Jean Paul
Hesperus oder 45 Hundposttage
Jean Paul

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23. Hundposttag

Erster Besuch bei Klotilde – die Blässe – die Röte – die Renn-Wochen

»Ja, das gesteh' ich,« – sagte Viktor, der am andern Tage nach Klotildens Ankunft in seiner Stube umherlief – »in ein Gewitter oder in ein stürmendes Meer säh' ich herzhafter als in das kleine Gesicht, in einen heitern Himmel von drei Nasenlängen.« Aber er half sich dadurch, daß er einen abgerissenenen Fortissimo-Akkord auf dem Klavier anschlug: dann konnte er zu Klotilden. Bloß unterwegs sagte er: »Nirgends wird so viel gezankt als in einem Menschen – Welcher Teufelslärm in diesem fünfschuhigen Disputatorium über den geringsten Bettel, bis nur aus einer Bill eine Akte wird! – Ein tragbarer Nationalkonvent in nuce ist man, ich kann keinen Schritt tun, ohne daß erst die rechte und linke Seite darüber haranguieren, und die enragés und die noirs, und der Herzog von Orleans und Marat. Das Abscheulichste ist im innerlichen Regensburger Reichstage des Menschen, daß die Tugend darin mit zehn Sitzen und einer Stimme sitzt, der Teufel aber mit einem Steiße und sieben Stimmen.« –

Durch diese lustigen Selbergespräche wollt' er sich vom Anblick seiner verworrenen, verstockten, kalt-wunden, immer Joachimen zu Klotilden hinaufhebenden Seele entfernen. Er wurde endlich bloß durch den tugendhaften Entschluß wieder rein ausgestimmt, jetzt die Liebe zu Joachimen nicht zu verstecken – »sich ihrer nicht zu schämen«, hätt' er bald gedacht. »Wenn ich mich gegen Joachime wärmer, und gegen die andre kälter stelle, als ich etwa bin: so müßte der Teufel sein Spiel haben, wenn ichs nicht endlich würde

Der hatt' es aber eben, und zwar ein wahres L'hombrespiel zu vier PersonenJoachime, Klotilde, Viktor und der Teufel. mit dem mort: dieser Croupier hatte die einzige Volte geschlagen, daß er das Gesicht Klotildens mit einer ganz andern Farbe ausspielte, als er in Le Bauts Schlosse getan. Viktor fand sie in Schleunes seinem unendlich schöner wieder, als er sie verlassen hatte – blässer nämlich. Da sie keine Nervenpatientin war, keine Kälte mied, sogar in Dezemberabenden allein auf dem Dorfe spazieren ging: so waren sonst ihre Wangen mehr dunkle Rosenknospen als aufgegangene abgebleichte Rosenblätter. Aber jetzo war die Sonne ein Mond geworden – sie hatte in irgendeinem Kummer, wie der Saphir im Feuer, nichts verloren als die Farbe, statt des Blutes schien die stillere, zärtere Seele selber näher durch den weißen Florvorhang zu blicken. Alles Blut, das aus ihren Wangen zurückgewichen war, floß in seine über und stieg ihm wie ein Zaubertrank in den Kopf; indes suchte er sich in diesen den Gedanken zu setzen: »Wahrscheinlich machte sie mehr der Zank mit ihren Eltern, weniger der Kummer, hieher getrieben zu werden, krank!« –

Wenn man sich einmal vorgesetzt hat, sich kalt zu stellen: so wird man es noch mehr, wenn man Ursachen findet, es nicht zu werden. Viktor wurde noch kälter durch Klotildens Eltern, die mitgekommen, und von deren Fehlern ihm auf einmal der Deckmantel weggezogen zu sein schien; an Personen, die man einer dritten wegen zu hoch geachtet, nimmt man, wenn uns die dritte nicht mehr zwingt, durch eine größere Heruntersetzung derselben Rache. Auch sagte er zu sich: »Da sie ihren Bruder Flamin jetzo selten sieht: so wär's einfältig, sie einer verlegnen Minute durch die Erzählung bloßzustellen, daß ich die Verwandtschaft weiß.« – Armer Viktor! – Gleichwohl wars ihm unmöglich, sein Herz nur mit so viel elektrischer Wärme vollzuladen – er rieb es mit Katzenfellen, er schlug es mit Fuchsschwänzen –, als dasein mußte, daß sein Puls wenigstens voll für Joachimen gegangen wäre, geschweige fieberhaft; aber eben dieses bestimmte ihn, sich gerade so zu betragen, als wären Herz und Pulse voller: »Es wäre unedel,« (dacht' er) »wenn es die gute Joachime entgelten müßte, daß ich einmal andere Hoffnungen und Wünsche gehabt als die neuesten.« Diese Aufopferung erwärmte ihn mit eigner Achtung; diese Achtung gab ihm den männlichen Stolz, der mit seiner Liebe und seiner Wahl allen vier Weltteilen trotzt; dieser Stolz gab ihm wieder Freiheit und Freude – und jetzo war er imstande, mit Klotilden zu reden wie ein vernünftiger Mensch.

