Jean Paul
Hesperus oder 45 Hundposttage
Jean Paul

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

44. Hundposttag

Die Bruderliebe – die Freundliebe – die Mutterliebe – die Liebe – –

Der Hund ist da, aber der Lord nicht – der Lärm ist klein, aber die Freude nicht – alles ist vorbereitet, aber doch unerwartet – das Laster behauptet das Schlachtfeld, aber die Tugend die elysischen Felder. – Kurz es ist recht närrisch, aber recht hübsch. –

Ich denke, das ist das letzte Kapitel dieses Buchs. Ich schaue ordentlich den Posthund – meinen pommerischen BotenAuf der Universität Paris dauert noch der Bote von Pommern fort, der jährlich nach Pommern etc. abging, um von den Eltern Briefe für die Pariser Studenten abzuholen. – der Schwanz ist sein Botenspieß – mit Rührung an, und mich ärgerts, daß er mit Adam gefallen und einen Knochen unter dem verbotenen Baum gefressen hat: denn im Paradies leuchteten die ersten Hundeltern wie Diamanten, und man konnte durch sie sehen, wie Böhme behauptet. – Eben darum, da der Berghauptmann bald ausgeschrieben hat, verzeih' mans ihm, daß er in diesem Kapitel der Liebe feuriger und angenehmer ist als je und überhaupt jetzo schreibt, als wär' er besessen.

Anfangs ziehen den Himmelwagen noch Trauerpferde.... Sehr früh den 21. Oktober 1793 wars, wo der Hofjunker ins Stockhaus Flamins lief aus dem eigenen und diesem darin büßenden Bruder alles verkündigte, seine Entlassung – seine Verschwisterung mit Klotilden – seine Einkindschaft ins fürstliche Haus – seine aufsteigende Laufbahn und zugleich die Amnestie des mörderischen Boten, die eigne nämlich. O wie glühte die Freude über Matthieus Lossprechung und Vorsprache und über die eigne Standerhöhung seine stockenden Adern an. Denn Flamin bestieg den höhern Stand als eine Anhöhe, um seine Wohltaten und Entwürfe weiter zu werfen; Viktor hingegen war über seinen Standes-Bankerutt froh gewesen, weil er Stille begehrte, wie jener Getöse. Viktor wollte mehr sich, jener mehr andere umbessern. Flamin stieß lebendiges Schiffvolk über den Bord ins Meer und nagelte den Staats-Bucentauro mit Rudersklaven voll, um ihn schneller gegen Winde anzutreiben. Viktor aber erlaubte sich nur eine Leiche zur Erleichterung des Kaperschiffs zu machen – seine eigne. Er sagte zu sich: »Wenn ich nur den Mut allezeit heilig aufbewahre, mich selber aufzuopfern: dann brauch' ich keinen größern; denn der größere opfert doch gestohlne Güter. – Das Schicksal kann Jahrhunderte und Inseln opfern, um Jahrtausende und Weltteile zu beglückenUnd auch da nur in Beziehung auf Unsterblichkeit und Wiederersatz. Wir fühlen keine Ungerechtigkeit, wenn ein Wesen ein Plantagenneger, ein anderes ein Sonnenengel wird; aber ihre Schöpfung beginnt ihre Rechte, und der Ewige kann ohne Ungerechtigkeit nicht einmal mit den Schmerzen des winzigsten Wesens die Freuden aller bessern kaufen, wenn es nicht jenem wieder vergütet wird. ; der Mensch aber nichts als sich.«

Jubelnd lief Flamin mit seinem Erlöser nach St. Lüne, um die treue Schwester in der untreuen Geliebten dankend und abbittend zu umfassen – ach als die hohe Warte in seine Augen aufstieg: so zog sich blutig und schmerzhaft wie ein Augenfell die Decke von ihnen herab, die bisher die Unschuld seines besten Freundes, Viktors, verfinstert hatte. »Ach wie wird er mich hassen! O hätt' ich ihm mehr getrauet!« seufzete er, und nichts freuete ihn mehr; denn den Schmerz eines guten Menschen, der ungerecht gewesen, auch in der Meinung der vollesten Gerechtigkeit, kann nichts trösten, nichts als viele, viele Aufopferungen. Er schlich sich seufzend nicht zur neuen Mutter, sondern sank den treuen Drillingen sanft an das unbeleidigte Herz. Die redlichen Seelen bewillkommten alle den Evangelisten als einen helfenden Freund; und diese bunte Spinne kroch mit ihren unreinen Spinnwarzen auf allen diesen edeln Gewächsen einer offenen Liebe herum; die Spinne hörte alles, sogar die Abrede, daß die Engländer den Befehl, nach der Insel abzugehen, nach dem Buchstaben nehmen und sich in die englische Insel des Lords so lange einsperren wollten, bis Flamin und die Lady mit ihnen allen in ihre größere Insel – ins Werkhaus der Freiheit – in den klassischen Boden aufgerichteter Menschen abzuschiffen imstande wären.

