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Wir hatten von einem Lama reden hören, der seit drei Jahren in einer Höhle im Tal oberhalb der Klosterstadt Linga eingemauert lebte, und obgleich ich wußte, daß ich weder den Mönch noch das Innere seiner schaurigen Wohnung würde sehen dürfen, wollte ich mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen, dorthin zu wallfahrten, um wenigstens einen Blick auf seine Behausung zu werfen.
Am 16. April 1907, dem Tage, an dem ich vor anderthalb Jahren Stockholm verlassen hatte, herrschte trübes, windiges Wetter mit dichtem Schneefall und undurchdringlichen Wolken. Wir ritten nach Linga hinauf, an seinen Reihen prächtiger Tschorten vorbei, ließen die letzten Dormitorien hinter uns zurück, sahen einen alten rot- und weißangestrichenen Baumstamm, passierten einen kleinen Teich mit kristallklarem Quellwasser, der dünn überfroren war, einen Manisteinhaufen mit Fahnenstange und langten dann oben bei dem kleinen Kloster Samde-puk an, das unmittelbar an der Spitze eines Gebirgsausläufers zwischen zwei Nebentälern erbaut ist. Es ist eine Filiale des Klosters Linga und hat nur vier Brüder, die mir am Eingang alle freundlich entgegenkamen.
Sein Inneres und Äußeres ist eine Miniaturausgabe dessen, was wir bisher gesehen haben. Der Dukang hatte nur drei Säulen und einen einzigen Diwan für die vier Mönche, die gemeinsam Gottesdienst halten, neun mittelgroße Gebetzylinder, die mit ledernen Riemen in Drehung versetzt werden, eine Gebetstrommel und einen Gong, zwei Masken mit Diademen von Totenschädeln und eine Reihe Götterstatuen, unter denen ich Tschenresi in vielen Auflagen und Sekija Kongma, den obersten Abt von Sekija, erkannte.
Einige Schritte nach Südwesten geht es über eine Schieferplatte; an deren Fuß lagen zwei Steinhütten mit Gestrüpp und Reisig zum Heizen. In Samde-pu-pe waren zwei kleine Tempel mit Lehmaltären! Der eine enthielt mittelgroße Götterbilder und Meermuscheln vor ihnen glühte Weihrauch auf einer Steinplatte, nicht wie gewöhnlich in Spänen, sondern in Pulverform. Man hatte es in einer dünnen Zickzacklinie hingestreut, zündete es an einem Ende an und ließ es nach dem anderen hinglimmen. Innen war eine Statue des Lovun mit zwei Lichtern davor und ein Wandregal mit Schriften, die Tschöna hießen. Durchsickerndes Regenwasser hatte im Kalkputz weiße senkrechte Rinnen gebildet, unter der Decke flatterten Kadachs und Draperien in der Zugluft. Hier waren die Mäuse noch ungenierter als in dem Gespensterschloß Pesu.
Unmittelbar daneben, am Fuß des Berges, befindet sich die Einsiedelei Dupkang, in der ein Eremit seine Tage und Jahre verlebt. Sie ist über einer Quelle erbaut, die in der Mitte des einzigen Gemaches aufsprudelt, das viereckig ist und fünf Schritt Seitenlänge haben soll. Die Mauern sind sehr dick, solide gebaut und bestehen aus einer festen Masse ohne Fensteröffnungen. Die Türöffnung ist ganz niedrig und die hölzerne Tür davor zugemacht und verschlossen; aber damit nicht genug, man hatte vor der Tür noch eine Mauer aus großen Steinblöcken und kleineren Steinen errichtet und auch die kleinsten Zwischenräume zwischen ihnen sorgfältig mit Kieseln ausgefüllt. Von der Tür war also keine Spur zu sehen. Neben dem Eingang aber befindet sich ein ganz kleiner Tunnel, durch welchen dem Eremiten die Nahrung hineingeschoben wird. Das Tageslicht, das durch die lange schmale Scharte eindringen kann, muß minimal sein; es kommt erst aus zweiter Hand, da die Vorderseite der Hütte von einer Mauer umschlossen wird, die einen kleinen Vorhof bildet, den nur derjenige der vier Mönche, der dem Einsiedler täglich seine Speise bringt, betreten darf. Auf dem flachen Dach erhebt sich auch ein kleiner Schornstein, denn jeden siebenten Tag darf sich der Einsiedler Tee kochen, zu welchem Zweck ihm zweimal im Monat einige Reiser zum Anheizen durch die Scharte geschoben werden. Auch durch diesen Schornstein kann ein schwaches Licht fallen; vermittelst dieser beiden Öffnungen kann sich die Luft in der Krypta erneuern.