Diese ganze innere Geschichte nahm freilich einen zwölfmal größern Zeitraum ein als Muhameds Reise durch alle Himmel – fast eine gute Stunde. Ein Zufall aber warf sich zwischen alle seine Ideen. Da nämlich die Ministerin eine wahre Gelehrte war – sie wußte, daß ein paar Quarzdrusen und einige Präparate und ein ertränkter Fötus noch keinen Gelehrten machen, sondern erst ein Lehrsaal voll Naturalien und ein Lesekabinett –, und da der Kammerherr Le Baut ein Gelehrter war – denn sein Kabinett war ebenso groß –: so wurde dem Kammerherrn die Sammlung gezeigt, die er selber bereichern helfen. Man sollte denken, sie hätten einander ausgelacht und für Narren gehalten: aber sie hielten sich wirklich für Gelehrte; denn den Großen wachsen die Früchte vom Baume des Erkenntnisses so ins Fenster und ins Maul – sie haben so viele Leichtigkeit, Kenntnisse zu erlangen (daher die zweite, sie zu zeigen) – sie suchen im Brunnen der Wahrheit so selten etwas anders als ihr eignes, mit Wasserfarben gemachtes Kniestück, und in die Tiefe dieses Brunnens zu waten, wäre für sie eine solche Erkältung – und doch gehen sie auf der andern Seite mit so vielerlei Personen von Kenntnissen aus allen Fächern um – – daß sie von allem etwas über der Tafel erfahren und durch die Ohren, durch Mundüberlieferung, wie die Schüler der Alten, Vielwisser werden. Wenn sie nachher gar das, was ihnen ungehört geblieben, vollends zu entbehren wissen, was ist dann zwischen ihnen und den ärmsten Gelehrten für ein Unterschied als der in dem Bewußtsein?

Im Naturalien- und Bücherkabinett lag noch die ganze Neujahr-Ladung von summenden Käfern mit goldnen Flügeldecken ohne Flügel – ich meine die vergoldeten Musenalmanache. Matthieu, dieser Nachahmer der tierischen Nachtigallen, war der Erbfeind der menschlichen, nämlich der Dichter. Er sagte – was in eine Rezension besser gepasset hätte –: »er sei ein großer Freund von Versen, aber im Winter – denn wenn er so durch die Blumen-Beete eines Almanachs streiche, so werd' er, wie einer, der durch ein Bohnenfeld geht, schläfrig genug und könne einschlafen. – Und da gerade die Nächte länger würden, und man also einen längern Schlaf bedürfe, so sei es schön, daß die Almanache gerade mit Winteranfang erschienen, und daß diese Blumen mit den Moosen zu einerlei Jahrzeit blühten – so könne man doch am murmelnden Bache in den Versen einschlafen, wenn das Murmeln und Schlafen auf der gefrornen Wiese nicht mehr gehe.« – –

Unser Viktor war so satirisch wie der Evangelist; er hatte im Hannöverischen so gut wie dieser hier gelacht – z. B. er hatte beklagt, daß die meisten Almanachsänger leider mehr für den Kenner arbeiteten als für dumme Leser und schon zufrieden wären, wenn sie nur jenen in den Schlaf versetzten – daß ein Mensch, der keine Prose schreiben könnte, versuchen sollte, ob er zu keinem Volksänger tauge, wie nur die Vögel, die nicht reden lernen, singen können – daß er einen guten Almanach am ersten und angenehmsten durchbringe, wenn er bloß die Reime durchlaufe – und daß flache Köpfe wie flache Diamanten, denen keine Facetten zu geben sind, zu Herzen würden und uns statt der Gedanken Tränen gäben, in denen nicht einmal das Aufgußtierchen eines Gedankens schwimme....

