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Mit einem Gefühl des Behagens verließen wir Lagerplatz Nr. 9 (4929 Meter), denn soweit der Blick reichte, war das Gelände völlig eben; seine Erhebung vom Seeufer an war jedenfalls so unbedeutend, daß man sie ohne Instrumente gar nicht wahrnehmen konnte. Die Luft war trüb; das reine Blau des Sees, ein Widerschein des Himmels, war ganz verschwunden, und er zeigte sich jetzt in einer düsteren, grauen Färbung. Eines der gemieteten Pferde wurde im Lager zurückgelassen; sein Besitzer hoffte, es später noch retten zu können, aber darin täuschte er sowohl sich wie das Pferd, denn er begab sich auf einem anderen Wege heim, und das verlassene Tier war also unbarmherzig der Einsamkeit und den Wölfen preisgegeben.
Wir ritten lange auf altem Seegrund und vollkommen ebenen Flächen von Tonschlamm. Nachher ward der Boden feinkiesig und hart, als habe ihn das Gewicht einer Chausseewalze festgepreßt. Nur in einem abflußlosen Becken können derartige ebenen Flächen zwischen gewaltigen Bergen entstehen. Verwitterung, Niederschläge, fließendes Wasser, Wetter und Winde arbeiten gemeinsam an der Nivellierung des Landes; alle Höhen und Kämme werden dadurch niedriger, alle Vertiefungen durch Schlamm, Sand und Schutt ausgefüllt. Fern im Osten ist das Land ganz offen. Hier hätten auf indischen Elefanten reitende Riesen Raum genug zu einer Polopartie in großem Stile, und die schnellfüßigen Dschambasdromedare könnten sich hier müde laufen! Denn nicht einmal der rastlose Westwind findet hier ein Hindernis auf seinem Weg. Antilopen und Kulane zeigten sich in scheuen Herden. Von Menschen keine Spur. Bloß gestern sahen einige der Männer drei Steine, die wie zu einem Herde aufgestellt waren; vielleicht rührten sie noch von Crosbys Expedition (1903) her, denn auch er zog vom Aksai-tschin-See aus ostwärts nach dem Lake Lighten.
Im Norden, auf der linken Seite unseres Weges, konnte man im Gebirge drei Etagen oder Kämme wahrnehmen; uns zunächst eine Reihe kleiner dunkelgrüner Hügel; weiterhin eine fortlaufende Kette ohne Schnee, und ganz hinten den Hauptkamm mit einer Reihe von Schneegipfeln. Im Süden war unser Längstal von Bergen begrenzt, deren Höhe nach Osten hin zunahm. Beim Lager Nr. 10 fanden wir alles, was wir brauchten, nur war das Wasser ein wenig salzhaltig. Das Glück war unser Begleiter, und wir hatten ohne unser Verdienst eine Gegend erreicht, die viel freundlicher war, als ich zu hoffen gewagt hatte.
In der Nähe des Lagers waren wir über einen stillstehenden Flußarm gegangen, und am 12. September überschritten wir mehrere. Es stellte sich bald heraus, daß ein mächtiges, aber wenig wasserreiches Flußbett nach dem See hinging, und wir spürten seine Nähe den ganzen Tag hindurch. Die Landschaft war einförmig und veränderte während der ganzen Tagereise kaum ihr Aussehen. Aber das Terrain war im höchsten Grade günstig, und wenn es noch länger so blieb, konnte es uns auf dem Weg zum Herzen des verbotenen Landes ein gutes Stück weiter helfen. Das Gras trat jetzt auch in größeren Mengen auf, als wir es bisher gesehen hatten. Es gedieh am besten da, wo der Boden sandhaltig war. Es wuchs in kleinen Büscheln, die nur in der Mitte grün und saftig waren, denn das andere war durch den Nachtfrost gelb und hart geworden. Der Westwind, der den ganzen Tag über Tibet hinstrich, rief einen angenehm prasselnden, sausenden Ton im Grase hervor. Eine richtige Prärie hier oben in Nordtibet, wer hätte das ahnen können! Bis an den Rand des Horizonts war der Boden intensiv strohgelb, und über uns wölbte sich trotz des Windes ein klarer blauer Himmel; mir war, als umhülle eine Riesenfahne in den Farben meines Heimatlandes Himmel und Erde. Im Norden und Süden erhoben sich dunkelviolette, graugelbe, rote und weißhäuptige Berge.