»Wie heißt der Lama, der jetzt in der Höhle eingemauert ist?« fragte ich.
»Er hat keinen Namen, und wenn wir ihn auch wüßten, dürften wir ihn doch niemals aussprechen. Wir nennen ihn nur den Lama Rinpotsche.« (Nach Koeppen bedeutet Lama: quo nemo est superior, »einen, der keinen über sich hat«. Und Rinpotsche bedeutet: Kleinod, Juwel, Heiligkeit.)
»Woher ist er gekommen?«
»Er ist in Ngor in Naktsang geboren.«
»Hat er Verwandte?«
»Das wissen wir nicht, und wenn er welche hat, so wissen sie nicht, daß er hier ist.«
»Wie lange lebt er schon in der Dunkelheit?«
»Es sind jetzt drei Jahre, seit er dort eingezogen ist.«
»Und wie lange wird er da bleiben?«
»Bis er stirbt.«
»Darf er vor seinem Tode nie wieder ans Tageslicht kommen?«
»Nein, er hat das strengste aller Gelübde abgelegt, nämlich das heilige Versprechen, die Höhle erst als Leiche wieder zu verlassen.«
»Wie alt mag er sein?«
»Sein Alter wissen wir nicht; aber er sah aus, als sei er ungefähr vierzig.«
»Aber wie ist es denn, wenn er krank wird? Kann er dann nicht Hilfe erhalten?«
»Nein, er darf nie mit einem anderen Menschen sprechen. Wird er krank, so muß er geduldig warten, bis er wieder besser wird – oder er stirbt.«
»Sie erfahren also nie, wie es ihm geht?«
»Vor seinem Tode nicht. Jeden Tag wird eine Schale Tsamba in die Öffnung hineingeschoben und jeden siebenten Tag ein Stück Tee und ein Stück Butter; dies nimmt er sich bei Nacht und setzt die leere Schale wieder hin, damit wir sie zur nächsten Mahlzeit füllen. Doch wenn wir eines Tages die Schale unberührt in der Öffnung finden, dann wissen wir, daß es dem Eingemauerten schlecht geht. Hat er das Tsamba auch den nächsten Tag noch nicht angerührt, so vergrößern sich unsere Befürchtungen. Und wenn sechs Tage vergangen sind, ohne daß er die Speise angerührt, dann halten wir ihn für tot und brechen den Eingang auf.«
»Ist das schon einmal vorgekommen?«
»Ja, vor drei Jahren starb ein Lama, der zwölf Jahre darin zugebracht hatte. Und vor 15 Jahren starb einer, der 40 Jahre in der Zurückgezogenheit gelebt hatte und im Alter von 20 Jahren in die Dunkelheit einging. Der Bombo hat doch in Tong gewiß von dem Lama gehört, der in der Eremitenhöhle des Klosters Lung-gandän-gumpa 69 Jahre lang vollständig von Welt und Licht abgeschlossen gelebt hat?«
»Ist es denn aber nicht möglich, daß der Eingemauerte mit dem Mönch, der die Tsambaschüssel in die Scharte schiebt, sprechen kann? Es ist ja kein Zeuge dabei, der aufpassen könnte, daß alles regelrecht zugeht.«
»Das würde nie geschehen können und geschehen dürfen«, antwortete mein Berichterstatter lächelnd. »Denn der außenstehende Mönch würde sich ewige Verdammnis zuziehen, wenn er seinen Mund der Scharte näherte und mit dem Eingeschlossenen zu reden versuchte; und jener würde die Verzauberung brechen, wenn er aus dem Innern herausspräche. Wenn der da drinnen jetzt sprechen würde, so würden ihm die drei Jahre, die er bereits hinter sich hat, nicht als Verdienst angerechnet werden, und dem setzt er sich nicht aus. Wenn dagegen in Linga oder Samde-puk ein Lama erkrankt, so darf er sein Leiden und daß er der Fürbitte bedarf, auf einen Papierstreifen schreiben und ihn in die Tsambaschale legen, die in die Öffnung geschoben wird. Dann betet der Eingemauerte für den Kranken, und wenn dieser an die Kraft der Gebete glaubt und während der Zeit keine unschicklichen Reden führt, so hilft die Fürbitte des Lama Rinpotsche schon nach zwei Tagen, und der Kranke wird wieder gesund. Der Eingemauerte macht dagegen nie eine schriftliche Mitteilung.«