Aber er sah noch eine Seite mehr als Matthieu, nämlich die edle. – Es war seine Gewohnheit, gerade diese vorzudrehen, wenn ein anderer nur die schlechte gewiesen, und umgekehrt. Seine Meinung war: »die Dichter wären nichts als betrunkene Philosophen – wer aber aus ihnen nicht philosophieren lerne, lern' es aus Systematikern ebensowenig – die Philosophie mache nur die Silberhochzeit zwischen Begriffen, die Dichtkunst aber die erste – leere Worte geb' es, aber keine leere Empfindungen – der Dichter müsse, um uns zu bewegen, bloß alles Edle zum Hebel nehmen, was auf der Erde ist, die Natur, die Freiheit, die Tugend und Gott; und eben die Zauberstäbe, die magischen Ringe, die Zauberlampen, womit er uns beherrsche, wirken endlich auf ihn selber zurück.« –

Er legte diese Meinung – als Matthieu die seinige und Joachime ihre eigne vorgetragen, daß nämlich ihr an den Musenalmanachen wenigstens zwei oder drei Blätter gefielen, nämlich die glatten Pergamentblätter – viel kürzer vor; – die Ministerin war der seinigen (denn sie war selber eine Versifexin); – der Kammerherr sagte, »jede Stadt und jeder Fürst bete ja die Dichter in eignen Tempeln an – nämlich in den Schauspielhäusern«; – Klotilde durfte sich nun zu den Siegern schlagen: »Wenn man im Januar einen Dichter lieset, so ists so lieblich, als wenn man im Junius spazieren geht. – Ich kann weder Philosophen noch Gelehrte lesen; es bliebe mir« (sie wollte sagen: ihrem Geschlechte) »daher gar zu wenig, wenn man mir die lieben Dichter nähme.« – »Sie würden höchstens« (sagte endlich der Minister) »Ihre Schüler an ihnen finden; Dichter bekümmern sich, wie die Heiligen, wenig um die Welt und ihr Wissen; sie können den Staat besingen, aber nicht belehren.« – O du grinsende Mumie, dachte Viktor, ein Edelstein, den du nicht als einen Staatsbaustein vermauern kannst, ist dir weniger als ein Sandblock. Wenn du nur jede flammende, als eine Ergänzung der republikanischen Antiken dastehende Seele zu einem Unterschreiber, zu einem Zollkommisar oder Kammerfiskal einsetzen könntest (wie die Großkaiser die Ruinen zu Ställen und Pferdetränken verbauen)! – Der edle Matz fügte bloß hinzu: »In Rom war ein Maler, der mit jedem nur singend sprach; und ich kannte einen großen Dichter, der nicht einmal im gemeinen Leben Prose konnte; er konnte aber mehres nicht und hatte wenig Welt, aber viel Welten im Kopfe – er wird, wenn er sich drucken lässet, seinen Lesern kaum mehre Täuschungen geben, als ihm jeder schon gemacht hat, der wollte.« – – Viktor sah aus Klotildens gesenktem Auge, daß sie so gut wie er merke, daß der Teufel ihren Dahore meine; aber er schwieg; seine Seele war traurig und erbittert; aber er war längst durch den Hof die zu ertragen abgehärtet, die er hassen mußte.

Unter dieser Disputation hatte der edle Matz die ganze Gruppe unvermerkt in schwarzem Papier nachgeschnitten. »Ach!« sagte Joachime, »das ist nicht das erstemal, daß er Gesellschaften schwarz abbildet.« – Da aber Viktor Silhouettengruppen niemals sehen konnte, ohne an uns zerrinnende Schatten-Menschen, an dieses versiegende Zwerg-Leben, an die auf das Leben gezeichneten Nachtstücke und an die Schattenpartien, die man Völker nennt, zu denken – und da ihn daran außer seiner Traurigkeit und außer einem Wachs-Skelett von Mad. Biheron, das im Naturaliensaale mit dastand, noch mehr die blasse Gestalt Klotildens erinnerte – und da diese, mit den vergleichenden Augen auf dem Gerippe und dem Schattenbilde, leise zu Viktor sagte: »Mich könnten zu einer andern Zeit so viele Ähnlichkeiten traurig machen« – so durchschnitt sein volles Herz der scharfe Schmerz über seine ewige Armut und über die Gewißheit: »Dieses schöne Herz bewegt sich nie für deines, und wenn ihr Freund Emanuel gestorben ist, bleibst du immer allein« – und er trat ans Fenster, drehte es hart auf, schlang den Nordwind ein, zerdrückte mit der Faust die zwei Augäpfel und ging mit den – vorigen Zügen wieder zu den andern.

