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Am 27. Januar, wie gewöhnlich, Sturm! Geleitet von den immer feiner werdenden Verzweigungen des Flußsystems Tagrak-tsangpo, rücken wir in südöstlicher Richtung vor, ohne daß uns jemand hindernd in den Weg tritt oder auch nur die geringste Notiz von unserem Zuge nimmt.
Von einer kleinen Paßschwelle herab überblicken wir die beiden Nebenflüsse des Naong-tsangpo, den Puptschung-tsangpo und den Kelung-tsangpo, und folgen dem letzteren. Er führt uns zu einer zweiten Schwelle mit einem Steinmal und mit Gebetsfahnen; von einer Stange in der Mitte ziehen sich nach allen vier Himmelsrichtungen Schnüre, die mit Lappen und Bändern behängt und mit kleinen Steinblöcken am Boden befestigt sind. Von einer dritten Schwelle zweiten Ranges zeigt uns der Führer hoch droben in den Pablabergen den Paß erster Ordnung, den wir morgen überschreiten müssen. Schon jetzt befinden wir uns in hochalpinen Gegenden ohne Graswuchs; in dem Schutt wächst nur noch Moos. Der Bach kommt von Puptschung-ri, einem Teil des Hauptkammes. Im Südosten sehen wir die beiden mit Schnee bedeckten Bergmassive Tormakaru und Sangra. Hier lagern nie Nomaden, das Land liegt zu hoch. Nur wenn die Beamten aus Taschi-lunpo offiziell hierherreisen, sind die nächstwohnenden Nomaden verpflichtet, ihnen Lagerzelte aufzuschlagen.
Am Abend legte sich der Wind, und die Töne der Flöten hallten klar und lieblich im Tale wider. Der Mond stand hoch und leuchtete hell auf das stille, wunderbare Land herab. Schweigend und kalt schreitet die Nacht dahin, und das Thermometer fällt auf -33,9 Grad! Bei solcher Temperatur braucht gar keine Zugluft durch die Ritzen zu kommen, um die Luft des Schlafraumes abzukühlen; man wacht davon auf und muß sich fester in seine Decken hüllen.
Der 28. Januar wurde ein großer Tag in dem Chronikbuch dieser Reise. Wir wußten, daß wir einen anstrengenden Weg vor uns hatten, und brachen deshalb zeitig auf. Das Pferd, in dessen Mähne der Nummerzettel 22 eingeflochten war, lag steinhart gefroren mit von sich gestreckten Beinen vor meinem Zelt; es hatte uns beinahe ein halbes Jahr lang treu gedient. Sieben Pferde und ein Maulesel waren uns jetzt noch geblieben. Sie trugen nur die Filzdecken, die ihnen nachts als Schutz gegen die Kälte dienen sollten. Den neuen tibetischen Pferden ging es vorzüglich; neben unseren alten Tieren, die den ganzen Winter Tschangtangs hinter sich hatten, sahen sie dick und fett aus.
Schon gegen zehn Uhr war der Wind eisig, aber nicht das geringste Wölkchen schwebte über der Erde. Es ist viel besser, trübes, aber windstilles Wetter zu haben. Jetzt blickt die Sonne nur höhnisch auf unsere Leiden herab, bemüht sich aber durchaus nicht, sie zu lindern. Wir ziehen nach Ostsüdosten, über eine endlose, schwachgewellte Ebene, deren ungünstiger Boden aus bemoosten Steinhöckern und scharfkantigem Schutt besteht. Zur Rechten haben wir die Sangraspitze und andere Partien des Pablakammes, von dem kurze Quertäler unbedeutende Erosionsrinnen durch die Ebene senden. Zur Linken wellenförmiges Land, wo die Nebenflüsse des Naong-tsangpo sich zwischen weichgerundeten Hügeln hinschlängeln. Höhere Hügel und Bergrücken, die im Norden auf dem rechten Ufer des Naong-tsangpo liegen, versperren alle Aussicht nach dieser Richtung hin.
