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Nach einer Nacht mit 27,2 Grad Kälte brachen wir am 29. Oktober in aller Frühe auf, um so bald wie möglich Wasser für unsere durstigen Tiere zu finden. Ein kleiner See und zwei Quellen, an denen wir vorüberkamen, waren steinhart gefroren; an der einen lag der Schädel eines Yaks, dessen Hals sichtlich mit einem Messer durchschnitten worden war; auch wieder ein paar Feuerstellen sahen wir unterwegs und beim Lager Nr. 50 einen Pfad, den jedoch auch wilde Yaks ausgetreten haben konnten. Wir näherten uns also offenbar anderen Menschen und schauten daher unwillkürlich nach schwarzen Zelten aus.
Am nächsten Tag hatte sich der Sturm verstärkt, und ich mußte meine ganze Willenskraft aufbieten, um die Hände zum Kartenzeichnen gebrauchen zu können. Ich war wie gelähmt und hörte auf klar zu denken. Wir glichen den Erdmäusen, die von einem Loch zum anderen eilen, um Schutz vor Wind und Kälte zu finden.
An einer Quelle angekommen, ließ ich mich matt vom Pferd hinabgleiten und glaubte erfrieren zu müssen, ehe das Feuer angezündet war. Auch Muhamed Isa und vier andere waren krank und konnten nicht beim Aufschlagen der Zelte helfen. Als mein Zelt endlich fertig war, kroch ich hinein und ging mit Kleidern, Stiefeln und allem, was ich um- und anhatte, zu Bett. Während Robert und Tsering mich warm zudeckten, überfiel mich ein arger Schüttelfrost, ich klapperte mit den Zähnen und bekam entsetzliche Kopfschmerzen. Robert, der in Dr. Arthur Neves Schule viel von Krankenpflege gelernt hatte, erwies sich nun als ein trefflicher Arzt und nahm sich meiner in jeder Weise an. Kaum unter Dach, vertiefte er sich schon in das Studium der medizinischen Anweisungen von Burroughs Wellcome. Die » Tabloid Brand Medicine Chest« stand, wie schon so oft, geöffnet in meinem Zelt. Stanley, Emin Pascha, Jackson, Scott und viele andere Reisende haben diese ideale Reiseapotheke ebenso hoch geschätzt wie ich; mein Exemplar, wie schon erwähnt, ein Geschenk der englischen Firma, war mit besonderer Berücksichtigung des tibetischen Klimas zusammengestellt worden.
Abends zehn Uhr entkleideten mich Robert und Tsering. Die Nacht brachte wieder 26,6 Grad Kälte, der Sturm heulte unheimlich. Alle zwei Stunden maß Robert meine Temperatur, die jetzt schon 41,5 Grad zeigte, also hohes Fieber. Er grübelte, wie er mir später erzählte, darüber nach, was er anfangen solle, wenn ich für immer im Lager Nr. 51 bliebe! Schlaf fand ich nicht, aber Robert und Tsering wachten abwechselnd an meinem Bett; die ganze Nacht hindurch wurden glühende Kohlen gebracht, und im Schutz einer Kiste, wo sie vor Zugluft und Wind geschützt war, stand eine brennende Kerze. Ich phantasierte unaufhörlich, und die Männer waren voller Besorgnis, da sie mich noch niemals krank gesehen hatten.
Am nächsten Tag war das Fieber ein wenig heruntergegangen, als Muhamed Isa sich leise ins Zelt schlich, um sich zu erkundigen, wie es dem Sahib gehe. Er erzählte, daß ein verwundeter Yak, den Tundup Sonam aufgespürt hatte, verendet sei und daß sie beim Zerteilen zwei tibetische Kugeln, die der Yak überlebt habe, gefunden hätten. Auch hätten sie wieder an drei Stellen Feuerstätten gesehen, die höchstens zwei Monate alt sein könnten, da die Asche noch zwischen den Steinen gelegen habe. Also seien hier im Herbste Jäger gewesen, und er sei fest überzeugt, daß wir bald auf die ersten Nomaden stoßen würden.
