Jean Paul
Hesperus oder 45 Hundposttage
Jean Paul

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Alles wurde stumm und ausgelöscht; er war allein neben der Nacht. Endlich ging er nach der langen Stille herab und nach Flachsenfingen zu, matt geweint und arm geworden. Und als er unterweges schnell zum schwarzblauen Himmel, in welchem irrende Wolken um den Mond wie Schlacken umhergeworfen waren, hinaufblickte und schnell wieder über die halb vernichtete Schattengegend, über die Schattenberge und Schattendörfer: so kam ihm alles tot, leer und eitel vor, und es schien ihm, als wär' in irgendeiner hellern Welt eine Zauberlaterne – und durch die Laterne rückten Gläser, worauf Erden und Frühlinge und Menschengruppen gefärbet wären – und die herabgeflossenen hüpfenden Schattenbilder dieser Gläser nennten wir Uns und eine Erde und ein Leben – und allem Bunten liefe ein großer Schatten hintennach. – –

Ach, ich rege vielleicht in mancher Brust längst vergessene Beklemmungen wieder auf, aber es tut uns wohl – da die Leiden so viel Platz in unserer Erinnerung einnehmen –, daß dieses herbe Lagerobst milde wird durch Liegen, und daß ein geringer Unterschied ist zwischen einem vergangnen Schmerz und einer jetzigen Lust.

Der arme Viktor kam nach Mitternacht mit einem bleichen Angesicht und mit brennenden Augen im Hause des Apothekers an. Er begehrte nichts, um seine gebrochne Stimme nicht zu verraten. Als er seinen Alltagsüberrock im Mondschimmer hängen sah, und als er sich wie eine fremde Person vorstellte, der der Rock gehörte und die ihn am Morgen so freudig auszog und jetzo so trostlos anlegte: so ergriff ein Mitleiden, das er mit sich selber hatte, wieder mit zu starkem Druck sein erschöpftes Herz. Marie kam, und er wendete nicht einmal die Zeichen dieses Mitleids von ihr weg. Sie stand betroffen – er sagte ihr mit der sanftesten, aus Seufzern gewebten Stimme, er brauche nichts – und die gute Seele ging ohne Mut zum Trösten und zu Tränen langsam hinaus, aber die ganze Nacht vergoß sie unsichtbare über die fremden und über einen Kummer, der ihr nicht gesagt war.

Warum öffnete gerade heute das Schicksal alle Adern seines Herzens? Warum ließ es gerade auf diesen Tag die Silberhochzeit des Stadtseniors und die erste Hochzeit seiner Tochter mit dem Waisenhausprediger treffen? Warum, wenn doch beide Hochzeitfeste auf diesen Tag zusammenfallen sollten, mußten sie bis nach Mitternacht fortwähren, wo sie den armen Viktor in alle Brandstätten seiner Hoffnungen schauen ließen, wo er in einer lichtervollen Stube aus seiner dunkeln die Liebe sah, welche Hände verknüpfte, Lippen zusammendrückte und Augen und Seelen vermischte? – Zu einer andern Zeit würd' er über den Waisenhausprediger und über zwei Armenkatecheten gelächelt haben; aber heute konnt' er nur darüber seufzen, und es ist eine sanfte Schönheitlinie an seinem innern Menschen, daß er den armen Menschen das vergönnte, was er entbehrte: »Ach ihr seid glücklich«, sagte er – »o liebt euch recht, presset die klopfenden vergänglichen Herzen heiß aneinander, eh' sie der Flügel der Zeit zerschlägt, und glühet aneinander in der kurzen Minute des Lebens und wechselt eure Tränen und Küsse, eh' die Augen und Lippen im Grabe erfrieren – ihr seid glücklicher als ich, der ich das Herz voll Liebe niemand geben kann als den Würmern des Grabes, und auf dessen Sarg ein Tischler die Überschrift, die wie ich mit Erde bedeckt wird, färben soll: ihr guten Menschen, ihr habt mich nicht geliebt, und ich war euch doch so gut!« –

Jedes glückliche Lächeln, jeder flötende Violinenzug, jeder Gedanke wurde jetzt seinem von Tränen umgebenen weichen Herzen zur harten spitzen Ecke, so wie einer Hand, die sich in Wasser untertaucht, alles hart anzufühlen wird.