So steigen wir langsam aufwärts, bis sich auf einmal unerwarteterweise ein tiefeingeschnittenes Erosionstal auf der rechten Seite unseres Weges zeigt. Es gehört nicht zum Ngangtse-tso! Ich stehe also im Begriff, das abflußlose Becken zu verlassen, und zerbreche mir den Kopf über die meiner wartenden Überraschungen. Das Tal heißt Sangra-palhé, ist nach Südosten gerichtet und nimmt die ebenso tief eingeschnittenen südlichen Quertäler des Pabla auf. Im Südosten erblicken wir den schwarzen Vorsprung eines Ausläufers des Pabla, um den herum das gewaltige Haupttal und sein Fluß immer mehr nach Süden umbiegen, um weiter zu gehen – aber wohin? Ja, darüber konnte mir der Führer keine Auskunft geben, das sollten wir erst später erfahren. Weiter gelangen wir an ein Tal, das sich in nördlicher Richtung hinzieht, also zum Naongtsangpo gehört. Nach Norden fällt das Terrain langsam, nach Süden aber steil ab, und wir ziehen auf dem flachen Paßkamm selber, der die Wasserscheide bildet. Gleich hinter dem Hügel Säreding, auf dem eine einsame Schafhürde steht, geht es steil aufwärts in der Richtung des Kegelberges Särpo-tsungé;, den wir später unmittelbar rechts von unserem Wege lassen. Von seiner westlichen und östlichen Seite, sowie von der Schwelle, auf der wir uns jetzt befinden, führt eine Menge ziemlich tiefer Erosionstäler nach dem Sangra-pal-hé hinunter. Zur Linken unserer Straße geht nach Nordwesten ein Tal abwärts, das noch zum System des Naong-tsangpo gehört. Wir bewegen uns also auf dem wasserscheidenden Kamme. Der Särpo-tsungé steht wie eine geographische Grenzsäule da und zeigt an, wo die Herrschaft des Ngangtse-tso endet. Das Ganze ist ein recht seltsames, kompliziertes Relief.
Hier ließen wir einen unserer Yaks zurück, der sich weder durch Bitten, noch durch Drohungen bewegen ließ, auch nur einen Schritt weiter zu gehen, auf diejenigen aber, die ihn anzutreiben versuchten, mit gesenkten Hörnern losfuhr. Er wurde im Stich gelassen – der zweite seiner Art. Yakmoos, Schnee und frische Luft hatte er hier im Überfluß und später fiel er wohl Nomaden in die Hände.
Noch etwas höher, und wir stehen auf der eigentlichen Paßschwelle, erkenntlich an einer in einen Steinhaufen gesteckten Stange mit Wimpelschnüren, die im Winde flattern, klatschen und sich straffen. Es war hohe Zeit, daß ich an einem kleinen Feuer landete, da ich halbtot vor Kälte war. Aber leicht war es mir nicht, das Siedethermometer zum Kochen zu bringen. Auf der Erde sitzend mußte Robert mit einigen Pelzen und einer Filzdecke ein provisorisches Zelt um das Instrument bilden, während ich an der vom Wind abgekehrten Seite auf dem Bauche lag, um durch eine kleine Öffnung das Thermometer abzulesen. Es war nur 9,5 Grad Kälte, aber Westsüdwestwind in Stärke Nr. 8, d. h. halber Sturm. Das abwärtsführende Tal, Sele-nang, lag jetzt am Nachmittag in tiefem Schatten. Durch seine Mündung hindurch erblickt man ein Riesenmeer erstarrter Bergeswellen, steile Felsen mit tiefen Tälern, keine ebenen Stellen, keine Vegetation, nur ein Labyrinth von Bergen, ein viel kräftigeres, ausgeprägteres und wilderes Relief, als ich je in Tschang-tang gesehen hatte. Im Westen versperren naheliegende Partien des Pablakammes die Aussicht.