Ringsum war es grabesstill, nur der Sturm heulte und klagte. Keiner im Lager wollte mich stören, bis ich am Abend Befehl gab, die Leute sollten ihre gewöhnlichen Abendlieder am Feuer singen. Ohne Hilfe konnte ich keinen Arm heben, ich lag eine Stunde nach der anderen, die seltsame Beleuchtung im Zelt anstarrend. Von innen wurde es durch das Stearinlicht matt erhellt, von außen durch den gelbroten Schein des Lagerfeuers und das bläuliche Mondlicht. Melancholisch und sehnsuchtsvoll klang der Gesang, und das Heulen des Sturmes bildete die Begleitung.
Auch am 2. November tobte der Sturm weiter, jetzt schon den sechsten Tag! Ich hatte einige Stunden geschlafen, obwohl die Kälte auf 29 Grad gestiegen war. Es ging mir ein wenig besser, aber ich war noch völlig kraftlos. Robert las mir aus einem der Romane, die wir aus Deasys Depot gestohlen hatten, vor; er war sehr betrübt, denn sein Reitpferd war über Nacht gestorben. Und Tsering und Rehim Ali massierten mich asiatisch, damit sich die Kräfte heben sollten. So kam der vierte Abend. Vierundachtzig Stunden war ich schon ans Bett gefesselt; die tibetische Erde schien mich festhalten zu wollen; es sah aus, als sollte es mir nur beschieden sein, aus der Ferne vom »Verbotenen Land« im Süden träumen zu dürfen!
Am 3. November sagte wohl der Gott der Winde zum Weststurm: »Sechs Tage sollst du arbeiten – am siebenten aber sollst du zum Orkan werden!« Staub und Sand regneten durch die dünne Leinwand und bedeckten alles im Zelt. Die Leute, die mit den Tieren an der Quelle gewesen waren, hatten Ringe von Staub um die Augen, und ihre Gesichtsfarbe war aschgrau. Mir selber war zumute wie einem unserer armen, abgetriebenen Gäule, die nicht wissen, ob sie noch das nächste Lager erreichen. Da beschloß ich, mit einigen Leuten und etwas Proviant hier zu bleiben und Robert und Muhamed Isa unbekannte Menschen aufsuchen und mich dann von diesen abholen zu lassen. Doch nein, ich wollte versuchen, mich im Sattel zu halten, denn in diesem elenden Fieberlager wollte ich nicht bleiben. Übereinander legte ich eine ganze Wintergarderobe an: mehrere Beinkleider, mein Lederwams, den Ulster, den Pelz, die Mütze und den Baschlik; es war ein tüchtiges Gewicht, als ich mit schwachen, unsicheren Beinen zu meinem Pferd ging und mich in den Sattel heben ließ …
Wir folgten dem Ufer des kleinen Sees in der Nähe unseres Lagers. Aber schnell fühlte ich, nachdem ich wiederholt beinahe gestürzt wäre, daß mir die Anstrengung doch zu groß sei; wir hielten Rast und zündeten Feuer an. Nachdem ich kurz geruht hatte, ritten wir weiter und freuten uns, als wir endlich hinter einem Hügel die Rauchwolken unserer Karawane aufsteigen sahen, die sich an einer offenen Quelle gelagert und auch dort Feuerstätten vom letzten Sommer gefunden hatte, um die herum Schädel und Hörner von zahmen Schafen lagen. Yakdung war in großer Fülle vorhanden; die Quelle war also einer der Trinkplätze der wilden Yaks. Auch ein Drittel meiner Mannschaft war krank, die meisten hatten Kopfschmerzen und alle fühlten sich angegriffen. Nur Robert war gesund und pflegte uns.