Das Terrain war so eben, daß die Karawane, obwohl sie eine Stunde Vorsprung hatte, beständig wie eine kleine schwarze kurze Linie an der höchsten Stelle des Horizonts sichtbar war, ohne jemals auch nur durch die geringste Bodenerhebung verdeckt zu werden. Infolge der Luftspiegelung schien sie ein wenig über dem Erdboden zu schweben, und die Tiere sahen wie Phantastisch langbeinige Kamele aus.
An einer Stelle, wo das Gras besonders gut war, hatte die gemietete Karawanenabteilung haltgemacht; sie hatte noch ein Pferd verloren und wollte versuchen, ein paar andere Todeskandidaten zu retten. Die Lasten lagen am Boden umhergestreut, die Tiere grasten munter, und die Männer saßen am Feuer, hatten dem Wind den Rücken zugekehrt und rauchten abwechselnd eine gemeinschaftliche Pfeife.
Stellenweise war der Boden weiß von Salz, an anderen Stellen fand sich eine dünne Schicht von grobem Quarzsand mit Anlage zur Dünenbildung. Die Karawane hatte sich gelagert, und kleine, zerstreute schwarze Punkte verrieten uns, daß die Tiere auf der Weide waren. Ein paar Punkte aber, die sich weit von den anderen entfernten, waren Reiter, die nach Wasser suchten. Leicht war es nicht, die Zelte aufzuschlagen; alle Mann mußten sie mit ihrer ganzen Kraft festhalten, damit sie nicht fortgeweht oder in Fetzen gerissen wurden, und dabei schlug ihnen der grobe Flugsand ins Gesicht. Wir waren froh, endlich unter Dach zu kommen, aber auch dort zog und pfiff es durch alle Spalten und Löcher, und die kleinen Hunde waren sehr übler Laune. Einen Vorteil hat ein solcher Weststurm aber doch, er erleichtert den Marsch und schiebt von hinten nach; man braucht nur zu wenden und versuchsweise gegen den Sturm anzureiten, um den Unterschied zu merken.
Der 13. fing schlimm an, denn über Nacht waren neun Pferde ausgekniffen, und Muhamed Isa war mit einigen Ladakis auf der Suche nach ihnen. Unterdessen warteten wir in vollständigem Schneesturm. Manuel war in einem sehr lebhaften Wortwechsel mit Ganpat Sing begriffen; es handelte sich dabei um ein Paar Strümpfe, die letzterer unserem Koch in Leh abgekauft hatte. Nun aber merkte Manuel, daß er sie selber gebrauchen konnte, und redete so lange auf Ganpat Sing ein, bis er den Kauf rückgängig gemacht hatte. Manuel machte mir und Robert mit seinem gebrochenen Englisch manchen Spaß. Wenn es schneite, sagte er »der Tau fällt«, wenn es stürmte, »heute scheint eine Brise in der Luft zu sein«, und als wir den See verließen, fragte er, wann wir an den nächsten »Weiher« kommen würden. Er hielt den Aksai-tschin-See wohl im Vergleich mit dem unendlichen Ozean vor Madras für einen jämmerlichen Pfuhl.
Nachdem fünf der verlorenen Pferde wieder eingefangen waren, brach ich auf der Spur der Esel auf. Das Terrain stieg ebenso langsam an wie bisher, von den Bergen sah man im Schneetreiben nichts; wir hätten uns ebensogut auf den Ebenen der Mongolei oder in der Kirgisensteppe befinden können. Das heutige Lager wurde an einer Quelle aufgeschlagen, am Fuß des auf der nördlichen Talseite liegenden Gebirges, wo gutes Weideland war. In Ermangelung eines Zeltes waren wir in Sonam Tserings kleiner runder Festungsmauer von Proviantsäcken, in deren Mitte ein Feuer loderte, zu Gast und fanden dort Schutz vor dem Winde (Abb. 71). Gegend Abend ließ Muhamed Isa melden, noch ein Pferd habe sich gefunden, es sei aber unmöglich, die andern in diesem Schneetreiben zu suchen und er bitte um Pelze und Proviant aus dem Hauptlager. Indessen gelang es dem Mann, der den wenig beneidenswerten Auftrag erhielt, mit diesen Sachen in Dunkelheit und Schneetreiben nach dem Lager Nr. 11 zurückzugehen, nicht, den Karawan-baschi und seine Begleiter zu finden, und diese mußten infolgedessen die Nacht im Freien, im Frost und ohne Speise und Trank zubringen. Sie waren daher recht mitgenommen, als sie am folgenden Tag mit allen durchgebrannten Pferden wieder zu uns stießen. Ich hielt meinen Nachtwächtern nun eine Strafpredigt und erklärte ihnen energisch, daß dies nicht wieder vorkommen dürfe, da die Tiere dadurch ermüdet und den Angriffen der Wölfe ausgesetzt würden, der Marsch aber verzögert werde. Tatsächlich war es jedoch wunderbar, daß wir erst einen Maulesel und zwei Pferde eingebüßt hatten.
