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Siebzehntes Kapitel.
Weihnachten in der Wildnis.

Sehr niedergeschlagen, aber äußerlich ruhig stieg ich vom Yak und ging in mein Zelt, als gerade Tsering das Kohlenbecken brachte. Das Zelt erschien mir öder als sonst, das Kohlenbecken erregte in mir ein Gefühl der Müdigkeit, und mir war als merkte ich in diesem Augenblick erst, wie einsam und schwer mein Leben diesen ganzen Winter hindurch gewesen war. Aber Tsering war ebenso selbstbewußt wie immer und kratzte mit seinen Schmiedfingern im Feuer, um einige noch qualmende Dungkohlen zu entfernen.

»Nun siehst du, daß ich doch recht hatte! Wie oft habe ich euch gesagt, daß man uns am Bogtsang-tsangpo Halt gebieten wird«, sagte ich.

»Halt gebieten?« rief Tsering erstaunt aus.

»Ja, jetzt sitzen wir fest! Aber ich gehe keinen Schritt von der Stelle, ehe die Tibeter mich nicht mit einer neuen Karawane versehen haben, selbst wenn der ganze Winter darüber hingehen sollte. Nachher ziehen wir nordostwärts, suchen die mongolische Pilgerstraße und eilen nach Peking. Ich will die Mandarinen zwingen, mich die Teile von Tibet, wo noch kein Europäer gewesen ist, sehen zu lassen!«

»Ich verstehe nicht, was der Sahib meint; bis jetzt hat uns ja noch keiner gehindert, und nach Süden hin liegt das Land offen vor uns.«

»Was sagst du da? Sind sie nicht gerade heute gekommen, um uns am Weiterziehen zu hindern?«

»Nein, im Gegenteil, bei Muhamed Isa sitzen drei Tibeter und sind eitel Höflichkeit und Freundlichkeit.«

»Hat Rabsang mir und dem Babu Sahib (Robert) denn einen Streich gespielt?«

»Ach,« antwortete Tsering lachend, »jetzt verstehe ich die Geschichte! Rabsang war heute morgen bei den oberen Zelten und hat sich dort von einem Tibeter bange machen lassen, der ihm gesagt, man würde uns zwingen, zu bleiben, wo wir sind, weil wir nicht berechtigt seien, durch Naktsang südwärts zu reisen. Aber das waren nur die eigenen Gedanken des Tibeters, und Rabsang, der gleich nachher mit den Yaks nach dem Tale gehen mußte, hat gar nicht gehört, was bei uns wirklich vorgegangen ist.«

»Schön, Tsering, schlachte das fetteste Schaf, das wir haben und lade alle zu dem Schmause ein; ich will Nieren haben, in ihrem eigenen Fett gebraten!«

Jetzt erschien mir das vom Sturm gepeitschte Zelt bequemer als je zuvor, und das Kohlenbecken strömte gemütliche, freundliche Wärme aus! Ich saß noch in Gedanken vertieft und fragte mich, ob dies vielleicht ein gutes Omen sei, da kündigte Muhamed Isa mir den Besuch der drei Tibeter an. Ich bat sie, sich ans Kohlenfeuer zu setzen. Mich an den Vornehmsten wendend, der einen blutroten Pelz mit ziegelroter Fuchspelzmütze trug, fragte ich, wer er sei.

»Ich bin Karma Tamding aus Tang-jung«, antwortete er, und ich wunderte mich, daß er sofort seinen Namen nannte, wovor sie sonst oft Angst haben, weil die Kenntnis des Namens zu Repressalien seitens der Machthaber führen kann.