Der Paß, auf dessen hügeligem Sattel wir uns jetzt befanden, heißt Sela-la oder Se-la und erreicht die bedeutende Höhe von 5506 Meter über dem Meere. Ich sah deutlich, daß er in der Hauptkette liegen mußte, die weiter östlich die bekannte Spitze Nien-tschentang-la am Südufer des Nam-tso oder Tengri-nor trägt und von einigen wenigen Europäern und Punditen schon überschritten worden ist. Sie ist eine der hauptsächlichsten und großartigsten Wasserscheiden der Erde, denn von ihren Nordabhängen strömt das Wasser nach den abflußlosen Seen der Hochebene – von den südlichen aber nach dem Indischen Ozean! Wie diese Wasserscheide läuft und wie die Bergsysteme in dem Lande, das meine Route zwischen dem Ngangtse-tso und Jeschung am Tsangpo durchschneidet, angeordnet sind, das war den Geographen der weißen Rasse bis zu diesem Januar 1907 ebenso unbekannt geblieben, wie die der Erde abgekehrte Seite des Mondes! Aber die Meere und Gebirge, die uns der Vollmond zeigt, kannten wir schon seit dem Altertum viel besser als die Gegend auf der Erdoberfläche, wohin ich nun das Glück habe, meine Leser führen zu können! Ich habe mir erlaubt, dieses geographische Problem, das ich lösen konnte, eines der schönsten, vielleicht das allerimposanteste zu nennen, das noch auf der Oberfläche unserer Erde zu lösen war.
Aber auf dem Sela-la überschritten wir die ungeheure Wasserscheide erst an einem einzigen Punkt. Ich will den Ereignissen nicht vorgreifen. Wir müssen erst unsere Eroberungen ruhig der Reihe nach machen – und dann wollen wir aus dem gesammelten Material unsere Schlüsse ziehen. Und nun wollen wir zunächst unseren mühsamen Zug durch die unbekannte Gebirgswelt, die uns noch von dem großen Flusse trennt, fortsetzen.
Nachdem ich in größter Hast mit blaugefrorenen Händen das Panorama gezeichnet und die Namen, die der Führer mir mitteilen konnte, eingetragen hatte, eilten wir die teilweise mit Schnee bedeckten Geröllabhänge auf der Südseite des Passes hinunter. Im Talgrund mit seinen Eisstücken stiegen wir wieder zu Pferd und begegneten drei berittenen Tibetern, die acht unbenutzte Pferde vor sich hertrieben. Sowie sie uns erblickten, schlugen sie eine andere Richtung ein und machten einen großen Umweg, um uns auszuweichen. Vermutlich gehörten sie zu einer Räuberbande, die hier droben mit ihrer Beute auf ungebahnten Wegen entwischen wollte.
Es war zu schön, an diesem Abend endlich in der Wärme der Lagerfeuer zu sein! Unter schweigendem Nachdenken schweift der Blick von den Felskämmen, die der Mond hell bescheint, bis in die schattige schwarze Tiefe des Talgrundes, wo nur Wölfe in ihren Höhlen hausen. Mir war zumute, als gehöre das alles mir, als sei ich an der Spitze siegreicher Legionen erobernd in dieses Land eingezogen und hätte alle Widerstandsversuche besiegt. Welch glänzende Legionen! Fünfundzwanzig zerlumpte Kerle aus Ladak, zehn magere Gäule und etwa zwanzig abgetriebene Yaks! Und dennoch glückte es mir! Marius hat über seine im Krieg gegen Jugurtha erlangten Triumphe nicht stolzer sein können, als ich es war, als ich am Sela-la meinen ersten Sieg über den Transhimalaja errungen hatte, an jenem Sela-la, der sich jetzt im Mondlicht badete und mir wie der äußerste Posten auf der Grenze des offenen unendlichen Weltenraumes erschien.
