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Der Abschied
Ach heute geht er schon! Die bisherigen Rührungen und Gespräche hatten die zarte Hülle, die Emanuels schönen Geist wie eine Tulpe die Biene verschließet, zu sehr erschüttert: blaß und wankend stand er auf; und der Blinde war am glücklichsten, der weder diese Blässe, noch das weiße Tuch erblickte, das er zu nachts, statt vollzuweinen, vollgeblutet hatte. Er selber hatte noch das bleiche Abendrot der gestrigen Freude auf dem Angesicht; aber eben diese Gleichgültigkeit gegen seine auslöschenden Tage, dieses schwächere leisere Sprechen machte, daß Viktor die Augen von ihm wegwenden mußte, sooft sie lange an ihm gewesen waren. Emanuel sah ruhig, wie eine ewige Sonne, auf den Herbst seines Körpers herab; ja je mehr Sand aus seiner Lebens-Sanduhr herausgefallen war, desto heller sah er durch das leere Glas hindurch. Gleichwohl war ihm die Erde ein geliebter Ort, eine schöne Wiese zu unsern ersten Kinderspielen, und er hing dieser Mutter unsers ersten Lebens noch mit der Liebe an, womit die Braut den Abend voll kindlicher Erinnerungen an der Brust der geliebten Mutter zubringt, eh' sie am Morgen dem Herzen des Bräutigams entgegenzieht.
Viktor warf sich jeden vergossenen Bluttropfen Emanuels vor und entschloß sich, heute zu gehen, weil diese Psyche mit ihren großen Flügeln sich in ihrem Gewebe nicht mehr ohne Risse bewegen konnte. In Emanuels Augen glänzte eine unaussprechliche Liebe für seinen gerührten Schüler. Er fing selber von seinem Todestag zu reden an, um diesen zu trösten, und stellte ihm vor, daß er erst in einem Jahre von hinnen gehen könne; er bauete seine schwärmerische Weissagung auf zwei Gründe: daß erstlich seine meisten männlichen Verwandten am nämlichen Tage und im nämlichen Stufenjahre gestorben wären, zweitens daß schon mehre Schwindsüchtige in ihrer zerstörten Brust wie in einem Zauberspiegel ihren letzten Tag gelesen hätten. Viktor bestritt ihn; er zeigte, die Erklärung der letzten Erscheinung, als könne der Hektiker aus dem regelmäßigen stufenweisen Fallen der Lebenskraft leicht die letzte Stufe oder den Gefrierpunkt vorausfühlen, sei falsch, weil Gefühle der Zukunft in der Gegenwart Widersprüche (in adjecto) wären, und weil wir mitten im Leben so wenig den Eintritt des Todes als im Wachen den Eintritt des Schlafes (trotz gleicher Stufenfolge) voraus empfinden könnten. Viktor stellte ihm alles dieses vor; aber er glaubte es selber nicht recht: ihn übermannte der hohe Mensch, der seinen Eintritt in den Todesschatten so zuverlässig wie einen Eintritt des Mondes in den Erdschatten ansagte. – Wir wollen dem Kranken vergeben und uns deswegen nicht für weiser halten, weil er schwärmerischer ist. – Am meisten wurde Viktor durch Emanuels Wahn getröstet, daß ihm vor seinem Tode erst sein verstorbner Vater erscheinen werde.
Viktor zögerte und wollte nicht zögern, hinderte als Arzt das Sprechen des Emanuel, um sich die Entschuldigung eines unschädlichen Aufschubs zu machen, und wurde eben, weil er selber wenig zu reden suchte, immer betrübter. – Wie kannst du, guter Viktor, schon heute von ihm eilen, von diesem Engel, der vielleicht über dem nächsten Grabe verschwindet? – Es muß dir hart fallen, da es schon so schwer ist, vom Maienthal voll Blüten, vom Blinden voll sanfter Töne wegzugehen – schmerzlich ist hier der letzte Händedruck, Viktor, und schön jede Verzögerung!
Er beschloß, in der Nacht zu scheiden, weil eine Trennung am Morgen zu lange wehe tut und die Stelle des Herzens, wo sich das geliebte abgerissen, den ganzen Tag fortblutet. Emanuel hätte abends sich wieder ins Stift entfernen sollen, wie gestern: Viktor würde dann seine gefüllten Augenhöhlen, mit denen er immer hinausgehen mußte, um den Schmerz hinwegzunehmen, vor dem Blinden, den er um die traurigste Melodie von der Welt gebeten hätte, satt haben strömen lassen können.