Am 5. November wurden die menschlichen Spuren häufiger. An einer Feuerstelle lag ein Yakgerippe, und die zwischen den Steinen aufgehäufte Asche konnte erst gestern erkaltet sein. Wir stiegen aufwärts über beschwerliche Hügel, von deren Höhe es steil in eine Talrinne hinabging, die dann wieder in ein großes, von feuerroten Anhöhen umgebenes Tal einmündete. In der Nachbarschaft fielen uns eine Menge Gruben auf, die alle einen Sandhaufen neben sich hatten! Der Sand enthielt nämlich Gold, es waren also keine gewöhnlichen Nomaden, sondern Goldsucher wohl allsommerlich hierhergekommen, um nach Gold zu graben.
Im unteren Teil eines Tales sprudelten warme Quellen, deren Temperatur +14 Grad betrug, so daß das Wasser sich ordentlich heiß anfühlte. Einige Meter weiter abwärts bildete es aber schon große Eisfladen.
Im nächsten Tal, einem Hohlweg zwischen schroffen, terrassenförmigen Gehängen, lag ein kolossaler wilder Yak erschossen am Boden, und um ihn herum standen zwölf unserer Leute. Tundup Sonam hatte hier eine ganze Herde, die zum Trinken ins Tal hinabgestiegen war, überrascht. Die anderen Tiere waren in wilder Flucht talaufwärts gestürmt, dieser aber, den eine Kugel getroffen, war auf den Schützen losgerannt, und es war Tundup nur noch im letzten Augenblick gelungen, den Rand einer Terrasse zu erklettern. An deren Fuß blieb der Yak unschlüssig stehen und erhielt einen zweiten Schuß ins Herz.
Ehe er abgezogen wurde, photographierte ich ihn von mehreren Seiten (Abb. 76 und 77). Es war nicht so leicht, ihn dazu aufzurichten, alle Zwölf mußten aus Leibeskräften helfen! Das rabenschwarze Tier stach grell gegen die rote Erde ab; seine langen Seitenfransen dienen ihm im Liegen als Matratze.
76 und 77. Die erlegten Yaks, oben links der Schütze Tundup Sonam.
Der 7. November führte uns am See entlang; rechts hatten wir steile Berge mit unangenehmen Kegeln von scharfkantigem Schutt. Zwei Rudel von neun und fünf der herrlichen Ammonschafe jagten in stolzen, kühnen Sprüngen über die glatten, jähen Felsen. Hasen zeigten sich massenweise, und an mehreren Stellen Murmeltierhöhlen, deren Bewohner noch im Winterschlaf lagen. Zwei tibetische Steinmale zeigten, daß wir uns auf dem rechten Weg befanden, d. h. auf dem, den die Goldgräber benutzen.
Jetzt ließen wir diesen Gebirgsteil rechts liegen und zogen auf die südliche, ausgedehnte und offene Uferebene des Sees hinaus. Dort weidete eine Herde von wohl fünfzig Yaks. Zwanzig Antilopen, die die Karawane wahrscheinlich erschreckt hatte, eilten mit elastischen Sprüngen davon, wie die Schatten der Wolken über den Erdboden hingleiten. Bald traten die Zelte und alle Einzelheiten des Lagers Nr. 56 deutlich hervor, und wir waren nur noch einige Minuten davon entfernt, als selbst diese geringe Entfernung für einen von uns leicht hätte zu weit sein können, wenn das Schicksal es so gewollt hätte!