»Wir sind hier also in der Provinz Tang-jung

»Ja, Bombo Tschimbo, der Paß, den ihr gestern überschritten habt, ist ihre Nordgrenze; nach Westen hin erstreckt sich Tang-jung drei Tagereisen weit, nach Osten auch drei und nach Süden bis an den Dangra-jum-tso.«

»Warum bist du in mein Zelt gekommen, Karma Tamding? Hat ein Höherstehender es dir befohlen?«

»Nein, aber tolle Gerüchte sind hier einige Zeit im Umlauf gewesen. Erst war da ein altes Weib, das wissen wollte, von Norden her kämen zweihundert Leute. Große Räuberbanden aus Naktschu haben die Nomaden im Norden ausgeplündert, und wir hielten es für sicher, daß es die Räuber seien, die nun auch in unser Land kämen. Vorgestern hörten wir nun, daß es nur ein friedlicher Europäer sei, der unseren Leuten allerdings auch Yaks, Schafe, Butter und Milch abnehme, aber stets gut dafür bezahle. Ich bin nun gekommen, um mir unsere Gäste mit eigenen Augen anzusehen, und ich freue mich sehr darüber, statt der Räuberbande euch zu finden.«

»Du hast also nicht gehört, daß irgendein Bote aus Schigatse sich nach uns erkundigte?«

»Nein, kein Wort. Aber gerade heute habe ich gehört, daß ein Eilbote vom Bogtsang-tsangpo nach Schansa-dsong abgeschickt worden ist und daß von dort Eilboten nach Lhasa gehen sollen.«

»Willst du so gefällig sein, uns Yaks zu verkaufen, Karma Tamding?«

»Ja, gern. Ich habe, euch übrigens auch vor fünf Jahren am Bogtsang-tsangpo gesehen. Da wurdet ihr mit einer großen Eskorte und zwei Offizieren über die Grenze geschafft, aber jetzt scheinen die Europäer zum Durchzug durch das Land berechtigt zu sein.«

»Willst du uns Führer besorgen?«

»Gern, aber welchen Weg gedenkt ihr einzuschlagen? Wenn ihr nach dem Dangra-jum-tso gehen wollt, müßt ihr über den Kam-la, der ein Ende weiter aufwärts in diesem Tale liegt. Zieht ihr den Weg am Ngangtse-tso vor, dann müßt ihr nach Osten weiter. Uns ist es einerlei, welchen Weg ihr einschlagt, aber ich muß es genau wissen. Ich reite dann nach meinem Zelt zurück und hole geröstetes Mehl, das ihr kaufen könnt, wenn ich euch in einigen Tagen eingeholt haben werde. Yaks schicke ich morgen früh her.«

Karma Tamding sah mir so zuverlässig aus, daß ich ihm die Hälfte des Kaufgeldes als Vorschuß gab, und am folgenden Morgen kaufte ich drei Yaks zu je 20 Rupien und erhielt einen Wegweiser, der uns über zwei schwer zu überschreitende Pässe ostwärts nach der Gegend Rara führte, und am 16. Dezember über den Pike-la (5169 Meter), eine Schwelle in einem Längstal, das mit dem des Bogtsang-tsangpo parallel läuft.

Durch einen unserer drei Maulesel, der nicht weiterkonnte, wurden wir veranlaßt, das Lager schon früh aufzuschlagen. Auf zitternden Beinen kam das Tier ans Feuer und legte sich nieder. »Sein Tod wird wohl die erste Kunde sein, die ich morgen erhalte«, dachte ich; aber so lange brauchte ich nicht zu warten, denn noch ehe die Sterne zu funkeln begannen, lag er steif und kalt im Rauch des Lagerfeuers. Jetzt waren nur noch zwei der Maulesel aus Poonch übrig!

Nun kam Karma Tamding angeritten in Begleitung von zwölf anderen Tibetern, darunter zwei Frauen. Sie setzten sich um das Feuer und besahen mich; und ich besah sie. Die ältere Frau hatte einen schönen Schafpelz und auf der Stirn einen Schmuck von herabhängenden Korallen und Silbermünzen aus Lhasa. Die jüngere war ebenso angetan und hatte eine großartige Lammfellmütze. Man sah daher nicht viel von ihr, aber das Bißchen, was man sah, war unglaublich schmutzig. Die Männer waren kräftig und ebenmäßig gebaut – man sah es, wenn sie den rechten Ärmel auszogen und die Brust an dem wärmenden Feuer entblößten.

