Jean Paul
Hesperus oder 45 Hundposttage
Jean Paul

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5. Hundposttag

Der dritte Mai – der auf der Musik sitzende Abbate – die Nachtigall

Ich muß überhaupt voraus bemerken, daß ich sehr dumm wäre, wenn ich die Menge von Unwahrscheinlichkeiten in dieser Historie nicht merkte; aber ich merke sie sämtlich gut; ja ich habe solche – z. B. die in Klotildens Betragen, oder die des medizinischen Doktorats des Helden – noch eher als der Leser selber wahrgenommen, weil ich alles eher – gelesen habe. Ich schob es daher nicht länger auf, sondern ging mit der heutigen Hofmanns-Post meinen Korrespondenten an, mir das nächstemal durch den Hund in seiner Porträtbüchse zu schreiben, woran wir alle wären. – Ich schriebs ihm geradezu, er wüßte den Henker davon, obwohl ich, von den Lesern und ihrer Tyrannei – ich müßt' ihm sagen (sagt' ich), sie wären Leute von Verstand, denen ein Lebensbeschreiber, ja ein Roman-Bauherr nicht mit Dichtertruge kommen dürfte, sondern die sagten, wie der Areopag: »Das nackte historische Faktum her, ohne alle weitere poetische Einkleidung.« – Und es nähme mich überhaupt wunder (fuhr ich fort), daß er noch nicht wüßte, daß sie soviel, teils Verstand, teils vierblätterigen KleeDieser Klee macht, zufällig gefunden, daß man nicht mehr zu täuschen ist. Bisher finden ihn nur – Fürsten und Philosophen. , in sich hätten, daß sie die größten Verfasser und Trauerdichter, wenn diese fein sein und sie durch ästhetische Gaukeleien entweder wie Schröpfer in Furcht oder wie Bettler in Mitleiden setzen wollten, daß sie diese kaltblütig sich abarbeiten ließen und sagten: »Wir lassen uns nicht fangen.« – Gleichwohl wären die Rezensenten noch toller und gescheiter und vielleicht die besten jetzigen Skotometer (Dunkelmesser), zumal da sie so elende Photometer (Lichtmesser) wären. – Und endlich sagt' ich meinem historischen Adjutanten gerade heraus, er hätte keinen Schaden davon, ich jedoch, daß man mich in mehre Sprachen übersetzte und darin für jede Unwahrscheinlichkeit des Textes in das Geißelgewölbe einer Note hinunterzöge und da sehr striche, indes ich nicht den Mund auftun dürfte, wenn der verdolmetschende Spitzbube, der meinen Kürbisflaschenkeller wie ein Faß Wein aus einem Land ins andre führe, den Wein unterweges wie alle Fuhrleute mit Wasser außen begösse und innen nachfüllte. – Er sollte mir nur wenigstens, bat ich, Antwort geben, damit ich sie den Lesern zeigen könnte als einen Beweis, daß ich ihm geschrieben. – –

Im nächsten Hundposttag möchten also in jedem Falle große Dinge zu erwarten sein. –

Noch dazu fällt der vierte Mai hinein mit seinen, wie es scheint, wichtigen zwei Dankfesten für die Ankunft der zwei Sebastiane, des kleinen in der Welt, des großen im Baddorfe. Sogar Klotilde ist morgen dabei; und Viktor ist recht begierig (ich selber), sie in der Sonne der Liebe zu sehen neben Flamin: denn drüben schienen alle ihre Schönheiten ein vom Strahl der Liebe noch nicht getroffnes und gereiftes Herz zu umblühen, wie Blumenblätter die weißen Herzblätter vor der Sonne überbauen. – Matthieu kam heute zum Abschied, weil er morgen in die Stadt zurückfuhr. Er gefiel unserm Helden immer weniger; und eine Pagengeschichte, die er von sich erzählte, erneuerte Viktors Entschluß, die Bitte der Pfarrerin um die Verscheuchung eines solchen Menschen frühe zu erfüllen.

Matthieu hatte als Page den Dienst bei der Oberhofmeisterin, ich glaube den großen und den kleinen. Gleichwohl mußt' er einmal einen Abbate und Gewissensrat in ein Kabinett derselben bestellen, das der Betstuhl und die heilige Stätte in einem Grade sein sollte, den freilich ihr dummer eifersüchtiger Mann nicht begriff. Nun war im Nebenzimmer ein musikalischer Armsessel, den man im Grunde mit nichts spielte als mit dem Steiß: sobald man sich hineinsetzte, fing er seine Ouvertüre an, und ich saß einmal beim Fürsten Esterhazy in so einem. Unser Matz – so nennt ihn das ganze bürgerliche Flachsenfingen; einige Kanzeleiverwandte heißen ihn auch den Evangelisten – bestellte den Abbate um zwei Stunden zu bald; setzte aber, damit der Mann mit der tonsurierten Perücke nicht vom Passen ermattete, vorher den musizierenden Sessel hinein, als Ruhebank und Ankerplatz für matte Expektanten. Gegen drei Uhr nachts, als die Gesellschaft fort war, ausgenommen den Oberhofmeister, senkte der stehenssatte Gewissensrat seinen Rumpf endlich in den mit Favorit-Arien ausgepolsterten Sorgestuhl und weckte mit seinen Hosen die ganze Trauermusik und deren Mordanten darin auf, ohne die geringste Möglichkeit, das Kabinett-Ständchen dieses Weckers zu stillen. Der Ehegemahl ging endlich, wie ein Hering, den Finalkadenzen nach und zog den mitten im Kontrapunkt und in Pralltrillern seßhaften Gewissensmann aus seinem Orgelstuhl und versalzte ihm den Wachtelruf, glaube ich, durch kommandierte Prügel. Die Oberhofmeisterin erriet leicht den Meister vom Stuhl, Matzen; aber so sehr gewöhnlich ist Verzeihung am Hofe – nicht bloß vergangne Beleidigungen werden dort von guten Weiberseelen vergeben, sondern auch zukünftige –, daß die Hofmeisterin sich doch nicht eher an Matzen rächte – ob er gleich noch dritthalb Wochen ihr diente – als eben nach dritthalb Wochen...