»Wir sind jetzt ja nur ein paar Schritte von ihm entfernt; hört er denn nicht, was wir miteinander sprechen, oder wenigstens, daß jemand außerhalb seiner Höhle spricht?«
»Nein, der Ton unserer Stimmen vermag nicht bis zu ihm zu dringen, die Mauern sind zu dick; und selbst wenn es der Fall wäre, würde er nicht darauf achten, denn er ist in tiefes Nachdenken versunken; er gehört dieser Welt nicht mehr an, er kauert wahrscheinlich Tag und Nacht in einer Ecke und betet Gebete, die er auswendig weiß, oder er liest in den heiligen Büchern, die er bei sich hat.«
»Dann muß er doch so viel Licht haben, daß er lesen kann?«
»Ja, auf einem Wandregal der Höhle steht vor zwei Götterbildern eine kleine Butterlampe und ihr Licht genügt ihm. Wenn die Lampe erlischt, ist es drinnen stockfinster.«
Von seltsamen Gedanken erfüllt, nahm ich von dem Mönch Abschied und ging langsam den Weg hinab, den der Eingemauerte nur einmal in seinem Leben gewandert war! Vor uns hatten wir die herrliche Aussicht, die seine Augen nie entzücken darf. Und als ich unten im Lager angekommen war, konnte ich nicht das Klostertal hinaufsehen, ohne des Unglücklichen zu denken, der dort oben in seinem dunkeln Loche sitzt.
Arm, namenlos, keinem bekannt, kam er nach Linga, wo, wie er gehört hatte, eine Höhlenwohnung leer stand, und teilte den Mönchen mit, daß er das bindende Gelübde abgelegt habe, auf immer ins Dunkel einzugehen. Als sein letzter Tag in dieser Welt der Eitelkeit angebrochen war, folgten ihm alle Mönche Lingas unter tiefem Schweigen in Prozession, feierlich wie ein Leichenzug, nach seinem Grabe in der Höhle, deren Tür für den Rest seines Lebens verschlossen werden sollte. Ich glaubte den merkwürdigen Zug vor mir zu sehen, die Mönche in ihren roten Kutten, schweigend, mit ernster Miene und vorgebeugtem Oberkörper, zu Boden starrend, langsam Schritt vor Schritt gehend, als wollten sie den Einsiedler sich der Sonne und des Lichtes noch solange als möglich erfreuen lassen. Ob sie wohl von Bewunderung seiner Ungeheuern Seelenstärke ergriffen waren, mit der verglichen mir alles, was ich mir nur denken kann, sogar Gefahren, die unvermeidlich den Tod herbeiführen, unbedeutend erscheint? Denn, soweit ich es beurteilen kann, ist weniger Seelenstärke dazu erforderlich, daß ein Held wie Hirosé Port Arthurs Hafeneinlauf verstopft, wissend, daß die Batterien über ihm ihn vernichten werden, als dazu, sich auf 40 oder auf 60 Jahre lebendig in der Dunkelheit begraben zu lassen! In jenem Fall ist die Qual kurz und der Ruhm unvergänglich, in diesem bleibt das Opfer nach dem Tode ebenso unbekannt wie im Leben, und die Qual ist unendlich und kann nur durch eine Geduld ertragen werden, von der wir uns gar keinen Begriff machen können!
Gewiß geleiteten ihn die Mönche mit derselben Rücksichtnahme und mit demselben Mitleid dorthin, das der Geistliche empfindet, der einen Verbrecher zum Richtplatz begleitet. Was mag er selbst aber während dieser letzten Wanderung auf Erden gedacht haben? Wir alle gehen einmal diesen Weg, wir wissen aber nicht, wann. Er wußte es, und er wußte, daß die Sonne nie wieder warm auf seine Schultern herabscheinen und nie wieder vor seinen Augen Schatten und Lichter hervorrufen würde auf den himmelhohen Bergen, die das seiner wartende Grab umgaben!