Als wir einander genug angesehen und ich erfahren hatte, daß der kleine, in der Nähe liegende See Tarmartse-tso heiße, kroch die ganze Gesellschaft in Muhamed Isas Zelt, um ihm ihre Eßwaren zum Kauf anzubieten. Dort wurde für ganze 68 Rupien geröstetes Mehl und Gerste erstanden; es war eine Freude zu sehen, mit welchem Appetit unsere zwölf letzten Tiere ihre Gerstenbeutel leerten; sie hatten ja schon so lange mit dem schlechtesten Gras der Wildnis vorlieb nehmen müssen!

Am folgenden Morgen verabschiedeten wir uns von dem redlichen Karma Tamding. »Auf der Grenze von Naktsang trefft ihr einen älteren Mann, der Tschabga Namgjal heißt und ebenso nett ist wie ich«, war das letzte, was er sagte. Wir zogen nun auf unserer langen Winterreise durch Tibet weiter, in demselben bequemen Längstal nach Osten hin, und lagerten in der Gegend Neka, deren ominöser Name (schwedisch: Nein sagen) uns vielleicht hätte verhängnisvoll werden können, wenn der Oberhäuptling von Tang-jung, der hier sein Hauptquartier hat, gerade zu Hause gewesen wäre! Glücklicherweise aber war er vor kurzem mit Weib und Kind zum Neujahrsfest nach Taschi-lunpo gereist und hatte seine großen Yak- und Schafherden der Obhut seiner Diener und seiner Hirten überlassen. Sie verkauften uns Milch und Butter, mißbilligten aber meinen Einfall, die gutmütigen Fische eines in der Nähe liegenden Quellbeckens in ihrem Frieden zu stören. Innerhalb einer Stunde hatte ich 25 Stück auf dem Trocknen, die uns zum Mittagessen herzlich willkommen waren. Robert war schon einige Tage unwohl gewesen und bekam jetzt hohes Fieber, das ihn ans Bett fesselte. Sonam Tsering litt an einer seltsamen Bergkrankheit, infolge deren sein ganzer Körper anschwoll und einen violetten Farbenton annahm. Zwei andere hatten Krämpfe, und der Apothekenkasten stand daher wieder offen. Sonam Tserings Zelt glich einem Lazarett, in dem alle Kranken ein schützendes Dach fanden, sobald sie arbeitsunfähig waren. Nur der alte Guffaru war noch immer gesund, arbeitete für zwei und hatte für sein aus Leh mitgenommenes Leichentuch noch keine Verwendung! Sein großer weißer Bart war vom Rauch der Lagerfeuer gelb geworden, und seine Hände, die im Winter so froren, waren dunkel und hart wie Holz. Um den Invaliden Ruhe zu geben, blieben wir zwei Tage im Lager Nr. 90 liegen. Mein Apfelschimmel aus Jarkent wäre beinahe in einem Quelltümpel ertrunken; zum Glück wurde er vom Lager aus gesehen, und zehn starke Männer zogen ihn wieder aus dem Schlamm. Dann mußte er am Feuer trocknen, wurde massiert und mit Filzdecken umwickelt. Aber seine Tage waren gezählt.