Viktor zürnte über Flamins Gelächter; er liebte Laune, aber keine Neckerei. Sein versüßtes Blut fing durch diese Essigmutter allmählich zu versäuern an gegen diesen Matz, dessen kalte ironische Galanterie gegen die ehrliche Agathe ihn schon empörte, deren phlegmatischer, gleichsam verheirateter Puls übrigens in dessen Ab- und in dessen Anwesenheit dieselben Schläge tat. Noch mehr Sodbrennen und Säure sammelte sich in Viktors Herzen, weil er – der alles duldete, Eitle, Stolze, Atheisten, Schwärmer – gleichwohl keine Menschen dulden konnte, die die Tugend für eine Art von feiner Proviantbäckerei ansehen, die Wollust für erlaubt, den Geist für einen Almosensammler des Leibes, das Herz für eine Blutspritze und unsere Seele für einen neuen Holztrieb des Körpers. Dieses aber tat Matthieu, der noch dazu Neigung zum Philosophieren hatte, und der den Freund Viktors, welcher ohnehin gegen die ganze Dichter- und Geisterwelt so kalt war wie ein Staatsmann, mit seinem philosophischen Krebsgifte anzustecken drohte.

Abends suchte er ein wenig näher an Flamins Gehör in die zweite Trompete der Fama gegen den entfernten Pseudo-Evangelisten zu stoßen. Im Garten stieß er darein. Er nahm die Hand, deren die Matthäische nicht würdig war, in seine bessere und fing mit der herzlichsten feinsten Schonung, die man sogar der wahren Freundschaft für einen unechten Freund gewähren muß, seinen Bildersturm an. Denn indem er die Kammerherrin tadelte, daß sie auf Agathen Blicke von ihrem Wipfel herunterwürfe, die nichts Reineres wären, als was sonst Affen vom ihrigen auf die Leute schickten; und indem er den Hofjunker tadelte, daß er wie viele Edelleute erst unter Edelleuten den ketzerischen Geruch eines Bürgerlichen am meisten (vielleicht durch Hülfe des Gegensatzes) verspürte, und daß seine Worte und Mienen im Schlosse wie Eisspitzen ans gute warme Herz Agathens anflögen: so war der Tadel dieses Maifrostes gegen die Schwester nur ein Vorwand, in welchen er die Anmerkung einhüllte, daß der Hofjunker Flamins Freund nicht sein würde, wenn er nicht Agathens Liebhaber wäre. –

Flamins Schweigen (das Zeichen seiner Entrüstung) gab dem Strom seiner Beredsamkeit einen neuen schnellern Abhang; noch dazu rief eine in Le Bauts Garten dichtende Nachtigall alle Echo der Liebe aus seiner Seele wach. Daher ergriff er freilich Flamins beide Hände in jener Überwallung, die immer seine Schritte zum Ziele in Sprünge umsetzte und dadurch das ganze Ziel überrennte. – Viele Plane verunglücken, weil das Herz dem Kopfe nacharbeitet, und weil man beim Ende der Ausführung weniger Behutsamkeit aufwendet als beim Anfange derselben. Er sah seinen Geliebten an, die Flötenkehle der Nachtigall setzte den Text seiner Liebe in Musik, und unbeschreiblich gerührt sagte er: »Du Bester! dein Herz ist zu gut, um nicht von denen überlistet zu werden, die dich nicht erreichen. O wenn einmal die Schneide des Hof-Tons blutig über die Adern deiner Brust wegzöge« – (Flamins Miene sah wie die Frage aus: bist du denn nicht auch satirisch?) »o wenn der, der keine Tugend und Uneigennützigkeit glaubt, auch einmal keine mehr bewiese; wenn er dich sehr betröge, wenn die vom Hof gehärtete Hand einmal Blut und Tränen wie ein Zitronenquetscher aus deinem Herzen drückte: dann verzweifle doch nicht, nur an der Freundschaft nicht – denn deine Mutter und ich lieben dich doch anders. O wahrlich, zu der Zeit, wo du sagen müßtest: warum hab' ich nicht meinem Freunde gehorcht, der mich so warnte, und meiner Mutter, die mich so liebte – da darfst du zu mir kommen, zu dem, der sich niemals ändert, und der deinen Irrtum höher schätzet als eigennützige Behutsamkeit; dann führ' ich dich weinend zu deiner Mutter und sage zu ihr: nimm ihn ganz, nur du bist wert, ihn zu lieben.« – Flamin sagte gar nichts darauf. – »Bist du traurig, mein Flamin?« – »Verdrießlich!« – »Ich bin traurig; die Klagen der Nachtigall tönen mich wie künftige an«, sagte Viktor. – »Gefällt dir diese Nachtigall, Viktor?« – »Unbeschreiblich, wie eine Freundin meines Innersten.« – »So irret man, Matthieu singt«, versetzte schnell Flamin. Denn der Evangelist unterschied sich von einer Nachtigall in nichts als der Größe. – Und dann ging Flamin empfindlich und doch mit einem Handdruck davon.


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