Denn unmittelbar neben den Zelten zeigte sich, ganz in der Nähe unserer Tiere weidend, ein großer schwarzer Yak. Rehim Ali, der zu Fuß voranging, machte uns auf ihn aufmerksam, aber wir nahmen weiter keine Notiz von ihm. Ich machte meine letzte Peilung auf die Zelte und zeichnete gerade das Terrain auf dem Kartenblatt ein, als ein Schuß aus Muhamed Isas Zelt krachte und der Yak, augenscheinlich getroffen, wie toll nach Norden stürmte. Wir folgten ihm mit den Blicken und erwarteten, daß er zusammenbrechen werde. Aber nein, er machte kehrt und kam in tollem Lauf auf uns los! Rehim Alis Gesicht verzerrte sich vor wahnsinniger Angst, er streckte die Arme gen Himmel und schrie: »Allah, Allah, wir sind verloren!« Der Staub umwirbelte das Untier, seine Seitenfransen wehten und flogen, und es senkte die Hörner zum Angriff. Noch blieb ich ruhig, denn ich glaubte, es habe uns nicht gesehen und werde wieder wenden, aber es behielt die Richtung bei und wurde sichtlich größer. Rehim Ali lief schreiend nach den Zelten zu, kehrte aber plötzlich wieder um und packte, als unsere Pferde vor dem Untier scheuten und galoppierten, Roberts Gaul am Schwanz, in der Hoffnung, uns laufend folgen zu können. Immer schneller ging die wilde Jagd über die Ebene, der Yak veränderte seine Bahn nach und nach in einen Bogen, kam uns immer näher und schien vor Wut toll geworden. Sein Atem stieg wie Dampfwolken aus den Nüstern, das Maul streifte beinahe die Erde – er war bereit, sein Opfer auf die Hörner zu nehmen, in die Luft zu schleudern und dann mit den Vorderfüßen zu Mus zu zerstampfen. Aus immer größerer Nähe hörte ich ihn stöhnen und wie eine Dampfsäge keuchen. Mich im Sattel wendend sah ich ihn nur noch etwa 20 Meter von mir entfernt, seine kleinen, wilden Augen glühten vor Wut und wahnsinnigem Haß, er rollte sie, daß das blutunterlaufene Weiße deutlich hervortrat! Hier war eine Sekunde entscheidend! Ich ritt am weitesten rechts, mich und mein Pferd würde der Yak zuerst auf die Hörner nehmen! – Jetzt streckten die Pferde die Beine wie Bogensehnen. Ich riß meinen roten Baschlik ab und schwenkte ihn rückwärts, um den Yak durch den Anblick aufzuhalten (Abb. 78), aber er sah ihn gar nicht. Dann riß ich den Gürtel ab, um den Pelz auszuziehen und ihn dem Yak über die Augen zu werfen und ihn gerade in dem Augenblick zu blenden, wenn er dem Pferde die Hörner in den Bauch bohren und die Nackenmuskeln zum Todeswurf anspannen wollte. Noch eine Sekunde, und der Yak hob das Pferd empor, brach mir das Rückgrat und trat meinen Brustkorb ein – ich glaubte schon das Knacken und Brechen meiner Rippen zu hören –, da ertönte ein herzzerreißender Verzweiflungsschrei! Als ich mich schnell umdrehte, sah ich Rehim Ali mit erhobenen Armen bewußtlos zu Boden stürzen, den Yak aber wenden und auf Rehim Ali losfahren! Als leblose Masse blieb jener liegen und ich sah noch, wie der Yak die Hörner senkte und, die blauviolette Zunge lang aus dem Maule hängend, sich in einer Staubwolke auf ihn stürzte (Abb. 79). Jetzt gingen alle Pferde durch, wenig fehlte und ich wäre von meinem Ladakischimmel gestürzt. Als ich mich aber nach einer Sekunde wieder umsah, lief der Yak, von einer Staubwolke umgeben, talabwärts!
78 … Ich riß den roten Baschlik ab und schwenkte ihn rückwärts, um den Yak durch den Anblick aufzuhalten.
79. Der wütende Yak stürzt sich auf Rehim Ali.
»Umkehren und sehen ob noch ein Funken von Leben in Nehim Ali ist und ob er noch gerettet werden kann!« rief ich.