Als er abends das letztemal aß und die Abendglocke anfing, wurde seinem Herzen, als wäre von demselben die Brust weggehoben und Eisspitzen würden darauf geweht. Er umschlang voll Liebe den blinden Jüngling, den er nicht als den Gespielen seiner Kindheit erkennen durfte, und der mit seinen Tönen mehr Entzückungen gegeben hatte, als er in seiner Nacht zurückbekam; und ließ Tränen ihren Lauf, deren doppelte, vielleicht dreifache Quelle Emanuel nicht erriet: denn der Anblick dieser Augen, die nie mehr zu öffnen waren, tat nun seiner Seele nach Klotildens Wunsche ihrer Heilung viel weher. Emanuel bat er noch mit einer über den Nebensinn hinübereilenden Stimme, ihn ein wenig zu begleiten, bis Maienthal verschwunden wäre.
In der dunkeln stillen Gegend draußen blieben alle Schmerzen in der Brust neben ihren Seufzern. »Wenn der Mond in dieses Blütental hereinschimmert,« dacht' er, »hab' ich es auf lange verlassen.« Bloß die Altarlichter, die Sterne, brannten im großen Tempel. Er wollte sich von seinem Lehrer auf dem Berge trennen, wo er sich mit ihm vereinigt hatte; aber er ging durch Umwege – Emanuel folgte ihm gern, wohin er ihn führte – hinauf, um das Schweigen und Weinen unter dem Umwege zu überwältigen.
Aber sie kamen an unter der Trauerbirke, und sein Auge und seine Stimme hatte noch der Schmerz. »Ach« (dacht' er) »wie freudig war hier die erste Nacht, und wie schmerzhaft ist diese!« Sie ruhten auf der Erde nebeneinander an der Grasbank, einsam, schweigend, trauernd vor dem dunkel schimmernden All. Viktor konnte den belasteten Atemzug der zerstörten Brust vernehmen, und das künftige Grab auf diesem Berge schien sich neben ihm aufzuwühlen. O wenn es bitter ist, neben dem Bette zu stehen, worin ein geliebtes erlöschendes Angesicht mit den Farben des Todes liegt: so ist es noch viel bitterer, mitten in den Szenen der Gesundheit hinter der aufgerichteten teuern Gestalt den leise grabenden Tod zu hören und so oft zu denken, als die Gestalt fröhlich ist: »Ach sei noch fröhlicher, in kurzem hat er dich umgenagt, und du bist vergangen mit deinen Freuden und mit meinen!« – Aber ach, es gibt ja keinen Freund und keine Freundin, bei denen wir das nicht denken müßten! –
Er wußte nicht, warum Dahore so lange still war. – Er sah nicht voraus, daß der Mond den Berg früher bestrahlen werde als die Tiefe. Der Mond, dieser Leuchtturm am Ufer der zweiten Welt, umzog jetzt den Menschen mit bleichen Gefilden, die aus Träumen genommen waren, mit blaß schimmernden Auen aus einer überirdischen Perspektive, und die Alpen und Wälder lösete er in unbewegliche Nebel auf – über der halben Erdkugel stand tief der Lethefluß des Schlafes, unter der grünen Rinde stand das Totenmeer, und zwei liebende Menschen lebten zwischen dem weiten Schlafe und Tod... Jetzt dachte Viktor zwar noch glühender: hier neben diese Birke, unter diesen kalten Boden wird seine zerfallne Brust auf ewig verborgen, und sie blutet nicht mehr, aber sie schlägt auch nicht mehr – er dachte zwar an trübe Ähnlichkeiten, als die unbeweglichen Sterne auf- und abzusteigen schienen, bloß weil die spielende Erde sich um sie wendet und sie zeigt und deckt – er sah zwar melancholisch von den Irrlichtern weg, die, über Täler rennend, nur an der ernsten Nacht und an den Gräbern hinanhüpften und die um einen einsamen Pulverturm gaukelnde Kreise beschrieben – –
Allein doch schwieg er und dachte: »Wir haben uns ja noch.«
Aber dann wurd' es seinem blutigen Herzen zu viel, als die Flötenklagen des Blinden aus dem einsamen Hause in die Nacht auszogen und über den Berg und über das künftige Grab hinübergingen. – Dann wurden den Seufzern Stimmen und der Zukunft Totenglocken gegeben, und es tat ihm zu wehe, als er unter dem Flötengetön es dachte: dieser einzige, dieser unersetzliche Mensch, der in seinem großen Herzen doch so viel Liebe für dich bewahret, geht dahin und erscheint nie wieder. – Ach, da noch dazu gerade jetzt Emanuel, der still in den Himmel versenkt und wie ein Hingeschiedener neben ihm gelegen, seine Lage wegen des schmerzlichen und gedrückten Atemholens wechselte, aber mit einem heitern, von den Bruststichen nicht getroffnen Angesicht: so fuhr eine kalte Hand in Viktors geschwollnes Herz und wendete sich darin um, und sein Blut gerann an ihr an, und er sagte, ohne ihn ansehen zu können, schwach, bittend, gebrochen: »Stirb nicht nach einem Jahr, mein teurer Emanuel – wünsche nicht zu sterben!«
