Jean Paul
Hesperus oder 45 Hundposttage
Jean Paul

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21. Hundposttag

Viktors Krankenbesuche – über töchtervolle Häuser – die zwei Narren – das Karussell

Folgende Anmerkung kömmt nicht aus dem Tornister des Hundes, sondern aus meinem eignen Kopf: man braucht kein Lobredner unserer Zeiten zu sein, um mit Vergnügen zu sehen, daß jetzt Autoren, Fürsten, Weiber und andere die unähnlichen falschen Larven der Tugend (z. B. Bigotterie, Pietismus, zeremonielles Betragen) meistens abgelegt, und dafür den echten geschmackvollen Schein der Tugend gänzlich angenommen haben. Diese Veredelung unserer Charaktermasken, wodurch wir das Äußere der Tugend schöner treffen, ist mit einer ähnlichen des Theaters gleichzeitig, auf dem man nicht mehr wie sonst mit papiernen Kleidern und unechten Tressen, sondern mit echten agiert und tragiert. –

»Sie wurden schon gestern von der Fürstin verlangt«, sagte der Fürst zum Hofmedikus, da er mit seinem ausgeleerten Gesicht kaum eingetreten war. Die Augenentzündung Agnolas hatte durch das Herbstwetter, durch die Nachtfeste, durch Kuhlpeppers tapfere Hand und durch ihre eigne – denn die roten Titelbuchstaben der Schönheit, nämlich geschminkte Wangen, wurden immer neu aufgelegt – sehr zugenommen. Eigentlich war Viktor zu stolz, um sich als einen bloßen Arzt begehren zu lassen; ja er war zu stolz, um an sich etwas anders (und wär's Philosophie oder Schönheit) suchen zu lassen als seinen Charakter; denn sein Vater, der ebenso zartstolz war, hatte ihn gelehrt: man muß keinem dienen, der uns nicht achtet, oder den man selber nicht achtet, ja man muß von keinem eine Gefälligkeit annehmen, dem man nur einen äußerlichen, aber keinen innerlichen Dank zu sagen vermag. Aber dieses zarte Ehrgefühl, das nie mit seinem Eigennutze, wohl aber mit seiner Menschenliebe in ungleiche Treffen kam, konnte ihm seine Hände nicht binden, womit er einer unglücklichen Fürstin – unglücklich, wie er, durch Darben an Liebe – wenigstens die Schmerzen der Augen nehmen konnte; vielleicht auch jüngere Schmerzen: denn seine Gutmütigkeit gab ihm lauter Versöhnungen ein, des Fürsten mit Le Baut, mit der Fürstin, mit dem Minister. Nichts ist gefährlicher, als zwei Menschen auszusöhnen – man müßte denn der eine selber sein; sie zu entzweien, ist viel sicherer und leichter.

Er fand Agnola nachmittags noch im Schlafzimmer, weil dessen grüne Tapeten (zwar nicht dem Gesichte, aber) dem heißen Auge schmeichelten. Ein dichter Schleier über dem Gesichte war ihr Taglichtschirm. Als sie, wie eine Sonne, ihren Schleier aufschlug: so begriff er nicht, wie er in Tostatos Bude aus diesem italienischen Feuer und aus diesen schnellen Hofaugen ein verweintes Blondinengesicht machen können. Ein Teil dieses Feuers gehörte freilich der Krankheit an. Ihr erstes Wort war ein entschlossener Ungehorsam auf sein erstes; indessen stieß sie damit die Herren Pringle und Schmucker so gut vor den Kopf wie ihn; denn das ganze dreieinige collegium medicum riet ihr – Blutigel um die Augen; aber diese ekelten sie. Der Medikus rückte mit Schröpfköpfen am Hinterhaupte heraus; aber ihre Haare waren ihr lieber als ihre Augen. »Muß man denn alles mit Blut erkaufen?« sagte sie mit italienischer Lebhaftigkeit. – »Die Reiche und Religionen solltens nicht werden, aber doch die Gesundheit«, sagt' er englisch frei. Er foderte noch einmal ihr Blut – aber sie gab es ihm erst, da er das Opfermesser änderte und ihr am Auge eine Aderlaß vorschlug. Personen von Stande wissen, wie Gelehrte, oft die gemeinsten Dinge nicht: sie dachte, der Doktor werde die Ader öffnen. Und weil sie es dachte: tat ers auch, mit seiner durchs Starstechen geübten Hand.