»Master, es ist zu gefährlich, der Yak ist noch in der Nähe und kann wiederkommen. Muhamed Isa und all die anderen laufen schon aus dem Lager, um nach Rehim Ali zu sehen.«
Aber ich hatte schon gewendet und ritt zu dem Gefallenen. Mit ausgestreckten Armen lag er tot auf dem Gesicht – Robert und ich glaubten wenigstens, daß er tot sei. Aber als wir bei ihm abgestiegen waren, drehte er langsam den Kopf und machte mit entsetzten Blicken eine Handbewegung, die sagen wolle: »Kümmert euch nicht um mich, ich bin schon mausetot!« Wir konnten ein Lächeln nicht unterdrücken, als wir ihn wie einen Braten wendeten, seine Knochen und Gelenke untersuchten und dabei fanden, daß der Bursche noch in brauchbarem Zustand, wenn auch tüchtig geschunden war. Der Yak hatte ihn innen auf den linken Schenkel getreten, wo ein blutiger Streifen den Eindruck des Hufes zeigte.
Zwei starke Männer trugen den gefallenen Helden nach Muhamed Isas Zelt, wo er von Robert gut gepflegt wurde. Er war noch mehrere Tage wie betäubt, und wir fürchteten schon, daß sein Abenteuer seinem Verstand geschadet habe. Er aß nicht, sprach nicht, mußte auf dem Marsche reiten und einen seiner Landsleute als Krankenpfleger erhalten. Nach einiger Zeit, als er wieder klar im Kopf war, konnte er uns seine Eindrücke mitteilen. Als er gesehen, wie der Yak sich zum Angriff auf mein Pferd angeschickt, hatte er kehrtgemacht und sich flach auf die Erde geworfen. Vielleicht durch den rotvioletten Tschapan, der hin und her flatterte, wütend gemacht, hatte der Yak von mir abgelassen, eine unerwartete Frontänderung vorgenommen und war mit gesenkten Hörnern auf den Gefallenen losgestürmt. Dieser war halb unbewußt schnell beiseite gerückt, und die Hörner waren nun, anstatt in seinen Leib, so dicht neben seinem Kopf in den Boden eingedrungen, daß Rehim Ali den keuchenden Atem des Yaks im Gesicht gefühlt hatte. Dann hatte er das Bewußtsein verloren, das erst wiedergekehrt war, als wir uns näherten, und da hatte er gedacht, der Yak sei wieder über ihm! In dem Glauben, sich selbst durch sein Manöver retten zu können, war er unser Retter geworden. Nach diesen Abenteuern, bei denen er in der letzten Zeit eine Rolle gespielt, hatte er weiterhin vor tibetischen Seen und vor wilden Yaks eine grenzenlose Angst!
Am 8. November -27 Grad in der Nacht! Man sollte denken, daß die Temperatur mit dem fortschreitenden Winter sinken müsse, aber sie blieb die gleiche, was nicht zum wenigsten darauf beruhte, daß wir südwärts zogen. Über einen kleinen Paß erreichten wir nun ein neues Längstal, wo das Land nach Südosten zu offen war. Die Gegend war wildreich; überall kreuzten sich Fährten auf dem Boden, und zwei dreiste Yaks flößten uns größeren Respekt ein als je zuvor! An sechs Stellen sahen wir große Herden von Wildeseln, und Antilopen weideten auf den Ebenen. Ein Maulesel ging uns hier verloren, und wir hatten jetzt von beiden Arten nur noch je sechzehn Tiere.