Nun sind sie angelangt, und die Tür des Grabes steht weit offen. Sie treten ein, sie breiten in einer Ecke eine von Zeugstreifen geflochtene Matte aus, sie stellen die Götterbilder auf und legen die heiligen Bücher an ihren Platz; in die eine Ecke wird ein Holzgestell gesetzt, das jenen runden Stühlchen gleicht, an denen kleine Kinder das Gehen lernen, und das er nicht eher zu benutzen braucht, als bis der Tod ihn besucht. Sie setzen sich und sprechen Gebete, nicht die gewöhnlichen Totengebete, nein, andere, die vom Leben und dem Licht der Verklärung im Nirwana handeln. Sie erheben sich, sagen ihm noch einmal Lebewohl, gehen hinaus und verschließen hinter sich die Tür. Nun ist er allein und wird nie wieder den Laut einer menschlichen Stimme hören, nur den seiner eigenen; aber wenn er seine Gebete spricht, wird niemand da sein, der ihm zuhört.
Was mag er gedacht haben, als die anderen fortgegangen waren und das kurze, hohle Echo des Geräusches verhallt war, das er gehört hatte, als die Tür zum letztenmal zugeworfen wurde, um erst seiner Leiche wieder geöffnet zu werden? Vielleicht etwas Ähnliches, wie Fröding es in dem Verse ausgesprochen hat:
Hier darf lösen die Seele das letzte Band,
Das sie an Leben und Erde band;
Hier geht der Weg nach dem dämmrigen Land,
Der ewigen Vernichtung Land.
Er hört, wie die Brüder mit Stangen die schweren Steinblöcke nach der Tür hinwälzen, sie in mehreren Reihen aufeinander schichten und alle Lücken mit kleineren Steinen und Scherben ausfüllen. Vollständig dunkel ist es noch nicht, denn die Tür hat Risse und an ihrem oberen Rand erscheint noch das Tageslicht. Aber die Mauer wächst. Schließlich ist oben nur noch eine ganz kleine Öffnung, durch die der letzte Lichtstrahl in das Innere seines Grabes fällt. Gerät er in Verzweiflung, springt er auf, stemmt er die Hände gegen die Tür und versucht er mit den Blicken noch einen Schimmer der Sonne aufzufangen, die seinen Augen im nächsten Augenblick auf immer erlöschen wird? Niemand weiß es, und man wird es nie erfahren; nicht einmal die Mönche, die dabei waren und den Ausgang hatten verrammeln helfen, könnten diese Frage beantworten. Aber auch er ist doch nur ein Mensch, und er sah, wie eine passende Steinfliese auf immer das Loch zudeckte, durch das ein letzter Widerschein des Tages fiel. Und nun hatte er das Dunkel vor sich, und wenn er sich umwandte, stand er einem noch undurchdringlicheren Dunkel gegenüber!
Er vermutet, daß die anderen wieder nach Samde-puk und Linga hinuntergegangen sind. Wie soll er seinen Abend zubringen? Er braucht ja noch nicht gleich mit dem Lesen seiner heiligen Bücher zu beginnen, dazu bleibt ihm noch lange Zeit, vielleicht noch vierzig Jahre! Er setzt sich auf die Matte und lehnt den Kopf gegen die Wand – o Zeit, wie unendlich lang muß ihm schon dieser erste Abend erscheinen! Noch stehen ihm alle Erinnerungen deutlich vor Augen. Er gedenkt der großartigen Aussicht über das Tal mit den Flüssen My-tschu und Bup-tschu, der Tempelfassaden Lingas und der Mauern des Pesu auf seinem Felsen. Er erinnert sich der riesengroßen Schriftzeichen im Quarzit: Om ma-ni pad-me hum, und er murmelt halb im Traume die heiligen Silben: O! du Kleinod im Lotos. Amen! Aber nur ein schwaches Echo antwortet ihm. Er wartet und horcht und lauscht dann den Stimmen seiner Erinnerung, er fragt sich, ob die erste Nacht nicht bald anbreche, aber dunkler, als es schon ist, kann es in seinem Kerker, seinem Grabe, nicht werden. Überwältigt von der seelischen Erregung, schläft er müde und matt in einer Ecke ein.