Denselben Morgen zog der Kaplan in seinen Steinbruch und legte sich da vor Anker, weil er vom Neuesten noch nichts wußte. Draußen versaß er die Angst, und nachts zog er wieder ein. Er ging da mit niemand um als mit seinem Körper – wie manche sich mit ihrer Seele, so unterhalten sich andere mit ihrem Körper – und sah von Zeit zu Zeit nicht die Natur, sondern sein Wasser an, um daraus – da dessen Farbenlosigkeit nach der Physiologie Kummer bedeutet – die Kenntnis zu schöpfen, ob er sich sehr abhärme oder nicht; wiewohl kein Protomedikus für ihn stehen wird, daß er nicht urinam chyli oder sanguinis für urinam potus wird angesehen haben. Da die Ärzte behaupten, daß Seufzer nützen, den Puls schneller und die Lungenflügel leichter machen – ein Regent kann also ganzen Ländern auf einmal nützen, wenn er sie zu seufzen nötigt –: so schrieb sich Eymann eine bestimmte Anzahl Seufzer vor, die er zum Besten seiner Lunge täglich zu holen hatte.

Denselben Morgen ging die Lady zur Pfarrerin, um ihr zu sagen, daß Flamin ein Unschuldiger, aber ihr Sohn nicht sei; und Klotilde ging mit ihr, um die Hände der zwei Töchter zu nehmen und ihnen zu sagen: ihr habt einen andern Bruder. Denn Viktor hatte seine Abkunft noch verhehlt. »O Gott!« (sagte die verarmende Pfarrerin und schloß Flamins Mutter und Schwester an die schmachtende Mutterbrust, die mit heißen Seufzerzügen einen Sohn begehrte) – »wo ist denn mein Kind? – Führen Sie meinen wahren Sohn mir zu! – Ach ich ahnete es wohl, daß mich das Duell doch ein Kind kosten würde! Er findet alles wieder, aber ich büße alles ein. – O Sie sind eine Mutter, und ich bin eine Mutter, helfen Sie mir!« – Klotilde schauete sie mit dem weinenden Wunsche des Trostes an; aber die Lady sagte: »Ihr Sohn lebt und ist auch glücklich, aber mehr kann ich nicht sagen.«

Und denselben Morgen war dieser Sohn, unser Viktor, nicht glücklich. Ihm war, bei dem Gerüchte von Flamins Loskettung und von Matthieus Dienstfertigkeit, als wenn er das Zischen und den Kugelpfiff des herabschießenden Stoßvogels vernähme, der bisher unverrückt gleichsam mit angenageltem Fittich hoch im Blauen über dem Raub geruhet hatte. – Verarget es dem Doktor nicht gar zu sehr, daß ihn die verlorne Gelegenheit kränkte, seinen Freund aus dem engen Gefängnis und sich aus dem weiten des Lebens loszumachen. Denn er hat zu viel verloren und ist zu einsam; die Menschen kommen ihm wie die Leute in dem polnischen Steinsalzbergwerk vor, die herumtappen mit einem an dem Kopf gebundnen Licht, das sie ein Ich nennen, vom genußlosen Blinken des Salzes umzingelt, weiß gekleidet und mit roten Binden, als wären es Aderlaßbinden. – Die Sprache seiner Bekannten ist, wie die der Sineser, einsilbig. – Er muß dem beschämenden Tag entgegenleben, wo Jenner und die Stadt die Niedrigkeit seines Standes ihm zum Betrug anrechnen. – Vor jedem Auge steht er in einem andern Lichte oder Schatten vielmehr: Matthieu hält ihn für grob, Jenner für intrigant, die Weiber für tändelnd, so wie Emanuel für fromm und Klotilde für zu warm –, denn jeder vernimmt an einem vollstimmig besetzten Menschen nur sein Echo. Welches Herz konnt' ihn nun noch bewegen – seines ohnehin nicht –, das Ruder im Sklavenschiff des Lebens länger zu halten? O eines konnt' es, ein mächtiges warmes, das mütterliche: »Stürze dich nur aus der Erde,« – sagte sein Gewissen – »dann stirbt dir deine Mutter voll Liebe nach und tritt in der zweiten Welt vor dich mit so vielen Tränen, mit allen heißen Wunden und sagt: Sohn, dieser Schmerz ist dein Werk!« – Er gehorchte und sah ein, wenn es edel ist, für eine Geliebte zu sterben, so sei es noch edler, für eine Mutter zu leben.