Am 29. Januar war unser Tagesmarsch gemütlich. Im tiefen Tal gegen den Wind geschützt, zogen wir der Sonne entgegen und empfanden dies wie eine erste Mahnung des herannahenden Frühlings. Erst reiten wir nach Ostsüdosten, schwenken aber allmählich in einem Bogen direkt nach Süden ab. Gerade in der Krümmung mündet das Tal Tumsang, in dessen Hintergrund wir wieder einen Teil der großen Kette erblicken, die wir am Sela-la überschritten haben. Von ihrem Kamm müssen sich unzählige Täler wie das unsere, ihm mehr oder weniger parallel, herabziehen. Das vereinigte Tal gewinnt an Breite, und in seiner Mitte schlängelt sich das Eisband des Sele-nang. Zelte erblicken wir nicht, wohl aber Stellen, wo sie im Sommer aufgeschlagen werden, und einige Manis sind zur Erbauung des Wanderers errichtet. In einer Talerweiterung, die Selin-do hieß, wurde das Lager 118 aufgeschlagen.
Während der letzten Tage hatten wir oft davon gesprochen, wie erwünscht es wäre, könnten wir den Nomaden einige Yaks abmieten. Unsere eigenen waren erschöpft, hielten uns auf und liefen sich in den hohen, schuttreichen Gegenden, durch die wir jetzt zogen, die Füße mit jedem Tage mehr wund. Solange das Land offen vor uns lag, mußten wir nach Möglichkeit eilen. Saumseligkeit konnte gefährlich werden, die Yaks marschierten aber, als ob sie einen Klotz am Bein hätten! Im Selin-do sahen wir keine Zelte, in der Dämmerung aber kam Namgjal mit zwei Tibetern, die er in einem Quertal getroffen hatte, angewandert. Sie waren bereit, mir 25 Yaks zur Verfügung zu stellen, wenn sie einen Tenga (etwa 45 Pfennig) für jeden Tagesmarsch erhielten; sie rechneten auf den Weg bis Je-schung am Tsangpo acht Marschtage. Sie selber wollten uns nur eine Tagereise weit begleiten, standen aber dafür ein, daß neue Leute an ihre Stelle treten würden, wenn sie umkehrten. Besseres konnte mir gar nicht begegnen: wir konnten unsere eigenen Tiere schonen, längere Tagesmärsche machen und sollten obendrein noch gute Führer erhalten.
Abends besuchten uns sieben stark bewaffnete Reiter; sie waren auf der Suche nach einer Räuberbande, die ihnen mehrere Pferde gestohlen hatte. Wir konnten ihnen über die Gesellschaft, der wir gestern begegnet waren, Auskunft geben, und sie ritten sehr dankbar talaufwärts weiter.
30. Januar. Morgens fanden sich unsere neuen Freunde mit ihren Yaks ein; als alles geordnet war, stellte sich heraus, daß wir von dem großen Gepäck, das wir beim Aufbruch aus Leh mitgenommen hatten, nur noch achtzehn Lasten besaßen! Die beiden letzten Ciceroni wurden bezahlt und schritten sogleich dem Sela-la zu.
Unmittelbar unterhalb des Lagers 118 vereinigte sich unser Selin-do-Tal mit dem Tale Porung, in dem wir wieder nach Südosten anstiegen. Es wunderte mich, daß unsere Führer wieder mit uns nach den Höhen hinauftrabten, aber sie folgten einem deutlich erkennbaren Weg, und das vereinigte Tal, das wir rechts liegen ließen, schien nach Westsüdwesten und Südwesten abzufallen. Sie sagten, es münde in den My-tsangpo, der ein nördlicher Nebenfluß des Jere-tsangpo (des oberen Brahmaputra) ist; ich hatte später Gelegenheit, mich zu überzeugen, daß ihre Angaben richtig waren. Doch jetzt, bei der ersten Durchquerung dieses Landes, erschien mir die Anordnung der Bergketten und der Gewässer unerklärlich und verwirrend. In jedem Lager fragte ich zuverlässige Tibeter aus und ließ sie mit dem Finger kleine Karten in den Sand zeichnen, die ich dann in mein Tagebuch kopierte. Aber jeden Tag sah die Karte anders aus, selbst wenn die Hauptzüge dieselben waren!