Inzwischen ist – wenn (nach dem Plinius) ein Kuß aufs Auge einer auf die Seele ist – eine Aderlaß darauf kein Spaß: sondern man kann, indem man eine Wunde macht, selber eine holen. Der arme Hofmedikus muß mit seinem schwimmenden freundlichen Auge, von dem vor wenigen Tagen die Träne der Liebe abgetrocknet wurde, kühn in die in eine Augenhöhle gesperrte Sonne schauen und noch obendrein sanft mit dem Finger am warmen Gesicht anliegen und aus der Quelle der Tränen helles Blut vorritzen.... Schon eh' man eine solche Operation unternähme, sollte man eine ähnliche an sich vollziehen lassen – der Kühlung wegen. Im Grunde hatte auch ihm das Schicksal diese Woche nichts gegeben als Lanzetten-Schnitte in seine Herzschlagader. Stellet man sich noch vor, daß ihm das ganze weibliche Geschlecht wie eine magische, weit zurückgewichne Gestalt vorkam, die einmal in einem Traume nahe an ihm geschimmert, als ein erblassender Mond am Tage, den er in einer lichten Nacht angebetet hatte: so hat man sich sein gutes schuldloses Herz geöffnet, um darin außer einem großen fortarbeitenden Schmerzen tausend mitleidige Wünsche für die bedauerte Fürstin zu erblicken. Ungeachtet ihrer sonderbaren Mischung von Stolz, Lebhaftigkeit und Feinheit glaubte er doch in ihr eine Änderung zu entdecken, die er halb aus seiner heutigen Beflissenheit, halb aus seinem ihr bisher so günstigen Einfluß auf den Fürsten erklären konnte, und die ihm einen größern Mut gegeben hätte, wenn er sich nicht von dem Zettel über dem Imperator der Kompaß-Uhr mit besondern Auslegungen seines Mutes hätte drohen lassen. Bei dem vorigen ersten Besuche war sein Mut gelähmt, weil er sich als der Sohn eines Vaters, der seinen Einfluß durch die Sorge um natürliche Kinder zu befestigen schien, geflohen glaubte; denn ein Mensch voll Liebe ist neben einem voll Haß stumm und dumm.

Am mutigsten machte ihn heute außer seinen Zänkereien, die unterlagen (als über die Blutigel etc.), noch die letzte, die siegte; man wird mutiger und glücklicher, wenn man einer Stolzen widerspricht, als wenn man ihr schmeichelt. Er sah eine Maske liegen; da er nun wußte, daß in Italien die Damen im Bette diese, wie die unsrigen die Handschuhe, als Gesichtschuhe anlegen: so verbot er ihr die Maske geradezu als Zunder der Augenentzündung. Es war keine Schmeichelei, da er ihr sagte, daß ihr die Maske mehr nehmen als geben könnte. Kurz, er bestand darauf. –

Er war vielleicht zu duldend gegen den Zweifel, den nur eine Frau erträglich und dauerhaft machen konnte, gegen den Zweifel, wen sie miteinander verwechsele, den Hofmedikus oder den Günstling; denn er sagte ihr – obwohl in der Sorge, zuviel zu sagen, welches bei Leuten von seinem Feuer ein Zeichen ist, daß es schon geschehen ist – am Ende das, was er am Anfange zurückbehalten hatte, daß ihn das Teilnehmen (empressement) des Fürsten hergeschickt; und hob diesen auf eigne Kosten empor, um so mehr, da er nichts Außerordentliches weiter von ihm anzubringen hatte als eben, daß er ihn – hergeschickt.

Dann ging er. Bei dem Fürsten ließ er ihr so viel Selig- und so viel Heiligsprechungen (auf dieser Erde zwei Kontrarietäten!) zukommen, als der Anstand und sein Humor (zwei noch größere Kontrarietäten) verstatteten. Sonderbar! sie hatte trotz ihrem Feuer keine Launen. Er wußte, Jenner erlag nicht bloß dem Verleumder, sondern auch dem Lobredner. Man legt den gekrönten Schauspieldirektoren der Erde Entschlüsse ins Herz und Beschlüsse in den Mund; sie wissen, was sie wollen und was sie reden, ein paar Tage später als ihr Throneinbläser. Ein Günstling ist ein Shakespeare und Dichter, der hinter den Personen, die er handeln und reden lässet, nicht selber vorguckt und vorhustet, sondern der ein Bauchredner ist, welcher seiner Stimme den Klang einer fremden gibt.