Daher beschloß er, noch heute abends – abends, damit die Nacht sich vor einige verwitternde Ruinen der bessern Zeit, vor einige vorüberziehende Nachtleichen der Erinnerung stellte – nach St. Lüne zu gehen, seine Mutter zu rufen und ihr müdes sieches Herz wenigstens mit einer Freudenblume zu stärken und ihr – da ihn kein Eid mehr band – zu sagen: du gibst mir jetzt zum zweitenmal das Leben. Wie wohl wurd' ihm! – Ein einziger guter Vorsatz bettet und lüftet das scharfe Siechbette eines zerrissenen Lebens.

Aber am Abende, ihr guten Bedrängten, am Abende – nicht des Lebens, sondern – des 21. Oktobers wird euch leichter und frischer werden, und die Kugel eurer Fortuna wird sich aus der Wetterseite in die Sonnenseite drehen!

Abends kam Viktor in St. Lüne an und hüllte sich in die Laube des Pfarrgartens ein, wo er Klotilden die ersten Tränen der Liebe gegeben. – Das Pfarrhaus, das Schloß, die Warte, die zwei Gärten lagen wie verfallne Ritterschlösser um ihn, aus denen alle Freuden und Bewohner längst gezogen sind! – Alles so herbststill, so stehend um ihn – die Bienen saßen stumm auf dem Flugbrett neben hingerichteten Drohnen – sogar der Mond und ein Wölkchen standen fest nebeneinander – die Wachsmumie war mit dem starren Gesicht gegen das stille Zimmer umgewandt! – Endlich kam die Pfarrerin durch den Garten, um ins Schloß zu gehen. Er wußte, wie sehr sie ihn wieder lieben mußte, da seine Treue gegen den eifersüchtigen Flamin jetzt ans Licht gekommen war. O sie sah so müde und kränklich aus, so rotgeweint und verblutet und veraltet! Ihn dauerte es, daß er erst ein gleichgültiges Wort sagen mußte, um sie in die Laube zu rufen. Als sie hineintrat: erhob er sich und bückte sich tief und legte sich auslöschend an die teure Brust, hinter der eine Welt voll Seufzer und ein Herz voll Liebe war, und sagte: »O Mutter, ich bin dein Sohn – nimm mich auf, dein Sohn hat nichts, er liebt nichts mehr auf der ganzen weiten Erde, nichts mehr als dich – O liebe Mutter, ich habe viel verloren, bis ich dich fand. – Warum siehst du mich so an? – Wenn du mich verschmähest: so gib mir deinen Segen und laß mich entfliehen... O! ich wollte ohnehin nur deinetwegen leben bleiben.« – Sie schauete ihn, zurückgebogen, mit einem nassen Blick voll unaussprechlicher Zärtlichkeit und Trauer an und sagte: »Ists denn wahr? O Gott! wenn Sie mein Sohn wären! – Ach, gutes Kind! – ich habe dich längst geliebt wie eine Mutter. – Aber täusche mich nicht, mein Herz ist so wund!« – Der Sohn schwur.... und hier sinke der Vorhang langsam an der mütterlichen Umarmung herab, und wenn er Sohn und Mutter ganz bedeckt: so schaue ein gutes Kind in seine eigne Seele zurück und sage: hier wohnet alles, was du nicht beschreiben kannst!

Jetzt abends schlich der Kaplan vom Felde heim und durch den Garten hindurch und rief seinem neuen Sohne entgegen: »Ach! Herr Hofmedikus, ich schwinde lästerlich ein. Ich sehe ja offenbar aus wie ein Ecce homo und Fieberhafter. Es wird mir zugesetzt – ich soll eine persona miserabilis, einen souffre douleurs, einen Patropassianer abgeben.« – Da Viktor ihm berichtet hatte: »es sei alles vorüber, der Regierrat sei los und unschuldig«: so blickte Eymann fest auf die Warte und sagte: »Wahrlich droben sitzt der Rat und guckt 'rüber« und wollte hinauf zu ihm; aber Viktor hielt ihn sanft und sagte zärtlich: »Ich bin Ihr Sohn« und offenbarte ihm alles. – »Wie? – Sie? – Du? – Der Sohn eines so vornehmen Lords wäre mein Sohn? – Meinen Herrn Gevatter hätt' ich gezeugt? – Das ist unerhört, ein Bruder der Pate des andern – zwei Sebastiane hab' ich auf einmal im Hause.« – Er wurde die Pfarrerin ansichtig und fing einen Hader an – welches allemal ein Zeichen seiner Freude war. – »So, Frau? Das weißt du heute den ganzen Tag, und mich lässest du draußen im Steinbruch im Notstall sitzen, mitten im Harm, und ich läute bis nachts an der Armensünderglocke? Hättest du nicht den Kalkanten hinauslassen können zum Notifizieren? Das war recht schlecht – die Frau steckt zu Hause und trinkt Bitterwasser, in das ihr ganze Zuckerfässer und Konfektteller hineingeworfen sind – und der Mann hält sich in Steinbrüchen auf und säuft seine bittern Extrakte aus einem Brechbecher fort.« – Sie antwortete nie darauf.


 << zurück weiter >>