71. Schutzmauer von Proviantsäcken.
Und nun ging es nach Osten weiter, immer noch in demselben gewaltigen Längstal. Der Fluß wurde immer wasserreicher, je höher wir kamen, denn weiter unten ging das Wasser durch Verdunstung und Einsickern in den Boden verloren.
Auf unserer rechten Seite dauerte das rote Konglomerat und der Sandstein fort, zur Linken hatten wir grünen Schiefer. Mitten in dem sterilen Tal passierten wir eine kleine ringförmige Grasoase, die einer Koralleninsel im Ozean glich. Der heutige Sturm brachte uns Regen und Schloßenwetter; um die Mittagszeit goß es, und das Thermometer zeigte +3,9 Grad. Alles war unbehaglich naß und schmutzig, als wir lagerten, und das feuchte Brennmaterial wollte gar nicht Feuer fangen. Nun aber fing es an zu schneien, und am späten Abend war das Land wieder winterlich weiß. Vergeblich hatten wir gehofft, über die Schwelle hinüberzukommen, von der man den Lake Lighten würde sehen können. Nach Wellbys Karte konnte er nur noch ein paar Tagereisen entfernt liegen, aber unter günstigen Verhältnissen mußte man den See schon aus weiter Ferne erblicken können.
Eisiger Ostwind herrschte am Tag darauf. Es wurde kalt und rauh, als er über die nachtkalten Schneefelder hinfuhr, und das scheußliche Wetter war nicht nur körperlich unbehaglich, sondern wirkte auch geistig niederdrückend, so daß man schlaff im Sattel hing, schläfrig und gleichgültig war und sich nach seinem abendlichen Kohlenbecken sehnte. Die Antilopen waren dreister als gewöhnlich; um diese Jahreszeit sind sie dick und fett. Wir ritten an einem Pferd vorbei, das in der Karawanenspur gestürzt und gestorben war, ohne daß man ihm hätte helfen können. Es lag mit weit geöffneten Augen da, als spähe es nach einem Land im Osten aus, und war noch ganz warm. Der Packsattel hatte sich nützlich erwiesen, denn Muhamed Isa war so fürsorglich gewesen, alle Sättel mit saftigem Heu füllen zu lassen, das man später noch brauchen konnte. Die Tiere konnten infolgedessen nach und nach ihre eigenen Packsättel verzehren. Im Lager wurden zwei Schafe geschlachtet, die nicht nach längerer Widerstandsfähigkeit aussahen.
Am Morgen lag wieder ein sterbendes Pferd zwischen den Zelten. Ein Wolf saß in einem Nebental und war Zeuge unseres Abmarsches, er wartete auf seine schöne Mahlzeit; aber die Freude, das Pferd umzubringen, sollte er doch nicht haben, da wir seinem Leben mit einem Messer vorher ein Ende machten. Wir waren jetzt in die kritische Zeit eingetreten, daß kaum ein Tag verging, wo wir nicht eines oder mehrere unserer Tiere verloren.
Noch immer stiegen wir langsam nach Osten. Im Vertrauen auf Wellbys Karte hatte ich den Leuten versprochen, daß sie heute einen großen See erblicken würden. Wir gingen eine Schwelle hinauf, sahen uns aber enttäuscht; von ihrer höchsten Stelle aus erschien nur eine zweite, die alle Aussicht verbarrikadierte, und als wir uns endlich auf diese hinaufgearbeitet hatten, zeigte sich vor uns eine dritte. Jetzt aber sollte unsere Hoffnung nicht länger trügen. In Ostsüdosten zeigte sich zwischen den nächsten Hügeln eingeklemmt, ein Teil des Lake Lighten. An seinem Südufer, an dem Wellby 1896 entlanggezogen war, erhob sich mit bizarren, unregelmäßigen Spitzen und Gruppen die Fortsetzung der roten Schneekette, die wir schon mehrere Tage lang gesehen hatten und die jetzt, bei dem herrlichen Wetter, in ihrer ganzen wilden Pracht hervortrat. Sechs Tage lang waren wir nach dem ersehnten Paß hinaufgestiegen und fanden ihn endlich unmittelbar über dem See. Seine Höhe betrug 5273 Meter!