Da er den andern Tag die Patientin wieder besuchte, waren die Augenhöhlen abgekühlt, obwohl die Augen nicht; Agnola saß heil in einem Kabinett voll Heiligenbilder. Mit der Unpäßlichkeit der Augen war eine Quelle des Gesprächs weggenommen; und ihr Stolz vertrat zugleich seiner Empfindung und Laune den Zugang. Ob er es wohl hundertmal zu ihr in seinem Innern sagte: »Quäle dich nicht, stolze Seele, ich bin kein Günstling, ich will dir nichts nehmen, am wenigsten deinen Stolz oder fremde Liebe – o ich weiß, was es ist, keine zu erlangen«: so blieb er doch (nach seiner Meinung) kalt vor ihr und zog mit der ärgerlichen Aussicht ab, daß ihm seine gute Kur die Wiederkehr abschneide; denn die andern Hofbesuche waren doch keine freimütige Krankenbesuche. Vor der fatalen Kompaß-Uhr erschrak er täglich weniger, außer wenn er eben froher war.

– Manche Leute würden eher ohne Häuser als ohne Bauern leben; Viktor lieber ohne Lebens-Luft als ohne Luftschlösser; er mußte immer das Lotterielos und die Aktie irgendeines Plans in der Zukunft stehen haben, und eine Frau war meistens die Maskopeischwester in diesem Großavanturhandel. Diesmal war er auf die Versöhnung Jenners und Agnolas erpicht. Er schloß so: sie ist auf beiden Seiten leicht – Jenner wird jetzt immer Agnolas Gesellschaft suchen, obwohl bloß aus List, um in die künftige ihrer Hofdame Klotilde mit mehr Anstand zu kommen, die er im Stande ihrer Ehelosigkeit noch ohne Schaden nach seinem Gelübde lieben kann – das wird ihn, da er weder einem langen Lobe, noch einem langen Umgang widerstehen kann, unvermerkt an Agnola gewöhnen – diese, die jetzt verlassen auf der Seite des Ministers Schleunes steht, wird die vereinigte Achtung Viktors und Jenners nicht ausschlagen u. s. w..... Ob ihn aber nur die Schönheit der Handlung, nicht auch die Schönheit der Fürstin zu diesem Mittleramt anmahnet, das kann das 21ste Kapitel noch nicht wissen; meinetwegen sei es indessen: sein verblutet-kaltes Innere, aus welchem noch das Klavier und Klotildens Name und das Morgen-Erwachen blutlose Dolche ziehen, hat ja das Getöse der Welt so nötig und jedes Übertäuben der Wunden!

Mit der Absicht solcher Friedenspräliminarien entschuldigte er seinen künftigen Ungehorsam gegen seinen Vater, der ihm das Schleunessche Haus zu suchen abgeraten; denn da die Fürstin immer hinkam, so wars der schicklichste neutrale Ort zum Friedenkongresse. O! nur ein halbes – –

Extrablatt über töchtervolle Häuser!

