Jean Paul
Hesperus oder 45 Hundposttage
Jean Paul

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Er wollte seine Freude einem fremden Herzen zum Kosten entgegentragen, wie die Biene ihren Mund voll Honig in die Lippen einer andern übergibt. Endlich keuchten zwei Kinder daher, davon eines als Zugvieh an einem Schiebekarren angestrickt war, und das andere vornen als schiebender Fuhrmann nachgespannt. Der Karren war mit sechs löcherichten Säcken voll Tannenzapfen befrachtet, die das arme Gespann zu einem schwindsüchtigen Feuer zusammenfuhr. Beide vertauschten häufig ihre Ämter, um es auszudauern; und der Fuhrmann wollte immerfort sogleich wieder der Gaul werden. »Ihr guten Kinder! kann denn nicht euer Vater schieben?« – »Der Baum hat ihm die zwei Beine entzweigeschlagen.« – »So könnte doch euer großer Bruder in den Wald?« – »Er muß dort brachen.« – Viktor stand am Brachacker neben einem Wams mit ebensoviel Farben als Löchern und neben einem schmutzigen Brotsack, welches beides dem Bruder angehörte, der in der Ferne mit einem halben Postzug magerer Kühe auf der Bühne dieses Auftritts ackerte. – – Eine volle Hand, die sich in den Schoß des Elends ausleerte, machte Viktors schwere Seele leichter, wie das volle Auge, das sich jener nachergoß; sein Gewissen, nicht sein Eigennutz war sein Einwender gegen die Größe seiner Gabe – er gab sie doch, aber in kleinen Münzsorten – die Kinder verließen ihre Kaufmannsgüter, und das eine lief über das Feld hinüber zum Pfluge und das andre ins Dörfchen hinab zur Mutter. – Der Ackermann zog in der Ferne den Hut ab – wollte laut danken, konnte sich aber nur schneuzen – ackerte ohne Hut heran – aber als er dem Jüngling den Dank nachrief, war dieser schon weit aus dem Gehör-Kreise hinausgeflüchtet...

– Wünsche, lieber Leser, nicht diesen oder den kommenden Zwischenakt des Menschengrams aus den großen Auftritten der glücklichen Natur heraus, und dein Herz verdiene wie Viktor durch Geben das Nehmen! –

Er kam in seiner gutherzigen Eile bald einem fieberkranken Schmiedegesellen nach, dessen Reisekoffer oder Mantelsack ein angefülltes Schnupftuch war; am Stecken trug er noch ein entfärbtes elendes Stiefelpaar, das er schonen mußte, weil das andre, das er an andern Stecken, nämlich an den Beinen, schleppte, noch elender und weniger ohne Farbe als ohne den Boden dazu war. Als er den Fiebrischen schonend gegrüßet und beschenkt hatte, so sah er ihm ins bleiche erstorbene Gesicht, und er konnte ihm einiges Schmerzengeld nicht versagen... Ach das ganze Schmerzengeld für dieses Leben wird erst in einem höheren ausgezahlt!... Als er ihn höflich ausgefragt und sich um seine hungrige Wanderschaft, um seine Zuchthaus-Kost, um sein Flüchten von Ländern in Länder und um seinen dünnen Zehrpfennig, den ihm die Meisterin abschlug, wenn der Meister aus war, erkundigt hatte: so schämte er sich vor dem Allgütigen seines Blumenfeldes von Entzückungen, welches er nicht mehr verdiene »wie der arme Teufel da«, und er begabte noch einmal nach – Und als er wieder ihn erwartete und sein funfzigjähriges Alter ohne Aussicht erfuhr, und ihn die Beklemmung überwältigte, die ihm allezeit alte, aber unentwickelte Menschen machten, graue Gesellen, alte Schreiber, alte Provisores, alte Famuli: so war er etwas entschuldigt, daß er wieder zurücklief und dem erstaunten Alten stumm die neuen Zeichen seiner überfließenden beglückenden Seele gab – – Und als er in der neuen Entfernung sein in Liebe zergangnes, gleichsam nur um seine Seele schwimmendes Herz immer mehr nach Wohltun dürsten und einen unbegreiflichen Hang zu neuem Geben und das Sehnen fühlte, irgendeinem Menschen heute alles, alles hinzulegen: so merkt' er erst, daß er jetzt zu weich sei und zu selig und zu trunken und zu schwach.

Sobald man im Dorfe die gewissen Nachrichten von diesem Durchgangzoll der Wohltätigkeit in Händen hatte: so legten sich nachmittags ungefähr 15 Kinder in verschiednen Posten an den Weg, besetzten die engen Pässe und stellten Schildwachen und enfants perdus aus, um Zollverkürzungen abzukehren...

