ging – zuerst auf St. Lüne – und vor dem Marienkloster vorüberkam, wo einmal die angenommene Tochter des Italieners Tostato einen sechsten Finger opfern wollte: so kam Marie aus einer Glieder-BudeUm mehre Kapellen (s. Schlötzers Briefwechsel T. III. Heft XVIII. 45) stehen Warenlager von wächsernen Gliedern und Tieren, die man als Ohren- und Armgehenke für Heilige kauft, damit die Urbilder genesen. heraus und hatte zwei wächserne Herzen erhandelt. Viktor brachte durch langes und künstliches Fragen aus ihr heraus: sie wolle das eine, das ihres vorstelle, der heiligen Marie umhenken, weil ihres ihr nicht mehr so wehe tue und nicht so eingepresset sei wie vorige Woche. – Über das zweite wollte sie lange nicht heraus; endlich gestand sie: es sei Viktor seines, das sie der heiligen Mutter Gottes opfern wollte, weil sie dachte, es tu ihm auch recht weh', da er so bleich aussehe und so oft seufze. – –» Gib mirs, Liebe,« (sagte er zu tief bewegt) » ich will mein Herz selber opfern

»Ja,« wiederholt' er unter dem stillen Himmel draußen, »das Herz hinter der Brust will ich opfern – es ist auch von Wachs – und der Mutter Erde will ichs geben, damit es heile – heile....«

Lasset ihn immer weinen, meine Freunde, jetzo da er lächelnd die stille blasse Erde anblickt, hinauf bis zu ihren Bergen voll Duft. – Denn Weichheit der Empfindung verträgt sich gern mit Versteinerung und Passauer Kunst gegen das verletzende Geschick. – Lasset ihn immer weinen, da er diese blumenlose, gleichsam in die Seide des fliegenden Sommers sich einspinnende Erde ansieht und ihm ist, als müss' er niederfallen und die kalte Aue wie eine Mutter küssen und sagen: blühe früher wieder auf als ich, du hast mir Freuden und Blumen genug gegeben! – Das stille Auseinandergehen der Natur, auf deren Leiche die vollblühende Zeitlose gleichsam wie ein Totenkranz stand, legte durch dieses auf lösende Reiben seine Kräfte sanft auseinander – er war ermüdet und gestillt – die Natur ruhte um ihn, er in ihr – die Erschöpfung floß beinahe in eine süße kitzelnde Ohnmacht über – die Tränendrüse schwoll und drückte nicht mehr, eh' sie übertrat, sondern ihr Wasser lief wie Tau aus Blumen leicht und ohne Stocken nieder, wie das Blut durch seine Brust.

Er sah jetzo St. Lüne liegen, aber gleichsam entrückt von ihm, in einem Mondschein. Er ging nicht hindurch, um nicht die Wachsstatue zu erblicken, deren Leichenpredigt er gehalten und zu der er auch ein Herz aus Wachs besaß, sondern er ging außen herum: »Werde immer breiter und lauter, schöner Ort, nie umzingle dich ein Feind!« Mehr sagt' er nicht. Denn als er vor dem Kirchhof vorüberging, dacht' er: »Haben denn nicht diese auch alle von dem Orte Abschied genommen; und tu' ichs allein?« – Bloß der Zurückblick nach dem Pfarr-Schieferdach entzündete noch einen Blitz des Schmerzens durch den Gedanken an die mütterlichen Tränen über seinen Tod; aber er sagte sich bald den Trost, daß das an Flamin gewöhnte Mutterherz der Pfarrerin den Kummer über das Opfer heilen werde durch die Freude über den geretteten Liebling.

Er ging nun auf Maienthal zu und zog mit Fleiß seine träumenden Gedanken von dessen erhabnen Stellen ab, um (abends bei der Ankunft) desto mehr – Schmerz zu genießen. Aber nun spann sich sein Ich in ein neues Gedankengewebe ein: er überdachte das Vergnügen, ohne alle Krankennächte hell und gerade, nicht liegend, sondern aufgerichtet wie der Riese CänäusDie Zentauern konnten ihn nicht mit Bäumen umschlagen, sondern mußten ihn stehend in die Erde drücken. Orph. Argonaut. 168. in die Erde einzusinken – er fühlte sich geschirmet gegen alle Unfälle des Lebens und gereinigt von der stets in jedem Herzen fortnagenden Furcht – alles dieses und die Freude an erfüllten Pflichten und an bezwungnen Trieben und die Lichter des blauen, gleichsam im Blumenstaube stehenden Tages klärten seinen umgerüttelten Lebensstrom so auf, daß er zuletzt länger (wenns ihm nicht sein Beschluß verböte) im hellen Strome hätte spielen wollen... So groß wird durch die Verachtung des Todes die Schönheit des Lebens – so gewiß ist jeder, der mit kaltem Blut sich das Leben abspricht, vermögend, es zu ertragen – so wahr rät Rousseau, vor dem Tode eine gute Tat zu unternehmen, weil man jenen dann entbehren kann.... – Als Viktor so dachte: trat das Schicksal vor ihn und fragte ihn zürnend: »Willst du sterben?« – Er antwortete: »Ja!« – da er vor Sonnenuntergang in Obermaienthal Klotildens Wagen, den er da bei der Abreise gesehen, wieder erblickte. Jetzo fiel die Todeswolke über die Gegend nieder. Er eilte vorüber – am Fenster sah er seine Mutter und die Lady, die Mutter Flamins – sein Inneres brauste – seine Augen glühten trocken – denn er wählte unter den Waffen des Todes. – Warum ging er so spät, im Dunkeln, mit einem stürmenden Innern, das alle süßen Träume verfinsterte, noch nach Maienthal? – Er wollte zu Emanuels Grabe: nicht um da zu trauern, nicht um da zu träumen; sondern um sich da eine Höhle zu suchen, nämlich die letzte. Der reißende Gram hatte ein Gemälde seines Sterbens entworfen, und er hatte den Riß gebilligt: er wollte nämlich, sobald das Verhängnis die Notwendigkeit seines Todes durch das Verschwinden seines Vaters und durch die Gefahr Flamins entschieden hätte, neben der Trauerbirke sein Grab aushöhlen, sich hineinlegen, sich darin töten und sich dann von dem blinden Julius, der nichts wissen und sehen kann, mit Erde überschütten lassen und so, verhüllt, unbekannt, namenlos aus dem Leben fliehen an die modernde Seite seines Emanuels....