Noch eine Tagereise führte uns über ebenes Gelände. Über den großen weißen Fleck unbekannten Landes hinweg näherten wir uns Bowers Route in spitzem Winkel, obgleich wir noch ziemlich weit östlich von ihr waren. Ein wilder Yak lief uns über den Weg, und wir fragten uns, ob es wohl unser gestriger Feind sei. Auf dem Platz, wo wir Lager Nr. 58 aufschlugen, fanden wir wieder einige Feuerstätten, die erst ein paar Tage alt sein konnten! Unsere Aufregung und unsere Sehnsucht wurde mit jedem Tag größer, jetzt konnte der äußerste Rand des bewohnten Tibet nicht mehr weit entfernt sein! Als ich von meiner Zelttür aus den Blick über diese ungleichmäßigen roten oder schwarzen, beschneiten oder schneefreien Kämme schweifen ließ, glaubte ich über ihnen ein ganzes Heer von Fragezeichen tanzen zu sehen, einige im Narrengewand, die mich verhöhnten, weil ich mich ohne Eskorte in das Herz des verbotenen Landes gewagt, andere winkend und einladend, aber alle unsicher und forschend. Schritt für Schritt, Tag für Tag näherten wir uns mit schwindenden Kräften der Antwort auf alle diese Fragen. Jeden Augenblick konnte sie am Horizont in Gestalt einer Reiterschar auftauchen, die uns den Befehl des Devaschung, der Regierung in Lhasa, brachte, das Land sofort zu verlassen und uns nach Norden zurückzuziehen.
Ich war noch immer Rekonvaleszent, ging schon um 7 Uhr zu Bett, schlief gut und hatte doch wenig Nutzen davon, denn ich fühlte mich stets entsetzlich matt. Tsering war in Verzweiflung, daß ich seinen Gerichten so wenig Ehre antat. »Wie kann der Sahib wieder kräftig werden, wenn er nicht ißt«, pflegte er mich zu mahnen. Er war ein komischer Kerl, der Tsering, wenn er tagaus, tagein mit seinem Stock in der Hand selbstbewußt und feierlich wie ein Haushahn an der Spitze seiner kleinen Abteilung marschierte.
Spät am Abend hörten wir unheimliches, langgezogenes Wolfsgeheul in der Nähe. Aus dem wilden, klagenden Ton konnte man heraushören, daß der Hunger die Tiere kühner gemacht hatte und der Geruch frischen Fleisches sie reizte. Sie waren auf der anderen Seite unserer Quelle, und dorthin schlich sich Tundup Sonam, um in das Rudel hineinzuschießen und sie dadurch zu verscheuchen, obwohl er bei der Finsternis wenig Aussicht hatte, zu treffen. Die Bestien zogen sich zwar zurück, hatten aber während der Nacht doch eine Hetzjagd auf unsere Tiere veranstaltet, die, als ob es hinter ihnen brenne, nach Norden geflohen waren. Doch fanden die Leute, die ihre Spur verfolgten, sie bei Tagesanbruch eine gute Tagereise von unserem Lager entfernt wieder.
Am 10. November hatten wir wieder gutes Terrain und sahen in Ostsüdost einen See, der in der Mitte tiefblau war, sonst aber einem blendendweißen Ringe glich. In der Nähe des heutigen Lagers, Nr. 59, zeigten sich deutliche Spuren eines Mannes, der fünf zahme Yaks nach dem See getrieben hatte. Die Spuren konnten höchstens drei Tage alt sein und erregten die größte Aufregung in der Karawane! Wir befanden uns entschieden in unmittelbarer Nähe menschlicher Wohnungen, und ich gedachte fast mit Bedauern der beinahe dreimonatigen Zeit, während der wir feindliche Menschenstämme nicht hatten zu fürchten brauchen. Wir hielten Kriegsrat: sollten wir die Berührung mit Menschen noch möglichst lange vermeiden und ihren Zelten aus dem Wege gehen, um wenigstens nicht eher umkehren zu müssen, als bis jedes Vordringen nach Süden unmöglich wurde? Oder sollten wir die ersten Nomaden so schnell wie möglich aufsuchen und sie um Beistand bitten? Gerade in diesem Augenblick kam Tundup Sonam atemlos angelaufen: er hatte auf einer Rekognoszierungstour im Westen ein schwarzes Zelt gesehen! Sogleich schickte ich ihn mit zwei der anderen dorthin und ließ sie eine Handvoll Rupien mitnehmen.