Aber für heute hatten solche Erschütterungen zu tief in sein Herz hineingerissen. Und da ihm Klotilde in einer einsamen Sekunde sagte, daß die Pfarrerin und Agathe über sein Außenbleiben zürnten: so war er, dem sich bei diesen Namen die ganze bewölkte Vergangenheit wie ein Himmel auftat, nicht imstande eine Antwort zu geben.

Als er nach Hause kam, redete Klotildens Stimme, die er unter allen ihren Reizen am wenigsten vergessen konnte, unaufhörlich und wie das Echo eines Trauergesangs in seiner Seele... Leser, wenn das, was du liebtest, lange verschwunden ist aus der Erde oder aus deiner Phantasie, so wird doch in Trauerstunden die geliebte Stimme wiederkommen und alle deine alten Tränen mitbringen und das trostlose Herz, das sie vergossen hat!... Aber nicht bloß ihre Stimme, sondern alles drängte sich im Finstern um seine Phantasie, ihr bescheidenes Auge, das nicht hofmäßig blitzte und ertrotzte und suchte, wie der andern ihre, diese behutsame Feinheit, die ihm seit seinem Hofleben weder an ihr noch an seinem Vater mehr zu groß vorkam – dazu setze man noch das Bild Joachimens und sein Chaos von Widersprüchen und die Bemerkung, daß ein Mensch, den die gewissesten Beweise, ungeliebt zu sein, beruhigt haben, doch bei einem neuen wieder leidet: so kennt man die Bewegungen, die der Schlaf, diese Meerstille des Lebens, bei ihm stillen mußte. –

»Das war das letzte Fieberschauer«, sagt' er am andern Morgen und bauete auf sein jetziges Herz, dessen Entzündungen wie die der Vulkane täglich ihren Kessel mehr ausbrannten. Er gebot sich daher eine wöchentliche Flucht vor der zu teuern Seele, in der Absicht, daß der neue Nachklang seiner Liebe in seinem Herzen auszittere und alles wieder still werde darin.

Aber nach einer Woche sah er sie wieder: wahrlich, der Teufel saß wieder am Spieltisch und spielte gegen ihn eine andere Farbe aus – Rot. Klotilde sah nicht blaß, sondern, obwohl nur wenig, rot aus. Dieses Rot machte an seinem innern Menschen einen großen Klecks und verfälschte sein inneres Kolorit, wie Schwarz jede Malerfarbe. Denn als er sie genesen wiederfand: so wars ihm nicht sowohl angenehm – denn er sah, wie wenige Verdienste er mehr um ihre Ruhe habe, wie sie ihn nicht einmal in diesem Warenlager von Menschen-Makulatur aushebe, und wie dumm er gewesen, daß er sich heimlich, ganz heimlich träumen lassen, »ihre vorige Bleichheit komme gar von ihrer vergeblichen Sehnsucht nach ihm seines Orts her« –, desgleichen wars ihm auch nicht unangenehm – denn er hätte all sein Herzblut dahingegossen, um damit eine einzige Pulsader in ihr wieder in den Gang zu bringen –, ich sage, es war ihm nicht sowohl angenehm oder unangenehm als beides, als unerwartet, als ein Wink, des – Teufels zu werden. Sein Herz und das Bild, das zu lange darin war, wurden gar entzweigedrückt: »Es sei!« sagt' er und zerbiß die krampfhafte Lippe, womit ers sagte. – Einige Tage lang mocht' er nicht einmal Joachime sehen. »Hat diese denn ein Auge für die Natur und ein Herz für die Ewigkeit?« fragt' er, und er wußte wohl die Antwort.


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