Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Vorsündflutliche Geschichte – Viktors Lebens-Prozeß-Ordnung
Beim Tor des ersten Kapitels fragen die Leser die Einpassierenden: »Wie heißen Sie? – Ihren Charakter? – Ihre Geschäfte?« –
Der Hund nimmt für alle das Wort. Vom H. Januar – d. h. Herrn Januar, nicht heiligen Januar, sondern der flachsenfingische Fürst hieß so – wurde in den jüngern Jahren die große Tour oder Reise um die schöne und die große Welt gemacht. Er teilte überall an Fremde Geschenke aus, die ihn ein einziges don gratuit seiner Untertanen kosteten, und unterstützte und bedauerte viele gedrückte Bauern in Frankreich, die es so schlimm hatten wie seine in Flachsenfingen. Für das wehrlose weibliche Geschlecht tat er, wie alle reisende Fürsten, fast noch mehr: man kann von der größern Zahl derselben sagen, daß sie, wie Titus oder wie ein östlicher Weltumsegler, zwar zuweilen einen Tag verlieren, aber selten eine Nacht, ohne glücklich zu machen und folglich zu – werden. Der Regent muß überhaupt die jetzige Entvölkerung Frankreichs vorausgesehen haben; denn er setzte sich ihr bei Zeiten entgegen und hinterließ in drei gallischen Seestädten drei Söhne, und auf den sogenannten sieben Inseln nur einen. Der erste hieß der Walliser, der zweite der Brasilier, der dritte der Asturier, der auf den sieben Inseln der Monsieur oder Mosje: wahrscheinlich sollten die Namen auf Prinzen von Wallis, von Brasilien und Asturien hinspielen. Er ließ die Kinder bloß in der Unwissenheit ihres Standes und in keiner schlimmern erziehen: man sollte sie zu künftigen Mitarbeitern seiner Regierung formen. Januar war zwar sinnlich und ein wenig schwach, aber – außer wo er fürchtete – äußerst menschenfreundlich.
Der Lord Horion war dem Fürsten Januar zweimal auf seiner Reise begegnet; das erstemal durchschnitt er die fürstliche Planetenbahn als Haarkomet, das zweitemal als sonnennaher Schwanzkomet. Ich will sagen: Horion sah gerade, als er eine Abkömmlingin aus Januars Hause liebte, die in London wohnte, den Fürsten zum zweitenmal und nahm ihn und den Hofstaat desselben in seinem Hause zu London auf. Über diese sehr weitläuftige Verwandte des Fürsten werfen meine Nachrichten – aus zu großer Rücksicht auf Staats- und Familienverhältnisse – einen unzeitigen Schleier. Sie war bei der Vermählung mit dem Lord 22 Jahre alt, und ihr ganzes Wesen war (wenn ich den kühnen Ausdruck eines Londner Lobredners derselben nehmen darf) nichts als ein einziges zartes stilles blaues Auge. Das ist alles, was man dem Publikum zuwendet. –
Der Fürst ließ sich gern vom Lord besiegen und beherrschen, den eine sonderbare Mischung von Kälte und Genie zum uneingeschränkten Monarchen und Kommandeur der Seelen machte. Der Lord hatte noch eine schöne Nichte im Hause, deren Reize in den fürstlichen Augen einen solchen geistigen Alten vom Berge, wie er, sowohl jünger als ebener machten. –
Aber die Totenglocke warf ihre Mißtöne in diese Wohllaute des Lebens. Die Geliebte des Lords flog aus der rauhen Erde und ließ ihr seinen ersten Sohn als Andenken und Herzpfand zurück; sie starb im 23sten Jahr gleichsam am Leben des Kindes, einige Tage nach dessen Geburt, und der zarte dünne Zweig brach unter der reifen Frucht zusammen. Lord Horion schwieg vor dem Geschick. Er hatte sie fürchterlich geliebt, ohne es zu zeigen; er betrauerte sie ebenso, ohne sein tiefes schwarzes Auge zu benetzen.
Der Fürst fand an der Nichte, d. h. an einer wahren Engländerin, darum Geschmack, weil er vorher einen ebenso großen an den Französinnen gefunden hatte; und aus diesem Grunde hätt' er umgekehrt diese geliebt, hätt' er vorher jene gekannt. Der nachherige Obrist-Kammerherr Le Baut hatte dieselbe Gesinnung, und was noch mehr ist, gegen dieselbe Person; und wie die indischen Hofleute alle Wunden ihres Herrn nachahmen, so machte Le Baut mit einem Amors-Pfeil die des seinigen nach und versetzte sich eine der stärksten damit.