Wenn er wieder erwacht, verspürt er Hunger, kriecht nach der Öffnung, streckt die Hand aus und findet in der Rinne die Schale mit Tsamba. Wasser liefert ihm die Quelle, er bereitet sich sein Mahl und verzehrt es, und wenn er fertig ist, stellt er die Schale wieder in die Scharte. Nun sitzt er mit gekreuzten Beinen, den Rosenkranz in den Händen und betet. Eines Tages findet er Tee und Butter in der Schale und einige Reiser dabei. Er sucht mit den Händen umher und findet sein Feuerzeug und Zunder und zündet sich ein kleines Feuer unter der Teekanne an. Im Schein der Flamme sieht er das Innere der Höhle wieder, zündet die Lampe vor den Götterbildern an und beginnt dann in den Büchern zu lesen; aber das Feuer erlischt, und erst nach sechs Tagen erhält er wieder Tee.
Und die Tage vergehen, und nun kommt der Herbst mit seinen Regengüssen; er hört sie nicht, aber er glaubt zu merken, daß die Wände der Höhle jetzt feuchter geworden sind als bisher. Es dünkt ihm unendlich lange, daß er die Sonne und das Tageslicht zum letztenmal erblickte. Und die Jahre vergehen, und sein Gedächtnis erschlafft und trübt sich. Er hat die Bücher, die er mitbrachte, immer wieder gelesen, und sie sind ihm längst gleichgültig geworden, er kauert in seiner Ecke und murmelt ihren Inhalt, den er längst auswendig weiß, vor sich hin. Mechanisch läßt er die Kugeln des Rosenkranzes durch die Finger gleiten und unbewußt streckt er die Hand nach der Tsambaschale aus. Kriecht er an den Wänden entlang und tastet er mit der Hand über die kalten Steine, um eine Ritze zu finden, durch die ein Lichtstrahl fallen könnte? Nein, er weiß kaum noch, wie es draußen auf sonnigen Wegen war. Wie langsam die Zeit hingeht! Nur im Schlafe vergißt er sein Dasein und ist von der Grenzenlosigkeit des Jetzt befreit. Und er denkt: »Was bedeutet ein kurzes Erdenleben im Dunkel gegen die Ewigkeit der Ewigkeiten in strahlendem Licht!« Das Verweilen im Dunkel ist nur eine Vorbereitung. Tag und Nacht und lange Jahre hindurch einsam, sucht der grübelnde Mönch die Antwort auf das Rätsel des Lebens und das Rätsel des Todes und glaubt und glaubt, daß er in einer herrlicheren Daseinsform wieder aufleben wird, wenn die Zeit der Prüfung vorüber ist. Der Glaube ist es, durch den allein sich seine unfaßbare Seelenstärke erklären läßt.
Es ist schwer, sich die Verwandlungen auszudenken, die mit dem Lama während weiterer Jahrzehnte im Dunkel der Höhle vorgehen. Seine Sehkraft muß abnehmen, vielleicht sogar ganz erlöschen. Seine Muskeln schwinden, seine Sinne umnachten sich immer mehr. Sehnsucht nach dem Licht scheint ihn nicht wie eine fixe Idee zu verfolgen, denn es würde ihm ja freistehen, auf eines der Blätter seiner Bücher mit einem in Ruß getauchten Span seinen Entschluß aufzuschreiben, daß er die Prüfungszeit abkürzen und wieder ins Licht zurückkehren wolle. Er hat ja nur ein solches Papier in die leere Tsambaschale zu legen. Aber ein solcher Fall war den Mönchen nicht bekannt. Sie wußten nur, daß der Lama, der 69 Jahre eingemauert gewesen war, die Sonne noch hatte sehen wollen, bevor er gestorben war. Ich hatte von Mönchen, die damals in Tong gewesen waren, gehört, daß er seinen Wunsch, hinausgelassen zu werden, aufgeschrieben hatte! Er war ganz zusammengekrümmt und so klein wie ein Kind gewesen, sein Körper hatte eigentlich nur aus hellgrauer, pergamentähnlicher Haut und Knochen bestanden. Seine Augen hatten ihre Farbe verloren und waren ganz hell und erblindet. Das Haar hing ihm in ungekämmten, verfilzten Strähnen um den Kopf und war kreideweiß. Er hatte einen dünnen, ungepflegten Bart und hatte sich die ganze Zeit über nie gewaschen oder die Nägel geschnitten. Sein Leib war nur noch mit einem Lumpen bedeckt, da die Zeit seine Kleidung hatte vermodern und zerfallen lassen und er keine neue erhalten hatte. Von den Mönchen, die ihn vor 69 Jahren nach der Höhle geleitet hatten, war keiner mehr am Leben. Er selbst war damals noch ganz jung gewesen, aber alle seine Altersgenossen hatte der Tod dahingerafft, und neue Mönchsgenerationen waren durch die Klostergänge gewandelt; er war allen vollständig fremd. Und er war kaum in das Sonnenlicht hinausgebracht worden, als er auch schon den Geist aufgab.