Von dem Punkt aus, an dem wir wieder zu steigen begannen, sieht man im Südwesten ein wüstes Gewirr von Bergen. Auf dem rechten Ufer des Porung treten aus dem Geröllbett mehrere warme Quellen hintereinander hervor, die schwefelhaltiges Wasser von 53,28 Grad besitzen und Becken bilden, worin das heiße, dampfende Wasser brodelt und plätschert. Die Stelle heißt ganz einfach Tsaka-tschusän, »das warme Salzwasser«. Die Terrassen des Tales lassen auf eine kräftige Erosion schließen. Auf beiden Seiten münden Nebentäler; manchmal überschreiten wir das Eisband, manchmal steile Ausläufer des Gebirges. In einer Biegung begegnen wir wieder einer Schar bewaffneter Reiter, die auf dem Weg nach Tschoktschu sind, einem Land im Westen des Dangra-jum-tso.
Wir gelangen an eine Talerweiterung, eine sehr wichtige Stelle, weil mehrere Täler an dem gigantischen Erosionsknoten in diesem Meer wilder Berge zusammenstoßen. Das größte ist das von Nordosten kommende Terkung-rung, das wieder eine ganze Reihe Seitentäler aufnimmt und vom Hauptkamm des Pabla herabkommt. Der sich durch das Tal ziehende Weg führt nach mehreren großen Sommerweiden. Auf einem breiten Felsvorsprung mit einem Manihaufen machte ich lange halt, um mich in dieser außerordentlich interessanten Gegend zu orientieren. Auch hier begegnete uns eine Reiterschar, die einen Freibeuter verfolgte, der mit der Gattin eines anderen durchgebrannt war – tout comme chez nous! Der betrogene Ehemann befand sich selber unter der Schar und sah sehr wütend aus. Dann trafen wir eine Karawane von 55 Yaks, die mit großen Ballen chinesischen Ziegeltees aus Lhasa beladen waren und ihn nach der Provinz Tschoktschu bringen sollten. Ein Dutzend schwarzer, barfüßiger Männer begleitete die Tiere; sie pfiffen und sangen, drehten wollenes Garn mit Hilfe einer vertikalen, rotierenden Spule zusammen oder waren mit ihren Gebetsmühlen beschäftigt. Auch sie hatten ihre Yaks gemietet und sollten sie in Selin-do gegen frische austauschen. Sie hatten noch 50 Schafe mitgenommen, die kleine Gerstenlasten trugen. Kurz, je weiter wir vordrangen, desto lebhafter wurde der Verkehr.
Aus den Seitentälern sieht man kleine Fußpfade in unseren Weg, der jetzt schon breit ist und von recht bedeutendem Verkehr zeugt, einlaufen. Alle unsere Führer sagen auch, daß dies die große Landstraße nach Schigatse sei; sie ist aber auch zugleich ein Teil der großen Straße, die Tschoktschu mit der Hauptstadt des Landes verbindet. Schon hier ist der Weg eine Masse paralleler Fußpfade; wenn diese sich längs der Halden und der steilen Abhänge hinziehen, erscheint das Terrain gestreift.
Immer höher geht es in der Richtung nach Südsüdosten aufwärts; wir befinden uns einige 30 Meter über dem Talboden, den ein sehr mächtiges, gleichmäßig breites Eisband anfüllt, das einem bedeutenden Flusse gleicht; ja, man kann sich in das Industal, wie es im Winter von Saspul aufwärts aussieht, versetzt glauben. Doch es ist nur Schein, denn nachdem wir noch ziemlich große Nebentäler passiert hatten, erreichten wir die ergiebigen Quellen von Mense-tsaka, die 48 Grad warmes, süßes Wasser hatten und weiter abwärts Teiche bildeten, in denen kleine Fische zwischen schleimigen Algen umherhuschten. Allmählich aber kühlt das Wasser sich ab und bildet Eis, und über dieses hinweg rinnt es dann weiter und weiter, bis es, wie jetzt Ende Januar, den ganzen Talboden vom Fuß der einen Bergwand bis an den Fuß der anderen ausgefüllt hat.