– Diese Londoner Historien können nicht lange mehr dauern, und wir langen dann alle in unserm St. Lüne fröhlich wieder an. –
Ein hitziges Fieber befiel den Regenten, das sein Arzt Doktor Kuhlpepper bloß für Kreuz- und Querzüge einer unsteten Gichtmaterie hielt. Es war mir bisher noch nicht möglich, es auszumitteln, ob dieser Kuhlpepper mit seinem bekannten Namenvetter und medizinischen Mitmeister in London etwan näher verwandt ist. Das Fieber heizte Januarn so sehr ein, und der Beichtvater machte bei dessen Gewissen statt der Löschanstalten so viele Brennanstalten, daß er in der Todesnot einen förmlichen Schwur ableistete, bei keinem Mädchen mehr an Entvölkerung und Revolution zu gedenken. Dieselbe Schwäche, die seinen Aberglauben und Kinderglauben stärkte, diente seiner Sinnlichkeit; als er wieder auf war, wußt' er gar nicht, was er machen sollte. Die Nichte und seine Eidleistung waren in seinen Gehirnkammern Wandnachbarn. Ein geschickter Exjesuit aus Irland, der bloß für Gewissenszweifel lebte und selber conscientiam dubiam hatte, sprang dem Zweifler bei und macht' ihm faßlich: »sein Gelübde müss' er, zumal vor der Lossprechung davon, gewissenhaft halten, ausgenommen den sündlichen und unmöglichen Punkt, der darin sei, den nämlich, den er ohne Einwilligung seiner Gemahlin weder geloben dürfte, noch erfüllen könnte.« Mit andern Worten, der Jesuit verhielt ihm nicht, er habe im Fieber nur dem unverheirateten Geschlechte abgeschworen und sein Zölibat lediglich auf Nonnen eingeschränkt, mithin verbiet' ihm sein Gelübde zwar nicht den doppelten Ehebruch (den hebe der Beichtstuhl), aber äußerst streng den einfachen. Januar war zu fromm, um sich nicht des einfachen gänzlich zu enthalten.
Es ist schwer, die Verbindung zu untersuchen, in welcher seine jetzo größere Liebe gegen seine vier Groß- oder Kleinfürsten in Gallien mit seinem erfüllten Gelübde stand; kurz, er gab dem Lord das Geschäft und die Vollmacht, die vier Menschen aus Gallien abzuholen nach London, weil er seine geliebte anonyme kleine Nachwelt mit nach Deutschland nehmen wollte. Es war ungewiß, liebt' er in den Müttern die Kinder so herzlich – oder in den Kindern die Mütter. Der Lord ging gern wie Kotzebue (aber anders) nach dem Untergange der Geliebten nach Frankreich. Endlich kam, nicht von ihm, sondern von den Hofmeistern des Wallisers, des Brasiliers, des Asturiers, die trübe Nachricht, daß in einer Nacht, wahrscheinlich nach einem gemeinschaftlichen Plane verbundner Prinzenräuber, die drei Kinder entführt worden – nicht lange darauf wurde vom Lord diese Trauerpost nicht nur bestätigt, sondern auch mit der neuen vergrößert, daß der Monsieur oder Mosje auf den sieben Inseln nicht mehr – auf ihnen sei.
Das Schicksal gibt dem Menschen oft den Wundbalsam früher als die Wunde: Januar erhielt den fünften Sohn, den ich allezeit bloß den Infanten nennen will, noch eher als die Nachricht seines eingebüßten Kindersegens. Der Obrist-Kammerherr von Le Baut hatte sich mit der Mutter des Infanten (der Nichte des Lords) vermählt; aber er datierte seine Vermählung um drei Quatember zurück, anstatt sie um einen später anzusagen. Ich habe nie den Zusammenhang dieses Anachronismus (Zeitverrechnung) mit dem fürstlichen Gelübde einzusehen vermocht. Übrigens so gefährlich Jenner den Eheherren seines Hofes durch sein Votum wurde, und so unschädlich den Vätern: so war doch das tugendhafte Vertrauen, das die Eheherren auf die ihnen ankopulierte weibliche Tugend setzten, so unbegrenzt, daß sie ohne Anstand diese Tugend in sein entbundnes Feuer führten. Ja sie setzten sich sogar über den Verdacht hinweg, daß sie es etwan täten, damit sie, wenn er seine Krone auf den Putztisch ihrer Gemahlinnen ablegte, mit der blanken Mauer-Krone (corona muralis) wie mit einem Joujou spielen und mit ihrem Glanze Leuten in die Fenster blenden könnten: denn lieber will ein Hofmann seine Gemahlin bewähren als bewahren.