Besonders interessante Aufklärungen brachten sie aber von diesem unseren ersten Zusammentreffen mit Menschen nicht zurück.
In dem Zelt hauste nur eine Frau mit ihren drei Kindern. Sie war aus dem Distrikt Gertse im Südwesten und hatte den Weg von dort in 25 kurzen Tagemärschen zurückgelegt. Vor siebzehn Tagen war sie mit ihren beiden Männern angekommen, beide aber waren vor einigen Tagen wieder nach Gertse zurückgekehrt, nachdem sie ihr das Zelt mit Wildeselfleisch gefüllt hatten. Sie erwartete täglich ihre Eltern, die ihr drei Monate Gesellschaft leisten sollten, während welcher Zeit sie von Wild, Yaks, Kiangs und Antilopen, leben würden. Sie besaß einige zahme Yaks und eine kleine Schafherde, die sie und das älteste der Kinder hüteten und molken. Das Innere des Zeltes war sehr armselig, aber in seiner Mitte brannte doch ein wärmendes Feuer. Ihres Wissens ständen in einem benachbarten Tal noch vier andere Zelte. Als Tundup Sonam erzählt hatte, daß wir eine Ladakigesellschaft seien, die nach den heiligen Orten wallfahre, meinte sie, daß wir uns dazu einen schlechten Weg ausgesucht und besser getan hätten, südlicher, wo es Menschen gebe, zu ziehen. Ihre geographischen Kenntnisse waren beschränkt. Die Gegend, in der wir uns jetzt befanden, nannte sie Gomo-selung. Die Goldfundstellen, an denen wir vorübergekommen waren, lagen im Lande La-schung, und den See am Lager Nr. 55 nannte sie La-schung-tso. Meine Diener, die früher in Westtibet gewesen waren, hielten diese Angaben für zuverlässig, da sie die Namen schon gehört hatten.
Nun war also das Eis gebrochen! Nach 79 Tagen völliger Trennung von der Außenwelt hatten wenigstens einige meiner Leute Menschen gesehen. Aber dieser einsamen Frau, dieser Tochter der Wildnis, dieser echten » lady of the mountains« mußten sehr bald mehr Stammverwandte folgen. Und wieder berieten wir über die Maßregeln, die ergriffen werden müßten. Die Frau wohnte allein, durch sie konnte sich keine Kunde von unserem Herannahen nach Süden hin verbreiten. Einstweilen konnten wir die Sache also noch ebenso ruhig mit ansehen wie bisher, und erst dann, wenn wir auf allen Seiten von Nomaden, unter denen ein Gerücht sich schnell fortpflanzt, umgeben sein würden, mußten wir an Beschleunigung unserer Märsche denken.
Zunächst gönnten wir den Tieren einen Ruhetag, denn die Weide war gut. Und schön war es, diesen Tag hinter der Zeltleinwand zu verbringen. Der Sturm pfiff und heulte im Gras und um die Steine. Alles Lose und Leichte wurde fortgeweht, und der Boden sah nachher wie abgefegt aus. Der Himmel ist wolkenlos und klar, die wilde Jagd findet nur unmittelbar am Erdboden statt, und man begreift so die wichtige Rolle, die der Wind bei der Deformation der Erdoberfläche spielt; bei jedem solchen Sturm verändern ungeheuere Massen festen Materials ihren Platz.
Mit einem Schlage hörte der Sturm aber nachts auf, und es wurde so plötzlich still, daß ich davon erwachte. Es war, als hätten wir an einem Wasserfall gelagert, der mit einemmal aufgehört zu rauschen. Man fährt zusammen und fragt sich, was geschehen ist, gewöhnt sich aber bald an die Stille und empfindet das Fehlen des Sausens und der Zugluft als eine Erholung.