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Polar-Phantasien – die seltsame Insel der Vereinigung – noch ein Stück aus der Vor-Geschichte – der Stettinerapfel als Geschlechtwappen
Wir leben jetzt im finstern Mittelalter dieser Lebensbeschreibung und lesen dem aufgeklärten achtzehnten Jahrhundert oder Hundtag entgegen. Allein schon in diesem zwölften fliegen, wie in der Nacht vor einem schönen Tag, große Funken. Mich frappiert dieser Hundtag noch immer. »Spitz,« sagt' ich, »friß mir weg, was du willst, und kläre nur die Welt auf.«
Sebastian eilte am Sonnabend mit lustiger Seele unter einem überwölkten Himmel auf die Insel der Vereinigung zu. Er konnte da anlangen, wenn er sich nicht aufhielt, ehe das Gewölk eingesogen war. Unter einem blauen Himmel führte er, wie Schikaneder, die Trauerspiele, unter einem aschgrauen aber die Lustspiele seines Innern auf. Wenns regnete, lacht' er gar. Rousseau bauete in seinem Kopfe eine empfindsame Bühne, weil er weder aus der Kulisse noch in eine Loge des wirklichen Lebens gehen wollte – Viktor aber besoldete zwischen den Beinwänden seines Kopfes ein komisches Theater der Deutschen, bloß um die wirklichen Menschen nicht auszulachen: seine Laune war so ideal wie die Tugend und Empfindsamkeit andrer Leute. In dieser Laune hielt er (wie ein Bauchredner) lauter innerliche Reden an alle Potentaten – er stellte sich auf die Ritterbank mit Kirchenvisitationsreden – auf die Städtebank mit Leichenreden – auf dem päpstlichen Stuhl hielt er an die Jungfer Europa und kirchliche Braut Strohkranzreden – die Potentaten mußten ihm alle wieder antworten, aber man kann denken wie, da er, gleich einem Minister, ihnen aus seinem Kopf-Souffleurloch alles in den Mund legte – und dann ging er doch fort und lachte jeden aus.
Mandeville sagt in seinen Reisen, am Nordpol gefriere im Winterhalbjahr jedes Wort, aber im Sommerhalbjahre tau' es wieder auf und werde gehört. Diese Nachricht malte sich Viktor auf dem Wege nach der Insel aus; wir wollen unsere Ohren an seinen Kopf legen und dem innern Gesumse zuhorchen.
»Ich und Mandeville sind gar nicht verbunden, es zu erklären, warum am Nordpol die Worte so gut wie Speichel unter dem Fallen zu Eis werden, gleich dem Quecksilber allda; aber verbunden sind wir, aus dem Vorfalle zu folgern. Wenn ein lachender Erbe da seinem Testator lange Jahre wünscht: so hört der gute Mann den Wunsch nicht eher als im nächsten Frühjahr, das ihn schon kann totgeschlagen haben. – Die besten Weihnachtpredigten erbauen nicht früher gute Seelen als im Heumonat. – Vergeblich stattet der Polarhof seine Neujahrwünsche vor Serenissimo ab; er hört sie nicht, als bis es warm wird, und dann ist schon die Hälfte fehlgeschlagen. Man sollte aber einen Zirkulierofen als Sprachrohr in das Vorzimmer setzen, damit man in der Wärme die Hof-Sprecher hören könnte. – Ein Bruder Redner wäre dort ohne einen Ofenheizer ein geschlagner Mann. – Der Pharospieler tut zwar am Thomastag seine Flüche; aber am Johannistag, wo er schon wieder gewonnen, fahren sie erst herum; und aus den Winterkonzerten könnte man Sommerkonzerte machen ohne alle Instrumente: man setzte sich nur in den Saal. – Woher kommts anders, daß die Polar-Kriege oft halbe Jahre vor der Kriegerklärung geführet werden, als daher, daß die schon im Winter erlassene Erklärung erst bei gutem Wetter