– Es wird gleich angehen, rufen Puppenspieler; es wird gleich auswerden, ruf' ich. –
Als endlich der Lord mit leeren Händen ankam, war er sehr betroffen – nicht von der Gegenwart des Infanten, sondern – von der Adoption desselben, nämlich von der Vermählung Le Bauts. Aber dieser Obrist-Kammerherr war – und das bedachte niemand weniger als Horion – ein feuriger Freund des Fürsten: das machte ihn fähig, für diesen (wie Cicero verlangt) sogar das zu begehen, was er nie für sich begangen hätte – etwas wider die Ehre. Es ist überhaupt für einen Hof- und Weltmann, dessen Ehre der hohe Posten oft der schlimmsten Witterung bloßstellt, ein ungemeines Glück, daß diese Ehre, sei sie auch noch so empfindlich bei kleinen StößenIhre Ehre leidet z. B. dabei, wenn ihr Wagen einem andern Wagen von Stande nicht vorfährt. , doch große leicht verwindet, und wenn nicht mit Worten, doch mit Taten ohne Nachteil anzutasten ist: etwas Ähnliches bemerken die Ärzte an Rasenden, oder vielmehr an deren Haut, die zwar die leiseste Betastung verspürt, auf welcher aber dennoch keine Blasenpflaster ziehen. – Der Fürst wurde durch einen dreifachen Bast an Le Baut geknüpft, durch Dankbarkeit, durch Sohn und Frau: der Lord zausete den Bast auseinander. Er entblößete nämlich vor seiner Nichte das kammerherrliche Herz und deckte ihr den Giftsack darin auf und einen dramatisch durchgeführten Plan, den sie bisher für Nachsicht angesehen hatte. Alles Edle und Stolze entbrannte in ihr vor Scham und Zorn; und sie floh vor den erdrückenden Erinnerungen mit ihrem Kinde und mit der Aussicht eines zweiten aus der Stadt auf ein Landgut des Lords.
Nun ging der Fürst mit dem Lord und seinem Hofstaat (sogar mit dem Doktor Kuhlpepper) nach Deutschland zurück. Le Baut verweilte noch einige Zeit, um die Nichte zu beruhigen und zu bereden zur Reise. Aber es war ihr nicht nur unmöglich, alle ihre senkrecht laufenden Wurzeln aus dem Lande der Freiheit zu ziehen und nach Deutschland mitzugehen, sie trennte sich auch – nicht bloß durch Meere, sondern – durch einen Scheidebrief vom schmutzigen Günstling ab. Sie mußte dem Kammerherrn ihr zweites Kind, seine wahre Tochter, lassen; aber das erste, den Infanten, befestigte sie an ihrer Mutterbrust. Le Baut litt es auch gern und dachte, nach der Baurede gehört das Baugerüst ohnehin in den Ofen des Hauses.
Aber als er unter dem deutschen Thronhimmel erschien, stand seine Sonne (Januar) in der Sommer-Sonnenwende, die von abnehmender Wärme allmählich zu kalten Stürmen überging. Januars Liebe konnte leichter steigen und fallen als stehen, und das größte Verbrechen war bei ihm – Abwesenheit. Le Baut mußte jetzt ohne Frau und Kind schon darum gegen den Lord verlieren, weil dieser als Schatzmeister und Küstenbewahrer zweier in London gelassener Schätze unter Jenners Thronhimmel auftrat. Aber es gab tiefere Gründe. Der Lord regierte den Regenten leicht, weil er ihn weder an eignen noch fremden Lastern zügelte, sondern an eignen Tugenden. Erstlich begehrte er nichts von ihm, nicht einmal Diät und Keuschheit. Zweitens hob er keine Vettern in den Sattel, sondern schlimme daraus; er trug ihn wie einen Habicht auf der beschuhten Faust, aber der Falkenierer tats nicht, um den Fürsten auf Tauben und Hasen zu werfen, sondern um ihn immer wach und zahm zugleich zu machen. Drittens machten seine Festigkeit und seine Feinheit einander wechselseitig gut; über Veränderliche regieret am besten der Unveränderliche. Viertens war er nicht der Günstling, sondern der Gesellschafter, blieb immer ein Brite und ein Lord und des Landes wohltätiger Bienenvater, indes Januar der Weisel und im Weiselgefängnis war. Fünftens gehörte er unter die wenigen Menschen, denen man gleich sein muß, um ihnen ungehorsam zu sein; und einer, der das Taschenspielerkunststück machen wollte, ihm ein Schloß unversehens an den Mund zu werfen, hatte leicht eines an Bein- und Handschellen der Seele. Sechstens hatt' er einen guten Käse. Das letzte braucht nicht weitläuftig erklärt zu werden; in Chester hatt' er einen Pachter, der einen Käse lieferte, dergleichen es weiter keinen in Europa gibt; Fürsten aber ist im ganzen ein außerordentlicher Käse lieber als eine außerordentliche Dankadresse des Landschaftsyndikus. –