Von dem großen Talknotenpunkt an waren wir an vier Manis vorbeigezogen, die selten mehr als 3 Meter lang, aber mit außergewöhnlich schön gemeißelten Platten von rotem, weißem oder grünem Sandstein und Schiefer bedeckt waren. Auf den ersteren hoben sich die Buchstaben in der Verwitterungsrinde grellrot gegen die ausgemeißelten Zwischenräume, deren Bruchflächen weiß waren, ab. Ich war in Versuchung, einige mitzunehmen, dachte dann aber, daß sich wohl noch später Gelegenheit zu solcher Heiligtumsschändung finden werde.
Vor uns erscheint die Paßmulde; umgeben von dem konkaven Kammring, auf dessen Höhe die Karawane sich hoch oben abzeichnet, sieht der Paß ungemütlich steil aus. Oberhalb der Täler Schib-la-jilung und Tschugge-lung wird uns das Steigen sauer, die Pferde bleiben oft auf dem Schuttabhang stehen. Endlich aber sind wir droben bei dem obligaten Steinmal mit seiner Wimpelstange inmitten kleinerer Steinpyramiden. Dies ist der Schib-la, dessen Höhe 5349 Meter beträgt. Die Aussicht ist großartig und beinahe nach allen Seiten hin frei, da sie durch keine naheliegenden Gipfel versperrt wird. Unten in den Tälern hatten wir Schutz vor dem Wind gehabt, hier oben aber streicht er ungehindert über dieses aufgeregte Meer von Bergkämmen hin.
Im Südwesten zeigt uns der Führer den nächsten Paß, den wir zu überschreiten haben. Zwischen ihm und dem Schib-la ist eine tiefe Talschlucht kräftig eingeschnitten, die nach Westsüdwest abfällt. Ihr Fluß, oder richtiger ihr Eisband, vereinigt sich mit allen den Wasserläufen, die wir heute schon passiert haben, ja, mit allen, die wir seit dem Sela-la kennen gelernt haben. Wir überschreiten also eine Reihe Nebenflüsse, aber der Hauptfluß, der sie alle aufnimmt, bleibt westlich von unserer Straße liegen und ist nicht von einem einzigen Punkt aus sichtbar. Jener Hauptfluß wird My-tschu, My-tsangpo oder auch My-tschu-tsangpo genannt.
Noch hatten wir eine ziemliche Strecke bis ans Lager und es wurde schon dämmerig. Wir gingen die schroffen Abhänge zu Fuß hinunter und stolperten alle Augenblicke über Schutt und Mauselöcher. Es wurde dunkel, aber im Tale zeigte sich ein heller Streifen, das Eis seines Flusses. Und der Schein der Lagerfeuer lockte uns aus Dunkelheit und Kälte. Doch nichts führt so leicht irre, als wenn man in der Dunkelheit einem Feuerschein nachgeht; man geht und geht, aber er vergrößert sich nicht. Müde und durchfroren kamen wir jedoch schließlich an und setzten uns so nahe wie möglich an die Dungglut, und die Unterhaltung mit Muhamed Isa begann – heiter und lebhaft, wie gewöhnlich.
Vier unserer dienstfreien Yaks waren wieder vollständig erschöpft und mußten einen Ruhetag haben – hätte ich zwar gewußt, was sich hinter uns in unserer Spur zutrug, so hätte ich sie ohne weiteres zurückgelassen und wäre am nächsten Morgen eiligst davongezogen! Aber ich ahnte ja nichts und verbrachte den letzten Tag des Januars ruhig im Lager 119. Die Kälte sank auf 34,4 Grad – zum drittenmal las ich dieselbe Gradzahl ab!