Der Genius der Nacht stand bisher unsichtbar vor Emanuel und goß hohe Entzückungen in seine Brust, aber keine Leidenschaften, und er sagte: »Wir sind nicht allein – meine Seele fühlt das Vorbeigehen ihrer Verwandten und richtet sich auf – unter der Erde ist Schlaf, über der Erde ist Traum, aber zwischen dem Schlaf und Traum seh' ich Lichtaugen wandeln wie Sterne. – Ein kühles Wehen kömmt vom Meer der Ewigkeit über die glühende Erde. – Mein Herz steigt auf und will abbrechen vom Leben. – Es ist alles so groß um mich, wie wenn Gott durch die Nacht ginge. – Geister! fasset meinen Geist, er windet sich nach euch, und zieht ihn hinüber....«
Viktor wandte sich um und sah flehend ins schöne, freudige, unbetränte Angesicht: »Du willst sterben?«
Emanuels Entzückung stieg über das Leben: »Der dunkle Streif in der zweiten Welt ist nur eine Blumen-AueWie die Flecken im Monde Blumen- und Pflanzenfelder sind. – es leuchten uns Sonnen voraus, es ziehen uns fliegende Himmel mit Frühlinglüften entgegen – bloß mit leeren Gräbern fliegt die Erde um die Sonne; denn ihre Toten stehen entfernt auf hellern Sonnen.« –
»Emanuel?« – fragte Viktor laut weinend und mit der Stimme des innigsten Sehnens, und die Flötentöne sanken jammernd unter in die weite Nacht – »Emanuel?«
Emanuel sah ihn, zurückkommend, an und sagte ruhig: »Ja, mein Geliebter! – Ich kann mich nicht mehr an die Erde gewöhnen; der Wassertropfen des Lebens ist flach und seicht geworden, ich kann mich nicht mehr darin bewegen, und mein Herz sehnt sich unter die großen Menschen, die diesen Tropfen verlassen haben. – – O Geliebter, höre doch« – (und hier drückte er das Herz seines Viktors wund) – »diesen schweren Atem gehen – siehe doch diesen zerbrochnen Körper, diese dichte Hülle meinen Geist umwickeln und seinen Gang erschweren. –
Siehe, hier klebt mein und dein Geist angefroren an die Eisscholle, und dort decket die Nacht alle hintereinander ruhende Himmel auf, dort im blauen glimmenden Abgrunde wohnt alles Große, was sich auf der Erde entkleidet hat, alles Wahre, das wir ahnen, alles Gute, das wir lieben. –
Sieh, wie alles so still ist drüben in der Unendlichkeit – wie leise ziehen die Welten, wie still schimmern die Sonnen – der große Ewige ruhet wie eine Quelle mit seiner überfließenden unendlichen Liebe mitten unter ihnen und erquickt und beruhigt alles; und um Gott steht kein Grab.«
Hier stand Emanuel, wie von einer unendlichen Seligkeit gehoben, auf und sah liebend zum Arkturus empor, der noch unter dem Gipfel des Himmels hing, und sagte, gegen die blinkende weite Tiefe gerichtet: »Ach wie unaussprechlich sehn' ich mich hinüber zu euch – ach zerfalle, altes Herz, und verschließ mich nicht so lange!« – »So stirb denn, große Seele,« (sagte Viktor) »und ziehe hinüber; aber brich mein kleines Herz durch deinen Tod und behalte den Armen bei dir, der dich nicht verlassen und nicht entbehren kann.«
Die Flöte hatte aufgehört, die beiden Menschen waren aneinander gesunken, um ihren Abschied zu endigen. »Teurer, Geliebter, Unvergeßlicher,« (sagte Emanuel) »du bewegst mich zu sehr – aber wenn ich nach einem Jahre auf diesem Berge verscheide, so sollst du bei mir stehen und sehen, wie dem Menschen die Banden abgenommen werden. Deine Tränen werden meine letzten Erden-Schmerzen sein; aber ich werde sagen, was ich jetzt sage: wir scheiden uns in der Nacht, aber wir finden uns wieder am Tage.« Hier ging er.
Viktor hatte sich leise von den kindlichen Lippen losgewunden – er jagte nicht auf seinem Nacht-Steige – langsam ging er vor lauter Schlaf vorbei. – Er wandte sich oft um und verfolgte mit Augen voll fallender Tränen die fallenden Sterne über Maienthal – und um 4 Uhr morgens kam er mit einer himmlischen Seele in St. Lüne an und trat in den Garten voll alter Szenen und legte in der bekannten Laube das glühende Haupt und das bekämpfte Herz in den Tau des Morgens zu einer kühlenden Ruhe nieder.
O ruhe, ruhe! – Ach den ewig erschütterten Busen des Menschen stillet nur ein Schlaf, entweder der irdische oder der andre....
Ende des ersten Heftleins