Am 20. Dezember ritten wir in dem mit dem Bogtsang-tsangpo parallellaufenden Längstal weiter und lagerten an der Mündung eines Quertales, das zu dem südlichen Gebirge gehört und Kung-lung heißt. Überall sieht man zugefrorene Quellen – je weiter wir nach Süden gelangen, desto mehr sehen wir das Land vom Monsunregen Nutzen ziehen. Der von Milliarden Mauselöchern durchsiebte Boden gleicht einem schwedischen Brotfladen; die Löcher liegen so dicht nebeneinander, daß für noch mehr kein Raum ist. Die Erdmaus führt hier dieselbe Auflockerungs- und Durchpflügearbeit aus, wie der Regenwurm in unserm Humus; neben jedem Loch liegt ein Häufchen aufgeworfener Erde. Doch der Graswuchs hat davon keinen Nutzen, denn die Erdmäuse leben von den Wurzeln und ruinieren das Gras.

Als wir die Grenze zwischen Tang-jung und Naktsang überschritten hatten und gerade am Quellbach des Kung-lung-Tales Lager schlugen, erschienen plötzlich wieder drei Reiter mit Flinten, die demselben Ziel zueilten, und hinter ihnen ein schwarzer Haufen, wohl Soldaten! Wahrscheinlich wollte man uns gerade im ersten Lager in Naktsang festnehmen! O nein, wieder falscher Alarm! Die uns Begegnenden waren einfache Bauern vom Bogtsang-tsangpo, die in Naktsang gewesen waren, sich dort Tsamba (geröstetes Mehl) und Gerste gegen Salz eingetauscht hatten und sich jetzt wieder auf dem Heimweg befanden. Die Schar bestand aus den Vertretern mehrerer Zeltdörfer, unter welche die Waren verteilt werden sollten. Tsamba und Gerste wurden von Yaks, Pferden und Schafen getragen, und der Proviant schien den Winter über für viele Haushalte ausreichen zu können.

Hier hörte ich zuerst von dem See Schuru-Iso, ahnte aber nicht, daß ich im nächsten Frühling an seinem Ufer lagern sollte! Die Bergkette, die wir im Norden hatten und deren höchsten Gipfel der Berg Keva bildet, ist die Wasserscheide zwischen dem Dagtse-tso und dem Kung-tso, einem See, der weiter östlich sichtbar wurde. Im Süden hatten wir noch immer dieselbe Gebirgskette, die wir zuerst am Dangra-jum-tso gesehen hatten und die sich dann auf der Südseite des Tang-jung-tso hinzieht.

In der Nacht wurde der ewige Westsüdweststurm zum Orkan, der mein Zelt umwarf. Es wurde wieder festgemacht, aber als der Morgen graute, weckte mich ein flintenschußähnlicher Knall, da eins der gestrafften Zelttaue riß und ein zweites seine Eisenspitze aus dem Boden riß, die dann mit hellem Klang gegen die Zeltwand schlug. Ein Regen von Steinen und grobem Sand trommelte auf meiner luftigen Wohnstatt herum, so daß es einer gewissen Entschlossenheit bedurfte, um sich in dieses Wetter hinauszubegeben, das noch schlimmer war als das in Tschang-tang!

»Wie lange wird es noch so weiterstürmen?« fragte ich unseren Führer, als er seine 18 Rupien fröhlich und dankbar einsteckte und uns einem anderen Führer vom Naktsangstamm überantwortete.

»Sechs Monate«, erwiderte er!

Wir zogen jetzt nach Osten, schwenkten allmählich nach Süden ab und umgingen so die Kette, die bisher zu unserer Rechten gelegen hatte. Unterwegs fanden wir Adul in einer Rinne liegen und ich fragte ihn im Vorbeireiten, wie es gehe.