Das Haus von Schleunes war ein offner Buchladen, dessen Werke (die Töchter) man da lesen, aber nicht nach Hause nehmen konnte. Obgleich die fünf andern Töchter in fünf Privatbibliotheken als Weiber standen, und eine in der Erde zu Maienthal die Kindereien des Lebens verschlief: so waren doch in diesem Töchter-Handelhaus noch drei Freiexemplare für gute Freunde feil. Der Minister gab bei den Ziehungen aus der Ämter-Lotterie gern seine Töchter zu Prämien für große Gewinste und Treffer her. Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er, wenn nicht Verstand, doch eine Frau. In einem töchterreichen Haus müssen, wie in der Peterskirche, Beichtstühle für alle Völker, für alle Charaktere, für alle Fehler stehen, damit die Töchter als Beichtmütter darin sitzen und von allen absolvieren, bloß die Ehelosigkeit ausgenommen. Ich habe oft als Naturforscher die weisen Anstalten der Natur zur Verbreitung sowohl der Töchter als Kräuter bewundert. »Ists nicht eine weise Einrichtung,« sagt' ich zum naturhistorischen Goeze, »daß die Natur gerade denen Mädchen, die zu ihrem Leben einen reichen mineralischen Brunnen brauchen, etwas Anhäkelndes gibt, womit sie sich an elende Ehe-Finken setzen, die sie an fette Örter tragen? So bemerkt LinnéS. dessen amoen. acad., die Abhandlung von der bewohnten Erde. , wie Sie wissen, daß Samenarten, die nur in fetter Erde fortkommen, Häkchen anhaben, um sich leichter ans Vieh zu hängen, das sie in den Stall und Dünger trägt. Wunderbar streuet die Natur durch den Wind – Vater und Mutter müssen ihn machen – Töchter und Fichtensamen in die urbaren Forstplätze hin. Wer bemerkt nicht die Endabsicht, daß manche Tochter darum von der Natur gewisse Reize in benannten Zahlen hat, damit irgendein Domherr, ein Deutscher Herr, ein Kardinaldiakonus, ein apanagierter Prinz oder ein bloßer Landjunker herkomme und besagte Reizende nehme und als Brautführer oder englischer Brautvater sie schon ganz fertig irgendeinem sonstigen Tropfen übergebe als eine auf den Kauf gemachte Frau? Und finden wir bei den Heidelbeeren eine geringere Vorsorge der Natur? Merket nicht derselbe Linné in derselben Abhandlung an, daß sie in einen nährenden Saft gehüllet sind, damit sie den Fuchs anreizen, sie zu fressen, worauf der Schelm – verdauen kann er die Beeren nicht –, so gut er weiß, ihr Säemann wird?« –

O mein Inneres ist ernsthafter, als ihr meint; die Eltern ärgern mich, die Seelenverkäufer sind; die Töchter dauern mich, die Negersklavinnen werden – ach ists dann ein Wunder, wenn die Töchter, die auf dem westindischen Markte tanzen, lachen, reden, singen mußten, um vom Herrn einer Pflanzung heimgeführt zu werden, wenn diese, sag' ich, ebenso sklavisch behandelt werden, als sie verkauft und eingekauft wurden? Ihr armen Lämmer! – Und doch, ihr seid ebenso arg wie eure Schaf-Mütter und Väter – was soll man mit seinem Enthusiasmus für euer Geschlecht machen, wenn man durch deutsche Städte reiset, wo jeder Reichste oder Vornehmste, und wenn er ein weitläuftiger Anverwandter vom Teufel selbst wäre, auf dreißig Häuser mit dem Finger zeigen und sagen kann: »Ich weiß nicht, soll ich mir aus dem perlfarbenen, oder aus dem nußfarbenen, oder etwan aus dem stahlgrünen Hause eine holen und heiraten: offen stehen die Kaufläden alle«? – Wie, ihr Mädchen, ist denn euer Herz so wenig wert, daß ihr dasselbe wie alte Kleider nach jeder Mode, nach jeder Brust zuschneidet, und wird es denn wie eine sinesische Kugel bald groß, bald winzig, um in eines männlichen Herzens Kugelform und Ehering-Futteral einzupassen? – »Es muß wohl, wenn man nicht sitzen bleiben will, wie die heilige Jungfer da drüben«, antworten mir die, denen ich nicht antworte, weil ich mich mit Verachtung wegwende von ihnen, um der sogenannten heiligen Jungfer zu sagen: »Verlassene, aber Geduldige! Verkannte und Verblühte! Erinnere dich der Zeiten nicht, wo du noch auf bessere hofftest als die jetzigen, und bereue den edeln Stolz deines Herzens nie! Es ist nicht allemal Pflicht, zu heiraten, aber es ist allemal Pflicht, sich nichts zu vergeben, auf Kosten der Ehre nie glücklich zu werden und Ehelosigkeit nicht durch Ehrlosigkeit zu meiden. Unbewunderte, einsame Heldin! in deiner letzten Stunde, wo das ganze Leben und die vorigen Güter und Gerüste des Lebens, in Trümmer zerschlagen, voraus hinunterfallen, in jener Stunde wirst du über dein ausgeleertes Leben hinschauen, es werden zwar keine Kinder, kein Gatte, keine nasse Augen darin stehen, aber in der leeren Dämmerung wird einsam eine große, holde, englischlächelnde, strahlende, göttliche und zu den Göttlichen aufsteigende Gestalt schweben und dir winken, mit ihr aufzusteigen – o steige mit ihr auf, die Gestalt ist deine Tugend.« –

Ende des Extrablattes

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