Seine grenzenlose Aufrichtigkeit, seine grenzenlose Erweichung konnt' er mit nichts befriedigen, als mit einem Briefe an seinen Emanuel, in welchen er seine ganze Seele überströmen ließ.

»O teurer Geliebter!

Sollt' ich denn dirs verbergen, wenn mich Schmerzen übermannen oder Torheiten? Sollt' ich dir nur meine bereueten Fehler zeigen und nie meine gegenwärtigen? – Nein, tritt her, Teurer, an meine wunde Brust, ich öffne dir das Herz darin, es blute und poche unter der Entblößung, wie es will – du deckest es doch vielleicht mit deiner väterlichen Liebe wieder zu und sagst: ich lieb' es noch. –

Du, mein Emanuel, ruhest in deiner hohen Einsamkeit, auf dem Ararat der erretteten Seele, auf dem Tabor der glänzenden: da blickest du sanft geblendet in die Sonne der Gottheit und siehest ruhig die Wolke des Todes auf die Sonne zuschwimmen – sie verhüllt sie, du erblindest unter der Wolke, sie verrinnt, und du stehst wieder vor Gott. – Du liebst Menschen als Kinder, die nicht beleidigen können – du liebst Erdengenüsse wie Früchte, die man zur Kühlung pflückt, aber ohne nach ihnen zu hungern – die Gewitter und Erdbeben des Lebens gehen vor dir ungehört vorüber, weil du in einem Lebens-Traum voll Töne, voll Gesänge, voll Auen liegst, und wenn dich der Tod aufweckt, lächelst du noch über den heitern Traum.

Aber ach, mehr als ein Gewitter donnert hinein in den Lebenstraum von uns andern und macht ihn ängstlich. Wenn ein höheres Wesen in den Wirrwarr von Ideen treten könnte, der unsern Geist umgibt, und aus dem er seinen Atem holen muß, wie wir in einer aus allen Luftarten zusammengegossenen Luftart atmen – wenn es sähe, welche Nährmittel durch unsern innern Menschen gehen, denen er seinen Milchsaft abgewinnen muß, dieses Gemenge von komischen Opern – Bayles Wörterbüchern – Konzerten von Mozart – Messiaden – Kriegsoperationen – Goethes Gedichten – Kants Schriften – Tischreden – Mond-Anschauungen – Lastern und Tugenden – Menschen und Krankheiten und Wissenschaften aller Art – – wenn das Wesen diese Lebens-Olla-Potrida untersuchte: würd' es nicht begierig sein, zu wissen, welche widersinnige Säfte dadurch in der armen Seele zusammen gerinnen, und würd' es sich nicht wundern, daß noch etwas Festes und Gleichförmiges im Menschen bleibt? – Ach wenn dein Freund, Emanuel! bald in einem feinen Speisesaal, bald in einem Garten, bald in einer Loge, bald vor dem großen Nachthimmel, bald vor einer Kokette, bald vor dir ist: so macht ihm dieser zweideutige Wechsel der Auftritte Schmerzen und vielleicht Flecken...

Nein, ich will meinen Emanuel nicht belügen – – O sind denn die Kleinigkeiten und die Steinchen dieses Lebens wert, daß wir darum krumme Gänge wählen, wie die Minierraupe durch die Ästchen ihres Blattes sich zu Krümmungen zwingen läßt? – Nein, alles, was ich gesagt habe, ist wahr; aber ich hätt' es nicht gesagt, wenn nicht andre Schmerzen mich auch auf jene führten; und doch hättest du es mir, du unschuldig-kindlich-erhaben-trauender Lehrer, geglaubt. Ach, du hältst mich für zu gut... o es ist ein weiter ermüdender Schritt von der Bewunderung zur Nachahmung! – Jetzt aber blick in mein geöffnetes Herz!