Beim Analysieren eines solchen Seelenzustandes hat die Phantasie freien Spielraum. Denn wir wissen darüber nichts. Waddell und Landon, die sich an Younghusbands Expedition nach Lhasa beteiligten und die Eremitenhöhlen bei Nyang-tö-ki-pu besuchten, erzählen, daß die Mönche, die dort auf immer ins Dunkel eingegangen sind, vorher kürzere Isolierungsprüfungen bestanden haben, deren erste sechs Monate, die zweite drei Jahre und 93 Tage dauert, und daß man denjenigen, die die zweite Prüfungszeit schon hinter sich hatten, anmerken konnte, daß sie intellektuell tiefer standen als andere Mönche. Der Fall, den die beiden Engländer beschrieben haben, scheint noch nicht einmal ganz so streng gewesen zu sein, wie der, den ich in Linga sah und hörte, denn in den Nyang-tö-ki-pu-Höhlen klopfte der Lama, der den Eingemauerten bediente, an eine Steinfliese, mit der der kleine Eingang verschlossen gehalten wurde, und auf dieses Zeichen streckte der eingemauerte Lama seine Hand nach der Speise aus dieser Tür; er zog die Steinluke zwar gleich wieder zu, aber er sah doch auf diese Weise täglich wenigstens eine kurze Minute lang das Licht der Sonne! In den Fällen, die Waddell und Landon beschreiben, hatten die Lebendigbegrabenen einige zwanzig Jahre so zugebracht. Waddell, der ein gründlicher Kenner des Lamaismus ist, glaubt, daß der Brauch, sich auf Lebenszeit einmauern zu lassen, nur eine Nachahmung des Gebotes des reinen indischen Buddhismus sei, das periodische Entsagung der Welt fordert und dessen Zweck Selbstprüfung und das Erlangen größerer Klarheit in dunkeln Fragen ist. Seiner Ansicht nach haben die Tibeter das Mittel zum Zweck gemacht.
Ohne Zweifel ist diese Ansicht richtig, aber sie ist nicht erschöpfend. Mag sein, daß der künftige Eremit in religiösem Wahn den Entschluß faßt, sich lebendig begraben zu lassen. Hat er sich aber überhaupt klargemacht, was das bedeutet? Wenn er in der Höhle stumpf und wie ein Tier wird, müssen auch seine Energie und seine Entschlossenheit erschlaffen, und gerade das, was ihm beim Eintreten erstrebenswert schien, muß ihm nach und nach immer gleichgültiger werden. Das ist aber doch nicht der Fall, denn er hält an seinem Entschlusse fest, seine Energie bleibt also ungebeugt. Er muß daher einen felsenfesten Glauben, eine unerschütterliche Überzeugung besitzen, die auf eine um so härtere Probe gestellt werden, als er ganz allein ist, und kein anderer als der Tod ihn in seiner Höhle besucht. Möglicherweise wird er allmählich ein Opfer der Autosuggestion, so daß seine Sehnsucht nach der letzten Stunde in der langen Nacht der Höhle in das Gefühl übergeht, ständig vor dem Augenblick zu stehen, in dem das Stundenglas der Zeit ausgeronnen ist. Der Begriff Zeit muß ihm entschwunden sein, die Dunkelheit des Grabes erscheint ihm nur wie eine Sekunde der Ewigkeit. Denn die Hilfsmittel, die er vorher gehabt hat, um den Lauf der Zeit zu bestimmen und im Gedächtnis zu behalten, existieren nicht mehr. Den Wechsel zwischen Winter und Sommer, Nacht und Tag spürt er nur noch an der steigenden und fallenden Temperatur in der Höhle. Er erinnert sich, daß mehrere Regenzeiten dahingegangen sind, vielleicht scheint es ihm, als ob sie dicht aufeinander folgten, während sich sein Gehirn in der Einförmigkeit der Geduld umnachtet. Es ist unfaßbar, daß er dabei nicht verrückt wird, daß er nicht nach Licht ruft, daß er nicht aufspringt und in wilder Verzweiflung mit dem Kopf gegen die Wand rennt oder ihn sich an den scharfen Steinen der Wände so lange blutig schlägt, bis er verblutet und sich befreit, indem er sich selbst das Leben nimmt.