laut wird? – Und so kann man von den Winterfeldzügen der Polar-Armeen nicht eher etwas hören als unter den Sommerfeldzügen. – Ich meines Orts möchte nur auf den Winter nach dem Pole reisen, bloß um da den Leuten, besonders dem Hofstaat, wahre Injurien ins Gesicht zu sagen; wenn er sie endlich vernähme, säße der Injuriant schon wieder in Flachsenfingen. – Die Winterlustbarkeiten sind gar nicht schuld, wenn die nördliche Regierung eine Menge der wichtigsten Dinge nicht vorträgt und entscheidet: sondern erst unter den Kanikularferien ist das Abstimmen zu hören; und da können auch die Bescheide der Kammer auf Gnaden- und Holzsachen zur Sprache kommen. – Aber, o ihr Heiligen, wenn ich am Pol – indes die Sonne im Steinbock wäre und mein Herz im Krebs – niederfiele vor der schönsten Frau und ihr die längste Nacht hindurch die heißesten Lieberklärungen täte, die aber in einer Drittels-Terzie Eis ansetzten und ihr gefroren, d. h. gar nicht zu Ohren kämen: was würd' ich im Sommer machen, wo ich schon kalt wäre und sie schon hätte, wenn gerade in der Stunde, wo ich mich tüchtig mit ihr zu zanken verhoffte, nun mitten unter dem Keifen meine Steinbocks-Lieberklärungen aufzutauen und zu reden anfingen? Ich würde gelassen nichts machen als die Regel: man sei zärtlich am Pol, aber erst im Widder oder Krebs. – Und wenn vollends die Übergabe einer Prinzessin am Pol vorginge, und zwar an dem Punkt, wo die Erde sich nicht bewegt, der sich am besten für die zwiefache Untätigkeit einer Prinzessin und einer Dame schickt, und wenn gar die Übergabe in einem Saale wäre, wo jeder, besonders Zeusel, in den langen Winterabenden sie gelästert hätte; wenn dann die Luft im Saal zu lästern anfinge, und Zeusel in der Not fort wollte: so würd' ich ihn freundlich packen und fragen: ›Wohin, mein Freund?‹« – –
»Nach Großkussewitz, ich helfe fangen«, antwortete ihm der – reelle Büttel aus St. Lüne, der hinter einem Gemäuer mit der einen Hand ein Buch auf- und mit der andern eine Tasche zugeknöpft hatte. Viktor fühlte ein frohes Beklemmen über eine Antike aus St. Lüne. Er fragte ihn um alles mit einem Eifer, als wär' er seit einer Ewigkeit a parte ante weg. Der zuknöpfende Leser wurde ein Autor und faßte vor dem Herrn die Jahrbücher, d. h. Stundenbücher dessen ab, was seitdem im Dorfe vorgefallen war. In zwanzig Fragen wickelte Viktor die nach Klotilden ein; und erfuhr, daß sie bisher alle Tage beim Pfarrer gewesen war. Das verdroß ihn: »Als ob ich«, dacht' er, »nicht soviel Seelenstärke hätte, der Liebe eines Freundes zuzusehen – und auch sonst als ob.« Überhaupt meinte er, in einer solchen Ferne sei es ihm mehr erlaubt, an sie zu denken.
Der lesende Häscher war ein Leser unter meinem Regiment: das Buch, das er auf seinen Diebs-Heckjagden herumtrug, war die unsichtbare LogeDie unsichtbare Loge; eine Biographie in 2 Teilen. 8°.. Viktor ließ sich den ersten Teil vorstrecken: der Büttel stand im zweiten gerade an der Pyramide beim ersten Kuß. – Unser Held tat immer schnellere Schritte im Lesen und im Gehen und hatte Buch und Weg miteinander zu Ende – –
Die Insel stand vor ihm! –
– – Hier auf diesem Eiland, mein Leser, mache Augen und Ohren auf!.... Nicht, als ob merkwürdige Dinge erschienen – denn diese würden sich schon durch halboffne Ohren und Augensterne drängen –, sondern eben weil lauter alltägliche kommen.