»Ich sterbe«, antwortete er, ohne ein Glied zu rühren. Ich schickte vom Lager aus einen seiner Kameraden und ein Pferd ab, um die Leiche zu holen, aber am nächsten Morgen war er so frisch wie ein Birkhuhn! Vergnügt macht ein solches Wetter den Menschen nicht, aber es nützt ja nichts, über Wind und Wetter zu klagen. Das Pferd schwankt hin und her, als habe es zuviel getrunken. An der Mündung jedes Quertales, an dem man vorüberreitet, kann man auf eine Ohrfeige, die einen aus dem Sattel zu werfen droht, gefaßt sein. Man beugt sich weit gegen den Wind auf die Seite, um dem Pferd beim Bewahren des Gleichgewichtes zu helfen, man kriecht in sich zusammen, um dem Wind eine kleinere Fläche darzubieten, man gleicht einem Segel, das beständig nach dem Wind gestellt werden muß, ja, man muß sich ebenso benehmen, wie das Segel beim Manövrieren eines Bootes bei hohem Seegang. Im Schutz eines Felsens hielten wir eine Weile Rast, um Atem zu schöpfen, und als ich endlich das Lager in Nadsum erreichte, hatte ich ungefähr so viel gelitten, als ich aushalten konnte. Im Nordosten, jenseits der Berge, liegt der Dagtse-tso, den Bower, Dutreuil de Rhins, Littledale und ich besucht haben; auf dem Weg dorthin kommt man an einem See vorüber, der Goang-tso heißt.

Am 22. führte unser Weg nach Süden, wo uns noch eine bedeutende Bergkette die Straße nach dem Ngangtse-tso versperrte. Wir folgten dem Flusse Sertsang-tschu aufwärts; unter seiner dicken Eisdecke brodelte und rieselte noch ein wenig Wasser. Abends erhielten wir Besuch von acht Tibetern, von denen zwei alle ihre Yaks an einer Art Rinderpest verloren hatten. Noch eine Tagereise führte uns weiter aufwärts, und zwar in demselben Tal; in einer Erweiterung, die Tomo-schapko hieß, standen fünf Zelte; an mehreren Stellen sahen wir große Schafherden, deren Hunde ebenso bissig und dreist waren, wie die Nomaden selber. Einige dieser Kerle kamen in unser Lager und führten unhöfliche Reden, sagten sogar, daß wir hier nicht bleiben dürften, sondern uns schleunigst packen müßten! Vom Kaufe von Milch und Butter konnte keine Rede sein. Muhamed Isa jagte sie fort und drohte ihnen mit einer Anzeige bei dem Statthalter von Naktsang. Unser Führer, ein fünfzehnjähriger Junge, hatte aber Furcht bekommen; er ließ sich indes überreden, uns noch einen Tag zu begleiten.

24. Dezember. Als ich erwachte, saß ein alter bettelnder Lama singend vor meinem Zelt. Er hatte ein kleines, runzliges altes Weib bei sich, und ihr leichtes Zelt war ganz in unserer Nähe aufgeschlagen. In der Hand hielt er einen Stab, der mit bunten Lappen behängt und mit Messingplatten, Korallen, Muscheln, Quasten und anderen Zieraten bedeckt war, und unter Gesang in rotierende Bewegung versetzt wurde. Der alte Mann war in seinem Leben viel umhergewandert und hatte sich von Zelt zu Zelt durchgebettelt; aber als ich ihn bat, uns zu begleiten und uns heute abend im Lager das Weihnachtsfest einzusingen, erklärte er, daß er zu müde sei!

Unser Weg führte uns immer höher in demselben Tal hinauf, wo die Quellen und Eisschollen bald aufhörten. Wir kamen an zwei Steinwällen mit Gebetplatten vorüber; der eine von ihnen war sieben Meter lang. An einer Stelle, wo zwei große Täler zusammenstießen, standen zwei Zelte. Die unfreundlichen Männer von gestern waren uns hierher vorausgegangen und hatten die Leute gewarnt, uns etwas zu verkaufen, falls wir darum bitten würden. Zwei der unseren hatten es auch versucht, aber eine abschlägige Antwort erhalten, weshalb Muhamed Isa seine Reitpeitsche kräftig auf dem Rücken der Aufhetzer tanzen ließ. Nun fiel die ganze Gesellschaft mit gefalteten Händen auf die Knie, wurde merkwürdig höflich und holte auf einmal alle Butter und Milch herbei, die vorhanden war.