Ein Mensch, der aus drei geraden Stunden sieben krumme konstruierte wie Viktor, hat oft Hunger, aber sicher größern als er; – er nahm bloß das Leibnizische Monaden-Mahl aus der Tasche, Zwieback und Wein, und speisete damit den an den Geist gehangnen ziehenden Magen ab, um die helle, mit Himmelblau und Himmelrot ausgewölbte See seines Innern durch keine hineingeworfne Fleischstücke dunkel und schmutzig zu machen. Überhaupt haßte er Fresser als Menschen von zu grobem Eigennutz, so wie alle lebendige Speckkammern, wo Fettlagen den Geist, wie Schneeklumpen eine Hütte, einquetschen. Die Seele, sagt' er, nimmt von den Inlagen des Körpers, wie der Wein vom Obst, das neben ihm im Keller ist, den Geruch an, und im mephitischen Dampfe, in welchem die Seelen der Flachsenfinger über den ihre Kartoffeln und Biere siedenden Braukesseln ihrer Magen zappeln, müssen wohl die armen Vögelchen besoffen und erstickt in dieses Tote Meer herunterfallen.

Er brach seinen Zwieback nicht in einem Hause, sondern im Knochengebäude, d. h. im Sparrwerk eines Hauses, das erst aus den Händen und Beilen der Zimmerleute vor das Dorf gekommen war. Indem er durch alle Abteilungen und Unterabteilungen dieses Baugerippes und auf einmal durch Stube, Küche, Stall und Boden sah: so dachte er: »Wieder ein Schauspielhaus für eine arme kleine Menschentruppe, die hier ihre Benefizkomödie, ihre Gays-Bettleroper abspielet, ohne daß eine Stimme aus der großen Loge schreiet: bis! Ach bis diese Balken der Winterrauch zu Ebenholz geräuchert hat, wird manche Augenhöhle rot gequälet werden; mancher Nordwestwind des Lebens wird durchs Fenster an zagende Herzen fahren, und in diese Winkel, die erst dunkel vermauert werden, wird mancher Rücken mit Quetschwunden vom Gewehrtragen des bürgerlichen Lebens treten, um den Schweiß abzutrocknen oder das Blut. – Aber die Freude« (dacht' er fort und sah an die Stelle des Ofens und des Tisches) »wird euch Insassen auch ein paar Nelkenbäume vors Fenster setzen und mit dem Brautwagen der drei heiligen Feste und der Kirmes und der Kindtaufe vor eurer Haustüre, die erst eingesetzt wird, vorfahren und abladen. – – Himmel, wie närrisch, daß ich mir hier im gegitterten alles das lieber denke, als in den ausgemauerten Häusern des Dorfes dort sehe

Unter dieser Tisch- und Baurede, wobei kein Trinkglas zerschlagen wurde, strich die weiße Brust der Schwalbe tief über den Fuhrweg, und ihr Schnabel lud den gelöschten Kalk zu ihrem Dachstübchen auf. Die Wespe hobelte sich aus dem Sparrwerk Papierspäne zu ihrer Zwiebel-Kugel. Die Spinne hatte ihr Spinnhaus schon ins große hineingeknüpft. Alle Wesen zimmerten und mauerten sich im unendlichen Meere ihre kleinen Inseln; aber der wühlende Mensch wendet sich nicht um und sieht nicht, daß ihm alles ähnlich ist.

Sebastian verließ sein hölzernes Gasthaus, sein Gerippe von einem frankfurtischen Roten Hause, trunkner und glücklicher, als er aus einem ausgemauerten hätte gehen können. In gewissen Menschen breitet sich eine dunkle Wehmut, ein desto größerer Seelen-Schatten aus, wenn die Schatten außer ihnen am kleinsten sind, ich meine um 1 Uhr nachmittags im Sommer. Wann nachmittags unter der brütenden Sonne Wiesen stärker duftend und mit gesenkten Blättern, Wälder sanfter brausend und ruhend dastehen, und die Vögel darin als stumme Figuranten sitzen: dann umfaßte im Eden, worüber schwül das Blütengewölke auflag, eine sehnsüchtige Beklommenheit sein Herz – dann wurd' er von seinen Phantasien unter den ewigblauen Himmel des Morgenlandes und unter die Weinpalmen Hindostans verweht – dann ruhte er in jenen stillen Ländern aus, wo er ohne stechende Bedürfnisse und ohne sengende Leidenschaften auseinanderfloß in die träumende Ruhe des Brahminen, und wo die Seele sich in ihrer Erhebung festhält und nicht mehr zittert mit der zitternden Erde, gleich den Fixsternen, deren Schimmer nicht zittert, auf Bergen angeschauet – dann war er zu glücklich für einen deutschen Kolonisten, zu dichterisch für einen Europäer, zu schwelgend für einen Nordpol-Nachbar... An jedem Sommermorgen besorgt' er, daß er am Sommernachmittag zu weichlich phantasieren werde.