Er aber wartet geduldig auf den Tod, und der Tod kann noch 10 oder 20 Jahre auf sich warten lassen! Immer schwächer wird die Erinnerung an die Welt und das Leben da draußen; er hat das Morgenlicht im Osten und die goldenen Wolken des Sonnenuntergangs längst vergessen. Und wenn er nach oben starrt, fällt sein erlöschender Blick auf keine in der Nacht funkelnden Sterne, nur auf die schwarze Decke der Höhle. Endlich aber, nachdem lange Jahre im Dunkel verronnen sind, wird es plötzlich strahlend hell um ihn her – dann nämlich, wenn der Tod kommt, ihm die Hand reicht und ihn hinausführt. Und der Tod braucht nicht zu warten, zu bitten und zu locken, der Lama ist es, der auf seinen einzigen, willkommenen Gast und Befreier gewartet und ihn herbeigesehnt hat. Wenn er noch bei klarem Bewußtsein war, hat er noch vorher das kleine Holzgestell unter die Arme genommen, das ihn dann in derselben heiligen Stellung sterben läßt, in der wir Buddha finden auf allen den Tausenden von Statuen und Bildern, die während unserer Wanderung durch Tibets Klostertempel unserem Blick begegneten.
Wenn die Tsambaschale, die so viele Jahre lang täglich gefüllt worden ist, dann endlich unberührt stehen bleibt und die sechs Tage vergangen sind, dann wird die Höhle geöffnet, und der Abt des Klosters setzt sich zu dem Verstorbenen und betet auch seinerseits für ihn, während alle die anderen Mönche fünf oder sechs Tage lang im Dukangsaale beten. Darauf wird der Verewigte in ein weißes Gewand gehüllt, man setzt ihm eine Kopfbedeckung auf, die »Ringa« heißt, und so wird er auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Die Asche wird gesammelt, mit Ton durchknetet und zu einer kleinen Pyramide geformt, die in einem Tschorten beigesetzt wird. –
Die Mönche von Linga sagten, daß ein gewöhnlicher Lama, wenn er gestorben sei, auch zerstückelt und den Vögeln preisgegeben werde. Dies Handwerk üben hier fünf Lamas aus, die zwar zum Kloster gehören, im Dukang dem Gottesdienst beiwohnen und auch mit den anderen Tee trinken dürfen; sie werden aber als unrein angesehen und dürfen nicht mit den übrigen Brüdern zusammen essen. Auch wenn Nomaden in der Gegend gestorben sind, werden sie in Anspruch genommen; dann aber haben die Hinterbliebenen die Verpflichtung, ihnen Pferde zu stellen und dafür einzustehen, daß die Habe des Toten ihnen als Eigentum überliefert wird. –
Tage und Wochen lang konnte ich das Bild, das ich mir vom Lama Rinpotsche gemacht, vor dessen Höhle wir gestanden und gesprochen, nicht wieder loswerden. Und noch weniger konnte ich das seines Vorgängers verjagen, der dort 40 Jahre gelebt hatte. Ich glaubte den Widerhall des Muschelhorns zu hören, das die Mönche zur Totenmesse für den Dahingeschiedenen rief. Ich malte mir das Bild der Höhle aus, wo der Lama, in Lumpen am Boden kauernd, die abgezehrten Hände dem Tode entgegenstreckt, der ihm freundlich lächelnd, wie die Totenschädelmasken in den Tempeln, seine eine Hand reicht, während er in der anderen eine hellstrahlende Lampe hält. Die Züge des Mönches aber verklärt ein Widerschein des Nirwana, und das » Om mani padme hum«, das Jahrzehnte hindurch von den Wänden der Höhle widerhallte, vergessend, stimmt er, wenn vom Klosterdache herab die Trompetenstöße schmettern, ein Siegeslied an, das an eine Strophe aus den Göttersagen eines anderen Volkes erinnert:
Heil euch, ihr Götter!
Walhalls Söhne!
Die Erde verschwindet. Zum Asenfeste
Das Gjallarhorn ruft.
Seligkeit kröne,
Schön wie ein Goldhelm, kommende Gäste!
Druck von F. A. Brockhaus, Leipzig.