Jetzt waren viele der Pferde schon so erschöpft, daß wir um jeden Preis gute Weide finden und die Tiere einige Tage ausruhen lassen mußten. Das Lager Nr. 15 wurde am Strande aufgeschlagen; es hatte die Aussicht über den ganzen See (Abb. 55). Im Süden erhob sich die eigentümliche Kette in gelbroten und feuerroten, rosenroten und hellbraunen Schattierungen und zeigte zwischen weichen, glänzenden, blauschimmernden Schneefeldern phantastische, schroffe Felsspitzen.
55. Lager Nr. 15 auf dem Westufer des Lake Lighten.
Lager 15 sollte ein wichtiger Wendepunkt meines kühnen Einfalles in das verbotene Land werden. Kaum waren wir in Ordnung, als die letzten acht der gemieteten Tankseleute sich in Begleitung Muhamed Isas vor meinem Zelte einfanden, nach Ladakisitte auf die Knie fielen, mit der Stirn den Boden berührten und dann regungslos wie Götzenbilder dasaßen, während ihr Führer und Vormann das Wort ergriff:
»Sahib, uns sind noch 19 Pferde geblieben; acht davon sind noch stark, aber die übrigen werden es nicht mehr lange machen. O, Sahib, laß uns nach Hause zurückkehren, ehe der Winter kommt und unsere Tiere tötet.«
»Es war abgemacht, daß ihr uns bis an den Jeschil-köl begleiten solltet; wollt ihr euer Wort brechen?«
»Sahib, wir wissen, daß wir in euren Händen sind und von eurer Gnade abhängen; unser Proviant reicht nicht mehr zehn Tage; gehen wir bis zum Jeschil-köl mit, dann werden wir alle auf dem Heimweg sterben. O, Sahib, habt Erbarmen mit uns und laßt uns nach Hause gehen.«
»Nun gut, wenn ich euch nun gehen lasse, welchen Weg werdet ihr dann einschlagen?«
»Sahib, wir wollen über die Berge hier im Süden gehen, am Arport-tso vorbei nach dem Lanek-la, den wir in zehn Tagen erreichen können.«
»Findet ihr den Weg auch und seid ihr sicher, daß euer Proviantvorrat ausreicht?«
»Ja, Herr.«
»Dann macht euch fertig!« Mich an Muhamed Isa wendend, fuhr ich fort: »Manuel und die beiden Radschputen können das Klima nicht vertragen, es wird das beste sein, sie ebenfalls zu entlassen, ehe die Winterkälte kommt.«
Muhamed Isa war Diplomat und versuchte seine Befriedigung zu verbergen, als er antwortete: »Ja, wenn wir sie im Winter mit landeinwärts nehmen, erfrieren sie uns. Schon jetzt kriechen sie am Lagerfeuer wie Murmeltiere zusammen und trotzdem klappern sie mit den Zähnen und zittern vor Frost in ihren Pelzen.«
»Wir können sie leicht entbehren.«
»Bisher haben sie noch nicht mehr geleistet als die Hündchen, eher noch weniger, denn sie sind entweder zu faul oder zu vornehm, um sich für ihr eigenes Feuer Brennstoff zu sammeln; zwei unserer Ladakis müssen sie und ihre Pferde bedienen. Es wäre ein großer Gewinn, wenn wir sie los würden.«
»Lassen wir sie gehen, so kommen uns auch ihre Pferde zugute, denn ich kann ihnen ja einige der abziehenden Tanksepferde mieten, die ihnen dann während der Reise nach Ladak zur Verfügung stehen.«
»Ja, Herr, sie haben drei Pferde zum Reiten und benutzen außerdem noch zwei für ihr Gepäck. Wir verlieren nun die Tanksepferde, von denen einige allerdings nur Brennmaterial getragen haben, aber unser Gepäck vergrößert sich trotzdem durch ihren Fortgang um fünfzehn neue Lasten für unsere eigenen Tiere. Daher sind die Pferde der schwarzen Männer für uns eine höchst notwendige Zugabe.«
Am folgenden Tag wurden die Platten und Gesteinproben, die nach Srinagar geschickt werden konnten, eingepackt, und ich schrieb Briefe nach Haus und an Freunde in Indien. Ich bat den Oberst Dunlop Smith, mir mit Erlaubnis des Vizekönigs Ende Oktober alle Briefe, die bis dahin für mich angelangt seien, in die Gegend des Dangra-jumtso nachzuschicken. Sie müßten über Giangtse und Schigatse geschickt werden; der Taschi-Lama, der neulich so gut in Indien aufgenommen worden sei, werde gewiß mit Vergnügen dafür sorgen, daß mir die Posttasche zugestellt werde. Ich dachte mir, daß, wenn mir auch im Innern von Tibet die Weiterreise verboten werde, man mir doch nicht meine Post verweigern könne – im äußersten Notfall konnte ich ja meinerseits die Beförderung der Posttasche zur Bedingung für die Annahme ihrer eigenen Forderungen machen. Ich bat also, ein Postbote möge den Auftrag erhalten, sich Ende November am Dangra-jum-tso einzufinden und dort unsere Ankunft zu erwarten.