Seitdem ich hier im Totenhaus meiner kindlichen Freuden, in den Beeten, wo meine Kindheitjahre geblühet und abgeblühet haben, vielleicht mit zu vielen Träumen der Vergangenheit umhergehe; – und noch mehr: von dem Tage an, wo du meinem Herzen den Reiz zum Fieber-Schlage auf mein ganzes Leben gegeben, seitdem du mir das Leben aufgedeckt, worin sich der Mensch zerblättert, und den dünnen spitzigen Augenblick, auf dem er so schmerzhaft steht, seit jener Abschied-Nacht, wo meine Seele groß und meine Tränen unerschöpflich waren, rinnt eine ewige Wunde in mir, und der Seufzer einer Sehnsucht, die nichts zu nennen weiß als Träume und Tränen und Liebe, liegt wie eine stockende Ader beklemmend und verzehrend in meiner Brust – – Ach, ich lache noch wie sonst, ich philosophiere noch wie sonst, aber mein Inneres sieht nur der Geliebte, dem ichs jetzt entblöße.

O Schicksal, warum schlugst du in den Menschen den Funken einer Liebe, die in seinem eignen Herzblut ersticken muß? Ruht nicht in uns allen das holde Bild einer Geliebten, eines Geliebten, wovor wir weinen, wornach wir suchen, worauf wir hoffen, ach und so vergeblich, so vergeblich? – Steht nicht der Mensch vor der Brust eines Menschen wie die Turteltaube vor dem Spiegel und girret wie diese sich heiser vor einem toten flachen Bilde darin, das er für die Schwester seiner klagenden Seele hält? – Warum frägt uns denn jeder schöne Frühlingabend, jedes schmelzende Lied, jede überströmende Freude: wo hast du die geliebte Seele, der du deine Wonne sagst und gibst? Warum gibt die Musik dem bestürmten Herzen statt der Ruhe nur größere Wellen, wie das Geläute der Glocken die Ungewitter, anstatt zu entfernen, herunterzieht? Und warum ruft es draußen an einem schönen stillen hellen Tage, wenn du über das ganze aufgeschlagne Gemälde einer Landschaft siehest, über die Blumen-Meere, die auf ihr zittern, über die herabgeworfnen Wolkenschatten, die von einem Hügel zum andern fliehen, und über die Berge, die sich wie Ufer und Mauern um unsern Blumenzirkel ziehen, warum ruft es da denn unaufhörlich in dir: ›Ach, hinter den rauchenden Bergen, hinter den aufliegenden Wolken, da wohnt ein schöneres Land, da wohnt die Seele, die du suchst, da liegt der Himmel näher an der Erde‹? – Aber hinter dem Gebirge und hinter dem Gewölke stöhnt auch ein verkanntes Herz und schauet an deinen Horizont herüber und denkt: ›Ach, in jener Ferne wär' ich wohl glücklicher!‹

Sind wir denn alle nicht glücklich – – Bejah' es nicht und sage nicht zu mir, Emanuel, daß im Winter dieses Lebens gerade die wenigen warmen Sonnenblicke, die ihn unterbrechen, den bessern Menschen wie Gewächse zersprengen und zugrunde richten – sage nicht, daß jedes Jahr etwas von unserm Herzen wegstoße, und daß es wie das Eis immer kleiner werde, je weiter es schwimme im Strome der Zeit – sage nur nicht, daß die irrende Psyche, wenn sie auch ihr zweites Selbst in ihrem Gefängnis höre, doch nie in seine Arme kommen könne – – Aber du hasts schon einmal gesagt:

›In zwei Körpern stehen wie auf zwei Hügeln getrennt alle liebende Seelen der Erde, eine Wüste liegt zwischen ihnen wie zwischen Sonnensystemen, sie sehen einander herübersprechen durch ferne Zeichen, sie hören endlich die Stimmen über die Hügel herüber – aber sie berühren sich nie, und jede umschlingt nur ihren Gedanken. – Und doch zerstäubt diese arme Liebe wie ein alter Leichnam, wenn sie gezeigt wird; und ihre Flamme zerflattert wie eine Begräbnislampe, wenn sie aufgeschlossen wird.‹

Sind wir denn alle nicht glücklich? –

Bejah' es nicht! – Ach der Mensch, der schon von der Kindheit an nach einer unbekannten Seele rief, die mit seiner eignen in einem Herzen aufwuchs – die in alle Träume seiner Jahre kam und darin von weitem schimmerte und nach dem Erwachen seine Tränen erregte – die im Frühling ihm Nachtigallen schickte, damit er an sie denke und sich nach ihr sehne – die in jeder weichen Stunde seine Seele besuchte mit so viel Tugend, mit so viel Liebe, daß er so gern all' sein Blut in seinem Herzen wie in einer Opferschale der Geliebten hingegeben hätte – die aber ach nirgends erschien, nur ihr Bild in jeder schönen Gestalt zusandte, aber ihr Herz ewig entrückte – – o endlich, o plötzlich, o selig schlägt ihr Herz an seinem Herzen, und die zwei Seelen umfassen sich auf immer – – er kann es nicht mehr sagen, aber wir könnens: dieser ist doch glücklich und geliebt....

Guter Emanuel, du vergibst mir den Schmerz der Furcht, daß ich es wohl nie sein werde – Nein, nie! – O ich wäre auch für diese von Gräbern zerstückte Erde vielleicht gar zu glücklich, ich dürfte für ein so junges, mit so kleinen Verdiensten gerechtfertigtes Leben vielleicht ein zu großes Eden bewohnen, wenn meine zu weiche Seele, die schon unter drei frohen Minuten einsinkt, die jeden Menschen liebt und sich mit Kinderarmen ans Herz der ganzen Schöpfung hängt, o die schon durch diesen bloßen Traum der Liebe zu selig wird und überwältigt durch diese Beschreibung – – nein, sie wäre zu selig, eine solche von Wehmut und Menschenliebe längst zerschmolzene Seele, wenn sie einmal nach einem so langen tödlichen Sehnen endlich, endlich – o Emanuel, ich bebe wieder vor Freude, und es ist doch niemals, niemals möglich! – alle ihre Wünsche, ihren ganzen Himmel, so viele Liebe in einer teuern, teuern Seele gesammelt fände, wenn ich vor der großen Natur und vor dem Angesicht der Tugend und vor Gott selber, der mir und ihr die Liebe gab, zur Einzigen, zur Frommen, zur Geliebten – o Gott, wie heißt ihr Name – zur Vorausgeliebten, die ich jetzt im Wahnsinn nennen wollte, weinend sagen dürfte: endlich hat dich mein Herz, du Gute, Gott gibt uns heute einander, und wir bleiben beisammen auf die ganze Ewigkeit. Nein, ich würd' es nicht sagen, sondern vor Wonne verstummen und sterben.

– Siehe! mir war jetzt, als ging' eine Gestalt über meine Stube und riefe: Viktor! Ich sah mich um und erblickte meine leere Stube und die abgelegten Sonntagkleider, und jetzt erinnerte ich mich erst, daß ich unglücklich bin und nicht geliebt.

Du aber, unersetzlicher Freund, mißkenne mich nicht; ich schwöre dir, daß ich dir diese Blätter ungeändert gebe, wenn ich auch morgen, wo die Wirbel der heutigen Nacht stiller fließen, alle Änderungen nötig fände. Dein törichter Freund bleibt doch dein ewiger Freund.

S. V. H.«


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