Den Ruhetag verbrachte ich mit dem Studieren der von mir gezeichneten Karten und dem Versuch, mir das Labyrinth von Bergen und Tälern, in das wir uns verirrt hatten, zu einem klaren Bilde zu gestalten. Soviel stand fest, daß die große Wasserscheide zwischen den abflußlosen Seen in Tschang-tang und dem Indischen Ozean sich längs des Hauptkammes Pabla hinzog und – daß dieser die unmittelbare westliche Fortsetzung des mächtigen Kammes Nien-tschen-lang-la war. Wir hatten das Pablagebirge im Sela-la überschritten und befanden uns jetzt in dem ausgedehnten, verwickelten Flußgebiet des My-tschu. Ziemlich parallel mit dem My-tschu strömt weiter ostwärts der Schang-tschu, dessen Tal der Pundit Krishna (A. K.) im Jahre 1872 und Graf de Lesdain im Jahre 1905 durchzogen haben. Zwischen dem My-tschu und dem Schang-tschu muß es also noch eine Wasserscheide zweiten Ranges und eine bedeutende Berganschwellung geben, die in Wirklichkeit nichts anderes als eine Abzweigung vom Hauptkamm des Pabla ist. Vom Sela-la an strömten alle Wasserläufe, die wir überschritten, nach Westen, die sekundäre Wasserscheide aber, auf der ihr Lauf beginnt, lag östlich von unserer Route. Es ist indessen möglich, daß zwischen dem My-tschu und dem Schang-tschu noch eines oder vielleicht mehrere Nebentäler liegen, die den Tälern dieser Flüsse gleichwertig sind.
Der Pabla ist nur ein Teil des Hauptkammes des » Transhimalaja«, und der Transhimalaja ist nicht nur eine Wasserscheide erster Ordnung, sondern eine physisch-geographische Grenze von noch außerordentlicherer Bedeutung! Wohl habe ich mich dann und wann schon in greuliche Gebirgsgegenden verirrt, aber so etwas wie das Land im Süden des Transhimalaja hatte ich noch nicht gesehen. In Tschang-tang sind die vorherrschenden Linien der Landschaft flach wellenförmig und horizontal; jetzt hatten wir die peripherischen Gebiete, die Abfluß nach dem Meere haben, erreicht, und sofort machten sich vertikale Linien geltend. Auf der Südseite des Transhimalaja sind die Täler also viel energischer in die Gesteinsmassen eingeschnitten, als irgendwo auf dem hohen Plateauland. Und warum? Weil die Niederschläge der Monsunwolken auf der Südseite des Transhimalaja unvergleichlich reichlicher sind als auf seinem Nordabhang. Es ist wie beim Himalaja, wo die Südseite, die dem Südwestmonsun zugewandt liegt, den Löwenanteil der Niederschläge auffängt und von viel reichlicheren, anhaltenderen Regenschauern bespült wird als die nördliche. Nun fanden wir auch in allen Tälern Quellen, Bäche und Flüsse, während wir vor noch gar nicht so langer Zeit in Gefahr geschwebt hatten, kein Wasser zu finden. Auch in klimatischer Beziehung ist der Transhimalaja also eine Grenzlinie, der an Großartigkeit und Wichtigkeit nur wenige auf Erden gleichen.
Meine Erwartung und Spannung war beständig im Steigen; mit jedem Tag spürte ich die Nähe einer religiösen Metropole deutlicher. Votivmale, Manis, Wanderer, Karawanen – alles sprach davon! Meine Ladakis waren die Beute derselben exaltierten Gefühle, welche die Pilger des Islam empfinden, wenn sie sich dem Berge Arafat nähern und sich sagen, daß sie von ihm herab zum erstenmal das heilige Mekka sehen werden!