Unser Tal führte uns jetzt ostwärts und schließlich in südöstlicher Richtung nach einem Paß hinauf, über den keine große Straße gehen konnte, denn auf seiner Höhe war kein Steinmal errichtet. Es stellte sich auch später leider heraus, daß der Jüngling uns falsch geführt und versäumt hatte, in ein südliches Tal, das nach dem Paß Gurtse-la hinaufführte, einzubiegen. Es schadete aber nichts, denn die Aussicht hier oben war großartig, und unter uns hatten wir sogar einen See, der auf Nain Sings Karte fehlt. Das vom Paß hinunterführende Tal ist so tief eingeschnitten, daß man lange auf den Höhen der rechten Seite hinziehen muß. Islam Ahun führte meinen großen Jarkandi-Apfelschimmel, der angegriffen und kraftlos geworden war; er machte nur wenige Schritte hintereinander, graste aber noch. Wir hatten einen langen Marsch gemacht, und das Lager konnte nicht mehr weit entfernt sein; er würde es also wohl noch erreichen; ich streichelte ihn daher bloß im Vorüberreiten, während er die Nase am Boden hielt und Gras abrupfte. Aber als ich ihn seinem Schicksal überließ und weiter ritt, hob er den Kopf, seufzte tief und schwer auf und schaute mir nach! Ich habe es nachher bitterlich bereut, daß ich nicht bei ihm geblieben war. Er hatte mich seit der Abreise aus Leh lange, öde Wege treu getragen, bis sein Rücken aus lauter Wunden bestand; nun sollte er so lange müßig gehen, bis sie geheilt sein würden. Als er so weit war, wurde er zum Lastpferd degradiert, aber als die Yaks unsere Karawane verstärkten, wurde ihm jegliche Dienstleistung erlassen. In letzter Zeit hatten wir überreichlich Gerste für die Tiere gehabt, er hatte sich aber trotzdem nicht wieder erholt. Heute hatte er noch den Paß erklimmen können und war doch wohl noch imstande, auch die letzte kleine Strecke noch zurückzulegen? Aber Islam Ahun traf allein im Lager ein. Das Pferd war auf einem sehr schroffen Abhang gestolpert, war einige Male im Schutt herumgekugelt und dann liegengeblieben. Islam, der strengen Befehl hatte, vorsichtig mit dem Apfelschimmel umzugehen, war stehengeblieben und hatte gewartet. Aber der Schimmel hatte sich nicht mehr bewegt, sondern war in derselben Lage gestorben. Warum hatte ich ihn nicht verstanden, als er mir so deutlich ein letztes Lebewohl zugerufen hatte? Darüber grämte ich mich und konnte den kummervollen Ausdruck seiner Augen, als er mich fortreiten sah, lange nicht vergessen. Der Blick verfolgte mich, wenn es abends dunkel wurde und da draußen in dem kalten, öden Tibet der Wintersturm heulte.

Unten in dem Talzirkus lag der Dumbok-tso und träumte unter seiner Eisdecke, aus der ein kleiner Felsrücken, Tso-ri, der »Seeberg«, aufragte. Droben auf den Höhen badete sich die Landschaft noch in der Sonne. Der Dumbok-tso war die wichtigste Entdeckung des heutigen Tages. Vor den Zelten brannten die Weihnachtsfeuer und erhellten mit gelbem Licht die Umgebung.