Am Morgen des 17. Septembers lagen drei meiner eigenen Pferde tot zwischen den Zelten. In der folgenden Nacht starb das große scheckige Jarkentpferd, das mein Boot getragen hatte (Abb. 75). Als am 19. die Sonne aufging, hatten sich noch zwei Opfer den voraufgegangenen zugesellt und lagen, Beine und Hals von sich gestreckt und, nach einer Nachtkälte von -18,4 Grad, steinhart gefroren da! Ich ließ Muhamed Isa rufen.
75. Das große scheckige Jarkentpferd.
»Wieviel Tiere haben wir noch?«
»Wir haben 83; 48 Pferde und 35 Maulesel; 10 Pferde und ein Maulesel sind gestorben.«
»Es wäre schlimm, wenn dies Sterben im Tempo der letzten drei Tage fortdauern sollte!«
»Das glaube ich nicht, Sahib, die schwächsten sind krepiert, die stärksten haben wir behalten.«
»Aber sechs Pferde sind hier gefallen, das bedeutet für die Überlebenden sechs Lasten mehr, außer den 15 von den Tanksepferden!«
»Die sechs gefallenen sind während der letzten Tage gar nicht beladen gewesen.«
»Aber die Lasten werden jetzt auf alle Fälle zu schwer.«
»Seit wir hier lagerten, habe ich den Tieren doppelte Mais- und Gersterationen geben lassen, teils um sie zu kräftigen, teils um die Lasten zu erleichtern. Die ersten Tage, von hier gerechnet, müssen wir kurze Märsche machen und lieber die Tiere tüchtig fressen lassen, als einen einzigen Sack Gerste fortwerfen.«
»Gut. Wir haben 510 englische Meilen nach dem Dangra-jum-tso, das macht bei 10 Meilen täglich 51 Tagesmärsche. Kommen noch 15 Ruhetage hinzu, so müssen wir am 25. November oder in zwei Monaten und sechs Tagen an jenem See anlangen. Die Maulesel scheinen mir widerstandsfähiger zu sein als die Pferde; wir müssen suchen, wenigstens eine Stammtruppe starker Maulesel zu retten; später wird sich schon irgendwie Rat finden, wenn wir die ersten Nomaden getroffen haben.«
»O ja, im allerschlimmsten Fall können unsere Ladakis das Notwendigste tragen und wir alle zu Fuß gehen.«
»Ja, Muhamed Isa, denke daran, daß ich keinesfalls umkehre, wenn ich nicht durch Übermacht dazu gezwungen werde!«
»Nein, das weiß ich; es wird schon alles gut gehen.«
Vier Pferdelasten Mais und Gerste waren in diesem Lager verzehrt worden; von nun an sollte täglich eine Pferdelast draufgehen, die Kost der Leute ungerechnet. Doch wahrscheinlich verloren wir auch täglich ein Tier, manchmal vielleicht auch zwei oder mehr. Indessen blieb uns immer noch die Hoffnung, bessere Weide zu finden, auf der die Tiere sich wieder kräftigen konnten, wenn wir erst nach Südosten abschwenkten. Wir hatten noch keinen Grund zum Klagen. Die gemieteten Tanksepferde hatten mir vortreffliche Dienste geleistet. Wir konnten das Westufer des Lake Lighten mit 83 vollbeladenen Tieren verlassen. Zu dem Boot mit all seinem Zubehör waren zwei Pferde erforderlich, aber ein paar Tage gedachte ich sie zu schonen und das Boot sich selber über den See befördern zu lassen.
Soweit war es mir also gelungen, unsere Etappen vorzuschieben, und das war prächtig. Wellby, Deasy, Rawling und Zugmayer, die alle schon in dieser Gegend waren und so schöne, verdienstvolle Resultate von ihren Reisen mitbrachten, hatten gerade hier und am Jeschil-köl nur über Karawanen verfügt, die in viel weniger gutem Zustande gewesen waren als die meine. Leh und Tankse waren meine Ausgangspunkte gewesen. Am Lake Lighten aber zerrissen nun die allerletzten Bande, und von dort begann ein Gewaltmarsch unbekannten Geschicken entgegen.