Am frühen Nachmittag stellten sich neue Leute mit neuen Yaks ein, um am 1. Februar unsere Lasten zu übernehmen. Ich fand es unerklärlich, daß die Nomaden ohne die geringsten Einwendungen bereit waren, mir Dienste zu leisten. Die große Heerstraße ist allerdings in Stationen eingeteilt, an denen zum Transport von Gepäck und Waren frische Yaks bereit stehen, aber diese Vorteile sind doch nur Tibetern zugedacht, nicht einer europäischen Karawane, die nicht einmal einen Paß hatte! Jedenfalls hatte Ngurbu Tundup uns keinen Schaden getan; im Gegenteil, überall wußte man, daß ich kommen würde und daß er der Eilbote des Taschi-Lama an mich gewesen war. An jeder Raststelle wurde mir mitgeteilt, vor wieviel Tagen er den Ort passiert habe. Daß die Nomaden uns so bereitwillig Yaks zur Verfügung stellten, beruhte aber zum nicht geringen Teil auch darauf, daß sie stets gut bezahlt und freundlich behandelt wurden. Jetzt marschierten unsere eigenen Yaks ohne Lasten wie die sieben Ladakipferde und der letzte Maulesel. Ich aber war auf alles vorbereitet. Es war verabredet, daß, falls wir einmal keine Transporttiere fänden, ich mit Muhamed Isa und Namgjal auf unseren drei tibetischen Pferden in Eilmärschen nach Schigatse reiten würde, während die Karawane unter Roberts Befehl langsam nachkommen sollte.
Wir hatten in der Nacht 32,5 Grad Kälte gehabt, und der Morgen war abscheulich kalt, trübe und stürmisch. In einem neuen Tal erstiegen wir den nächsten Paß. Wir waren noch nicht weit gelangt, als wir schon halbtot vor Kälte waren; Robert weinte, so fror ihn. Als es am wärmsten war, halten wir noch 15,3 Grad Kälte und scharfen Wind gerade ins Gesicht! Man würde sich das Gesicht, besonders die Nase, erfrieren, wenn man nicht die ganze Zeit über in die Öffnung des langen Pelzärmels hineinatmete, wo der Atem aber so schnell Eis bildet, daß einem der Ärmel am Schnurrbart festfriert. Da ist es nicht leicht, Kartenarbeit auszuführen! Bevor ich meine Peilung gemacht und nach der Uhr gesehen habe, ist die linke Hand schon wie tot; und wie ich mich auch beeile, habe ich die Beobachtungen doch noch nicht niedergeschrieben, ehe meine rechte. Hand vollständig gefühllos wird. Zu Fuß gegen den Sturm angehen, ist bei starkem Steigen und bei der so dünnen Luft unmöglich, wenn man die geringste Rücksicht auf sein Herz nehmen will. Wir krochen in eine Grotte und saßen auf der geschützten Seite niedergekauert; wir steckten die Hände, um sie aufzutauen, zwischen Pferd und Sattelgurt; wir stampften mit den Füßen und sahen entsetzlich miserabel aus, wenn dabei noch die Gesichtsmuskeln so erstarrten, daß wir kaum sprechen konnten. »Nein, laßt uns lieber weiterreiten, droben zünden wir uns ein Feuer an!« Und so arbeiten wir uns durch scharfkantigen Schutt und zwischen Steinblöcken hindurch mühsam nach der Höhe hinauf.
Endlich sind wir droben auf der flachen Wölbung des Tschesang-la, auf einer absoluten Höhe von 5474 Meter. Dieser Paß ist also noch ein wenig höher als der Sela-la, aber trotzdem ist er nur ein Paß zweiten Ranges, da er in dem Kamm liegt, der zwei der Nebenflüsse des My-tschu voneinander trennt. Als wir kamen, hielten sich drei große graue Wölfe auf dem Paß auf, ergriffen aber schnell die Flucht. Hier tobte der Sturm in ungehemmter Freiheit, nur mit Mühe konnten wir uns auf den Beinen halten. Robert und ich drückten uns auf der geschützten Seite eines großen bewimpelten Steinmales gegen die Erde, während Rabsang und unser tibetischer Cicerone trocknen Yakdung sammelten. Mit Hilfe des Feuerstahles setzten wir ihn in Brand, und dann hockten wir alle vier um das vom Sturm gepeitschte Feuer. Wir öffneten die Pelze, um ein bißchen Wärme in die Kleider strömen zu lassen, und zogen die Stiefel aus, um die Füße zu erwärmen, aber wir saßen anderthalb Stunden, ehe wir uns auch annähernd wieder als Menschen fühlten. Dann eilten wir in der Richtung nach Südsüdwesten abwärts und lagerten im Tale Schamm in der Nähe einiger erbärmlicher Steinhütten.