Schwarze Leichenzüge von Raben flogen langsam wie Gewölk durch den sonnenlosen Himmel und senkten sich wie Gewölk in die Wälder nieder – der halbe Mond hing über der Erde – ein kleiner fremder Schatten, so groß wie ein Herz, lief fürchterlich neben ihm, er sah auf, es war der Schatten eines langsam schwebenden Geiers. – Er riß sich durch Maienthal, er sah nicht den entblätterten Garten und Dahores verschlossenes Haus, sondern lief durch die Kastanienallee der Trauerbirke entgegen. – –

Aber unter den Kastanien am Orte, wo ihn Flamin töten wollte, sah er Klotildens welke Federnelke mit dem blutigen Kelch-Tropfen liegen... Und da noch eine Lerche, die letzte Sängerin der Natur, über dem Garten zitterte und allen Frühlingen des Lebens mit zu heißen Tönen nachrief und das Herz mit einem unendlichen tödlichen Sehnen durchschnitt: so weinte mein Viktor laut hinauf, und als er oben auf dem Grabe die großen düstern Tränen abgewischt hatte, stand – Klotilde vor ihm.

Er erzitterte einmal und verstummte.... Sie kannte kaum die abgebleichte Gestalt und fragte zitternd: » Sie sinds? Sehen wir uns wieder?« – Seine Seele war auseinandergetrieben, und er sagte, aber in anderem Sinn: »Wir sehen uns wieder.« Sie blühte, durch die Reise genesen. Aber Blut war in ihrem Schnupftuch – es war das Blut, das Emanuel unter dem Duell in der Allee aus seinem Busen vergossen. Er starrte fragend das Blut an – sie wies auf das Grab und verhüllte ihr weinendes Auge. – Mit der Frage: »Ist Ihr Herr Vater gekommen?« wollte die Gute sanft ablenken – aber sie lenkte ihn an sein Grab – sein Auge suchte wild den Raum zur letzten kühlen Grotte des Lebens – sie hatte ihren sanften Geliebten niemals so gesehen und wollte seine Seele mildern durch stilles Erinnern an Emanuel – sie füllte die leere Stelle ihres Briefes aus und erzählte, wie gefaßt und still der Tote aus England gegangen und vorher beim Abschiede in eine außerordentlich tiefe Höhle des verfallnen Tempels alle seine ostindischen Blumen, drei Bilder, beschriebene Palmblätter und geliebte Aschensammlungen hinabgesenkt habe....

Viktor war außer sich – er stemmte seine Hand aufs taukalte nasse gelbe Grab – er weinte in einem fort und konnte die Geliebte nicht mehr sehen – er stürzte an ihren bebenden Mund und gab ihr den Abschiedkuß des Todes. Er durfte sie küssen, denn Tote haben keinen Rang. Er fühlte ihre strömenden Tränen, und eine harte Sehnsucht ergriff ihn, diese Tränen hervorzureizen; aber er konnte nur nicht reden. Er erstickte ihre Worte durch Küsse und seine durch Qual. Endlich konnte er sagen: »Lebe wohl!« Sie wand sich erschrocken los und blickte ihn an mit größern Tränen und sagte: »Wie ist Ihnen? Sie brechen mir das Herz!« – Er sagte: »Nur meines muß brechen!« und riß das Herz von Wachs heraus und quetschte es auf dem Grabe auseinander und sagte: »Ich opfre dir mein Herz, Emanuel, ich opfre dir mein Herz.« Und als Klotilde fürchtend entflohen war: konnt' er ihr nur mit erschöpften Tönen noch nachrufen: »Lebe wohl, lebe wohl!«


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