Dann wurden die am Tag gemachten Aufzeichnungen ausgearbeitet, und wie gewöhnlich klebte Robert Etiketten auf die gesammelten Gesteinproben. »Das Mittagessen ist fertig«, sagt Tsering, als er frische Kohlen bringt, und so werden denn der Schißlik und die sauere Milch serviert und vor meinem Bett auf die Erde gestellt. Dann bin ich allein mit tausend Erinnerungen von schwedischen Weihnachtsfesten, und die Worte: »Weihnachten ist heut' unter jedem Dache« und »Gefroren ist der klare See, er wartet auf die Frühlingswinde« aus dem Weihnachtslied des Dichters Topelius klingen mir in den Ohren. Die christliche Gemeinde bestand in unserem Lager nur aus Robert und mir, aber wir beschlossen doch, das Weihnachtsfest so zu feiern, daß auch die Heiden ihr Vergnügen daran haben sollten! Seit einiger Zeit hatten wir alle Lichtstümpfe aufgehoben und besaßen nun 41 Stück von verschiedener Länge. In der Mitte meines Zeltes stellten wir eine Kiste auf, auf der wir die Lichter so anbrachten, daß die größten in der Mitte standen und die anderen nach den Ecken hin immer kleiner wurden. Das war unser Weihnachtsbaum! Als alle Lichter angezündet waren, schlugen wir die vorderen Zipfel des Zeltes zurück, und ein Gemurmel des Erstaunens erhob sich unter den Ladakis, die sich inzwischen draußen hatten versammeln müssen. Sie sangen ein Lied in weich an- und abschwellenden Tönen; es ließ mich den Ernst des Augenblicks vergessen; in das flackernde Spiel der Kerzenflammen starrend, lasse ich die langsamen Minuten des heiligen Abends verrinnen. Die schmachtende Weise wird bisweilen durch ein donnerndes »Chavasch« und »Chabbaleh«, in das alle, wie Schakale heulend, einstimmen, unterbrochen. Die Flöten übernehmen die Begleitung, und eine Kasserolle dient als Trommel. Lamaistische Hymnen an einem christlichen Weihnachtsfest unter dem Sternbild des nördlichen Kreuzes! Vom Zelt aus schwach beleuchtet und vom Silberlicht des Mondes überflutet nahmen sich meine Leute phantastisch aus, als sie sich unter dem Lärm der Kasserolle taktfest in den Tänzen ihrer Heimat drehten. Die Tibeter benachbarter Zelte glaubten jedenfalls, daß wir alle verrückt geworden seien, vielleicht aber haben sie auch gedacht, daß wir Beschwörungstänze aufführten und Opferlampen angezündet hätten, um unsere Götter milde zu stimmen. Und was die Wildesel, die am Seeufer weideten, sich dabei dachten, das kann niemand wissen.

Großes Vergnügen bereitete uns unser junger Führer, der sich mitten in die Zelttür setzen mußte. Ohne einen Laut von sich zu geben, starrte er bald die Lichter an, bald mich; er saß wie eine auf der Lauer liegende Katze mit den Vordertatzen auf der Erde und tat nichts weiter, als schauen. Staunenerregende Geschichten wird er seinen Stammverwandten hiervon erzählen können, und durch die Ausschmückungen, die er und die Fama ihnen noch verleihen wird, werden sie sicherlich nicht verlieren! Vielleicht lebt die Erinnerung an unseren Besuch in dieser Gegend fort als Erinnerung an seltsame Feueranbeter, die vor einem mit 41 brennenden Lichtern geschmückten Altar getanzt und gebrüllt haben! Als man den Jungen fragte, wie ihm die Illumination gefalle, erwiderte er nichts. Wir lachten, daß wir uns krümmten, aber das genierte ihn auch nicht, er glotzte weiter mit erstaunten Augen umher. Als er sich am nächsten Morgen wieder etwas besonnen hatte, sagte er Tundup Sonam im Vertrauen, daß er schon mancherlei erlebt habe, aber etwas so Merkwürdiges wie der gestrige Abend sei ihm noch nicht vorgekommen! Er hatte jedoch die Nacht nicht bei uns schlafen wollen, sondern war nach den Zelten seiner Stammesbrüder gegangen. Und am ersten Feiertag bat er um Erlaubnis, nach Hause zurückkehren zu dürfen!