Der Lord stand einsam am Ufer der See, die um die Insel floß – und erwartete und empfing ihn mit einem Ernst, der seine Freundlichkeit überhüllte, und mit einer Rührung, die noch mit seiner gewöhnlichen Kälte rang. Er wollte jetzt zur Insel hinüber, und Viktor sah doch kein Mittel des Übergangs. Es war kein Boot da. Auch wäre keines fortzubringen gewesen, weil eiserne Spitzen unter dem Wasser in solcher Menge und Richtung standen, daß keines gehen konnte. Die Schildwache, die bisher am Ufer die Insel gegen die zerstörende Neugier des Pöbels deckte, war heute entfernt. Der Vater ging mit dem Sohne langsam um das Ufer und rückte nach und nach 27 Steine, die in gleichen Entfernungen auseinanderlagen, aus ihrem Lager heraus. Die Insel war vor der Blindheit des Lords gebauet worden und den Zuschauern noch unverwehrt; aber in derselben hatt' er ihr Inneres durch unbekannte nächtliche Arbeiter vollenden und verstecken lassen. Unter dem Rundgang um die Insel sah Viktor ihr Stab- und Fruchtgeländer von hohen Baumstämmen, die ihre Schatten und ihre Stimmen in die Insel hineinzurichten schienen und deren Laubwerk die bebenden Wellen mit ihren zerteilten Sonnen und Sternen besprengten – die Tannen umarmten Bohnenbäume, und um Tannenzapfen gaukelten Purpur-Blütenlocken, die Silberpappel bückte sich unter der thronenden Eiche, feurige Büsche von arabischen Bohnen loderten tiefer aus Laub-Vorhängen, ablaktierte Bäume auf doppelten Stämmen vergitterten dem Auge die Eingänge, und neben einer Fichte, die alle Gipfel beherrschte, war eine höhere vom Sturm halb über das Wasser hereingedrückt, die sich über ihrem Grabe wiegte – weiße Säulen hoben in der Mitte der Insel einen griechischen Tempel unbeweglich über alle wankende Gipfel hinaus. – Zuweilen schien ein verirrter Ton durch das grüne Allerheiligste zu laufen – ein hohes schwarzes, an die Tannenspitzen reichendes Tor sah, mit einer weißen Sonnenscheibe bemalt, nach Osten und schien zum Menschen zu sagen: gehe durch mich, hier hat nicht nur der Schöpfer, auch dein Bruder gearbeitet! –
Diesem Tore gegenüber lag der 27ste Stein. Viktors Vater verrückte ihn, nahm einen Magnet heraus, bog sich nieder und hielt dessen südlichen Pol in die Lücke. Plötzlich fingen Maschinen an zu knarren und die Wellen an zu wirbeln – und aus dem Wasser stieg eine Brücke von Eisen auf. Viktors Seele war von Träumen und Erwartungen überfüllt. Er setzte schauernd hinter seinem Vater den Fuß in die magische Insel. Hier berührte sein Vater einen dünnen Stein mit dem nördlichen Ende des Magnets, und die Eisenbrücke fiel wieder hinunter. Ehe sie an das erhöhte Tor hintraten: drehte sich von innen ein Schlüssel um und sperrte auf, und die Türe klaffte. Der Lord schwieg. Auf seinem Gesicht war eine höhere Sonnenseele aufgegangen – man kannte ihn nicht mehr – er schien in den Genius dieses zauberischen Eilandes verwandelt zu sein.