Das Fasten – der Wein – der Himmel – die Erde hatten heute seine Herzkammern so freigebig mit dem Schlaftrunk der Wonne vollgegossen, daß sie, wenn nachgeschüttet wurde, überfließen mußten durch die Augen. Jene gossen nach; und hinter seinen verdunkelten Augen, in seinem überschatteten, mit dem Grün der Natur ausgeschlagnen Innern, das gleichsam abendrote Vorhänge dunkel machten, brach eine Farben-Nacht an, in welcher alle kleine Gestalten seiner Kindheit neblig aufstiegen – das erste Spielzeug des Lebens wurde ausgelegt – seine ersten Wonnemonate spielten wie kleine Engel auf einer Abendwolke, und sie konnten nicht in ihren Flügelkleidern um die große Wolke fliegen, und die Sonne versengte sie nicht. – –

Ach was er längst vergessen, längst verloren – längst geliebt hatte – Lieder ohne Sinn und Töne ohne Worte – namenlose Gespielen – beerdigte Wärterinnen – verstorbne Bedienten – diese alle wurden lebendig, aber vor ihnen voraus ging am größesten sein erster, sein teurester Lehrer Dahore in England und sagte zur zerschmolzenen Seele: »Wir waren sonst beisammen.« – O, dieser ewig geliebte Geist, der schon damals in unserem Viktor die Flügel sah, die sich nach der andern Welt aufrichten, der schon damals mehr der Freund als der Lehrmeister seines so weichen, so wogenden, so liebevollen, so ahnungvollen Herzens war, dieser unvergeßliche Geist wollte nicht weichen, seine Gestalt schlug den Leichenschleier zurück, fing an zu glänzen und an zu reden: »Horion, mein Horion, warst du nicht an meiner Hand, warst du nicht an meinem Herzen? Aber es ist lange, daß wir uns geliebt haben, und meine Stimme ist dir nicht mehr kenntlich, kaum noch mein Angesicht – ach die Zeiten der Liebe rollen nicht zurück, sondern ewig weiter hinab.« Er lehnte sich an einen Baum und trocknete unaufhörlich das Auge, das den Weg nicht mehr fand, und seine Blicke ruhten fest an den Wäldern, die nach St. Lüne gehen, und an den neblichten Bergen, die sich vor Maienthal und vor seinem zweiten Lehrer stellen...

– Kussewitz sprang vor.

Aber zu bald; seine bewegte Seele wollte noch nicht unter fremde Menschen. Es war ihm lieb, daß er an eine umgestürzte Rinne stieß, aus welcher Schafe Salz lecken, und an einen Zaun, der sie zu nachts behütet, und an die Hütte auf zwei Rädern, worin ihr Wärter schläft. Er hatte eine eigne Neugierde und Vorliebe für kleine Nachbilder der Häuser; er trat in oder an jede Köhlerhütte, in jede Jäger- und Vogelhütte, um sich mit seiner eignen Einschränkung und mit den Parodien unsers kleinen Lebens und mit dem Erdgeschoß der Armut zu betrüben und zu erfreuen. Er ging vor nichts Kleinem blind vorbei, worüber der Welt- und Geschäftmann verschmähend schreitet; so wie er wieder vor keinem Pomp des bürgerlichen Lebens stehen blieb. Er machte also ein Türchen am Fahr-Bette des Schäfers auf: es sah darin so armselig aus, und das Stroh, das Eiderdunen und Seidensäcke ersetzte, war so niedrig und zerknüllt, daß er sich unbeschreiblich hineinsehnte; er brauchte jetzt eine Täucherglocke, die ihn aus dem treibenden, drückenden, erhabnen Meere um ihn absonderte. Ich wollt', man könnt' es den europäischen Kabinetten, dem Reichstag und dem Prinzipalkommissarius verbergen, daß er sich wirklich hineinlegte. Hier aber ging die Anspannung seiner Sinne, in welche die Bett-Pforte nur einen kleinen Ausschnitt vom Himmelblau einließ, bald in die Erschlaffung des Schlummers zurück, und über das heiße Auge sank das Augenlid.


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