Je tiefer die Lichter herunterbrannten, desto heller funkelten die Sterne des Orion in die Zeltöffnung hinein. Die Ecklichter waren schon lange erloschen, nur in der Mitte flackerten noch ein paar. Nun teilte ich ein kleines Geldgeschenk unter die Leute aus, wobei ich mit Robert und Muhamed Isa begann. Es war das einzige Weihnachtsgeschenk, das es gab. Dann kehrten die Männer nach ihren Feuern zurück, die inzwischen erloschen waren. Nur zwei mußten bleiben, um mir eines der Lieder, worin wiederholt das Wort Taschi-lunpo vorgekommen war, zu erklären. Es war schwieriger, als ich geglaubt hatte, das Lied zu übersetzen. Erstens konnten sie es selber nicht ordentlich, und zweitens wußten sie nicht, was einige der darin vorkommenden Worte bedeuteten. Andere Worte verstanden sie zwar sehr gut, konnten sie aber weder in die Turkisprache noch in das Hindi übertragen. Zuerst schrieben wir die Hymne tibetisch auf, dann übersetzte Robert sie ins Hindi und ich sie ins Turki, und zuletzt kochten wir aus den beiden Übersetzungen eine Geschichte englisch zusammen, die weder Sinn noch Verstand hatte! Doch indem wir das Lied immer wieder zerpflückten und analysierten, kamen wir schließlich dahinter, wovon es handele – es war eine Verherrlichung des Klosters Taschi-lunpo, das ja auch unserer Hoffnungen Ziel war! Gelehrte, welche zufällig etwa die tibetische Urhymne kennen, werden sich, wenn sie sich die Mühe machen, folgende Übersetzung zu lesen, sehr über sie amüsieren. Indessen besitzt sie ganz gewiß das Verdienst, ein Rekord der Licentia poetica zu sein:

Jetzt geht die Sonne strahlend im Osten auf
von den östlichen Landen über den Bergen des Ostens.
Der dritte Monat ist's nun, daß die Sonne
aufgeht, um Fluten der Wärme zu verbreiten.
Zuerst fällt Strahlenglanz nun auf den Tempel,
auf hoher Götter Haus, und liebkost
die goldenen Zinnen Taschi-lunpos,
des ehrenreichen Klostertempels Dach,
und dreifach blank erglänzt die Zinne in der Sonne.
Auf des Tempeltales höchsten Wiesen grasen
zu Tausenden die scheuen Antilopen.
Hart ist sein Boden von Schutt, aber dennoch
ist reich das Tal und grün und schön,
und Gras gedeiht auf seinem kargen Boden,
und Bäche rieseln dort mit kühlen Fluten.
Die höchsten, eisbedeckten Berge glänzen
so wie durchsichtiges Glas. Die vordern Berge
stehn da wie eine hohe Reihe Tschorten,
und dicht an ihrem Fuße schlagen blaue Wellen
des Jum-tso spielend gegen ihren heiligen Strand.
Nehmt Wasser aus dem See und füllet
der heiligen Idole Opferschalen
aus Messing hergestellt! Dann schmückt mit Seidentüchern
von jeder Art und Farbe, die aus Peking kommen,
schmückt auch mit Schleiern hohe goldne Götterbilder,
und hängt die Tempelsäle voll Standarten!
Nehmt Khadaktücher, heilige und teure
von bester Seide aus der Lhasastadt,
und legt sie um die Stirn des Buddhabildes!

So endete mein heiliger Abend in der Wildnis, und während die Glut des Weihnachtsfeuers in der Asche erstarb, las ich die alten Bibeltexte dieses Tages, löschte mein Licht und träumte vom Weihnachtsfest droben im Norden und von Taschi-lunpo drunten im Süden hinter den Bergen, dem Ziel, dem ich unter den Opfern und Entbehrungen eines ganzen, kalten Winters zugestrebt hatte und das mir noch so fern, vielleicht unerreichbar war.


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