Welche Szene! Sobald das Tor geöffnet war, lief durch alle Zweige ein harmonisches Hinüber- und Herübertönen – Lüfte flogen durch das Tor herein und sogen die Laute in sich und schwammen bebend damit weiter und ruhten nur auf gebognen Blüten aus. – Jeder Schritt machte einen großen düstern Schauplatz weiter. – Im Schauplatz lagen umher Marmorstücke, auf welche die Schmiedekohle Raffaels Gestalten gerissen hatte, eingesunkne Sphinxe, Landkartensteine, worauf die dunkle Natur kleine Ruinen und ertretene Städte geätzet hatte – und tiefe Öffnungen in der Erde, die nicht sowohl Gräber als Formen zu Glocken waren, die darin gegossen werden – dreißig giftvolle Eibenbäume standen von Rosen umflochten, gleichsam als wären sie Zeichen der dreißig wütend-leidenschaftlichen Jahre des Menschen – dreiundzwanzig Trauerbirken waren zu einem niedrigen Gebüsch zusammengebogen und ineinander gedrückt – in das Gebüsch liefen alle Steige der Insel – hinter dem Gebüsch verfinsterten neunfache Flöre in verschlungenen Wallungen den Blick nach dem hohen Tempel – durch die Flöre stiegen fünf Gewitterableiter in den Himmel auf, und ein Regenbogen aus zweien ineinander gekrümmten aufspringenden Wasserstrahlen schwebte flimmernd am Gezweige, und immer wölbten sich die zwei Strahlen herauf, und immer zersplitterten sie einander oben in der Berührung – –
Als Horion seinen Sohn, dessen Herz von lauter unsichtbaren Händen gefasset, erschreckt, gedrückt, entzündet, erkältet wurde, in das niedrige Birkengebüsch hineinzog: so begann die lallende Totenzunge eines Orgel-Tremulanten durch die öde Stille den Seufzer des Menschen anzureden, und der wankende Ton wand sich zu tief in ein weiches Herz. – Da standen beide an einem vom Gebüsche dunkel überbaueten Grabe – auf dem Grabe lag ein schwarzer Marmor, auf dem ein überschleiertes blutloses weißes Herz und die bleichen Worte standen: Es ruht. »Hier wurde«, sagte der Lord, »mein zweites Auge blind: MarysSo hieß die Gemahlin des Lords, die im 23sten Jahre der Ruhe in die ewigen Arme fiel. Sarg steht in diesem Grabe; als dieser aus England ankam in der Insel, entzündete sich das kranke Auge zu sehr und sah niemals wieder.« – Nie schauderte Viktor so: nie sah er auf einem Gesicht eine solche chaotische wechselnde Welt von fliehenden, kommenden, kämpfenden, vergehenden Empfindungen; nie starrte ein solches Eis der Stirne und Augen über krampfhaften Lippen – und ein Vater sah so aus, und ein Sohn empfand es nach.
»Ich bin unglücklich«, sagte langsam sein Vater; eine beißende bittere Träne brannte am Augapfel; er stockte ein wenig und stellte die fünf offnen Finger auf sein Herz, als wollt' ers ergreifen und herausziehen, und blickte auf das steinerne blasse, als wollt' er sagen: warum ruht meines nicht auch? – Der gute sterbende Viktor, zermalmet von liebendem Jammer, zerrinnend in Mitleid, wollte an den teuern verheerten Busen fallen und wollte mehr als den Seufzer sagen: »O Gott, mein guter Vater!« Aber der Lord hielt ihn sanft von sich ab, und die Gallenzähre wurde unvergossen vom Auge zerquetscht. Der Lord fing wieder an, aber kälter: »Glaube nicht, daß ich besonders gerührt bin – glaube nicht, daß ich eine Freude begehre, oder einen Schmerz verwünsche – ich lebe nun ohne Hoffnung und sterbe nun ohne Hoffnung.« –
Seine Stimme kam schneidend über Eisfelder her, sein Blick war scharf durch Frost.
Er fuhr fort: »Wenn ich sieben Menschen vielleicht glücklich gemacht habe, so muß auf meinem schwarzen Marmor geschrieben werden: Es ruht... Warum wunderst du dich so? Bist du jetzt schon ruhig?« – Der Vater sah starr auf das weiße Herz, und starrer geradeaus, als wenn eine Gestalt sich aufhöbe aus dem Grabe – das frierende Auge legte und drehte sich auf eine aufdringende Träne – schnell zog er einen Flor von einem Spiegel zurück und sagte: »Blicke hinein, aber umarme mich darauf!«... Viktor starrte in den Spiegel und sah schaudernd ein ewig geliebtes Angesicht darin erscheinen – das Angesicht seines Lehrers Dahore – er bebte wohl zusammen, aber er sah sich doch nicht um und umfaßte den Vater, der ohne Hoffnung war.
»Du zitterst viel zu stark,« (sagte der Lord) »aber frage mich nicht, mein Teurer, warum alles so ist: in gewissen Jahren tut man die alte Brust nicht mehr auf; so voll sie auch sei.«