Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Am 1. September hatten wir einen schweren Tag. Die Erde lag weiß da, und der Himmel sah drohend aus, aber ein schmaler blauer Streifen im Süden ließ uns auf schönes Wetter hoffen. Wir brachen früh auf, und als ich in den Sattel stieg, sah ich die ganze enge Talrinne vor mir schon von den verschiedenen Abteilungen der Karawane angefüllt. Als ich mein Zelt seinem Schicksal, nämlich Tsering und den Indern überließ, rauchten unsere verlassenen Lagerfeuer noch, und das neue Steinmal hob sich schwarz gegen den Schnee ab. Mit einiger Spannung verließen wir das Lager Nr. 1, denn jetzt näherten wir uns im Ernst wilden Gegenden und sollten einen erstklassigen Paß überschreiten, den keiner meiner Leute kannte und von dem sie nur wußten, daß er Tschang-lung-jogma hieß; er liegt ein wenig östlich von dem Paß, den man auf der großen englischen Karte von Nordostladak angegeben findet; meines Wissens hat ihn noch nie ein Reisender benutzt.
Die Uferterrassen hören nach und nach im Tale auf, und da, wo sie sich noch gelegentlich zeigen, sind sie nur ein paar Meter hoch und durch beständige Erdrutsche entstellt. Unser Weg geht nach Nordosten. Vor uns zeichnet sich ein kreideweißer Sattel ab, den jetzt die Sonne überflutet; wir halten ihn für den Paß – aber nein, die Maulesel sind, wie man aus ihren Spuren im Schnee sieht, nach einer anderen Richtung hin abgebogen.
Die Gehänge bestehen auf beiden Seiten aus lauter losem, außerordentlich feinem Material, das feucht und von fußtiefen Spalten durchzogen ist. Am Rand einiger Ausläufer verlaufen diese Spalten ebenso wie die Randspalten einer Gletscherzunge. Es ist fließender Boden: die Gehänge geraten ins Gleiten und verschieben sich durch ihre eigene Schwere, weil sie durch und durch naß sind und keine Wurzeln das feine Material festhalten; sie sind in Bewegung begriffen, und die flach abgerundeten Oberflächenformen, die nun in der Landschaft vorherrschen, sind das Resultat dieses Phänomens.
Das Schweigen der Einöde herrscht in diesen Gegenden, wohin sich nie eines Menschen Fuß verirrt; nur dann und wann hört man die Warn- und Mahnrufe der Karawanenleute. Noch ist keines der Tiere zurückgeblieben, alles geht normal; möchten sie doch alle diese schwere Tagereise glücklich überstehen! Das Tal wird ganz schmal; aus seinem Kiesboden sickert Wasser, das kaum einen Bach zu bilden vermag. Aber auch in diesen Kies, auf dem nicht einmal Moos wächst, sinken die Tiere wie in Schlamm ein.
Am Fuß des muldenförmigen Aufganges zu einem Nebenpasse, der uns wieder irreführte und betrog, hatte die Karawane haltgemacht, und man suchte nun einen gangbaren Weg.
Ich ritt in unzähligen Zickzackwindungen voraus und hielt an jeder Winkelecke einen Augenblick an, um Atem zu schöpfen. Muhamed Isa meldete, der wirkliche Paß sei gefunden, doch ritt ich, um zu rekognoszieren, mit Robert auf eine Anhöhe hinauf, die höher lag als die ganze Umgegend.
Die Aussicht von hier aus war viel zu überwältigend, um orientierend genannt zu werden. Über und hinter den näherliegenden, teilweise rabenschwarzen Bergen sah man einen weißen Horizont, eine sägezähnige Linie mächtiger Himalajagipfel. Eine geradezu erhabene Landschaft! Der Himmel war fast klar; nur hier und dort schwebten weiße Wölkchen. In der Tiefe unter uns lag das kleine Tal, durch das wir uns eben mit so vieler Mühe emporgearbeitet hatten; von hier aus sah es jämmerlich klein aus, eine unbedeutende Abflußrinne innerhalb einer Welt gigantischer Berge. Einige Abteilungen der Karawane mühten sich noch in dem engen Gang mit dem Hinaufklimmen ab, und aus der Tiefe drangen die Rufe und Pfiffe der Männer zu uns herauf. Der Horizont war klar, nicht in Dunst gehüllt wie sonst so oft; seine Konturen waren außerordentlich scharf gezogen; silberweiße, sonnenbeglänzte Gipfel türmten sich übereinander und hintereinander empor; gewöhnlich schimmern die ewigen Schneefelder in blauen Schattierungen von wechselnder Intensität, bald matt, bald dunkel, je nach dem Winkel der Gehänge im Verhältnis zur Sonnenhöhe; bald gehen Schatten und Lichter weich und allmählich ineinander über, bald sind sie scharf abgegrenzt; es ist ein verwickeltes Spiel physischer Gesetze, die in unbedingtem Gehorsam zu Stein erstarrt sind. Auf einem Absatz unter uns stand ein Teil der Karawane und verschnaufte sich; die Tiere sahen wie schwarze Punkte auf dem Schnee aus. Hier oben auf unserer Anhöhe aber hüllte uns der Südwestwind in schnell weiterziehende kleine Wolken wirbelnder Schneeflocken.
Dieses ganze aufgeregte Meer der höchsten Gebirgswogen der Erde sieht seltsam gleichmäßig und eben aus, wenn der Blick ungehindert über seine Kämme hinschweift. Man ahnt, daß sich kein Berggipfel über eine gewisse Maximalhöhe erhebt; denn ehe er sein Haupt über die Menge emporzurecken vermag, haben Wetter und Winde, die Denudation, ihn von oben abgefeilt. Darin gleichen die Berge den Meereswellen; auch wenn diese sich in schäumender Wut erheben, nimmt sich ihr Getümmel, vom Schiffsdeck gesehen, gleich hoch aus, und der Horizont ist eine gerade Linie; es ist ebenso wie bei den kleinen Erdwällen zwischen den Furchen, die der Pflug im Acker aufreißt, sie haben alle dieselbe Höhe und, aus der Ferne betrachtet, erscheint das Feld völlig eben.
Der Horizont schien unendlich weit entfernt; nur im Norden und Nordosten unterbrachen ihn naheliegende Höhen, die das Dahinterliegende verdeckten, und in dieser Richtung schwebten auch dichtere Wolken, die, oben weiß und auf der Unterseite bläulich dunkel, weichen Kissen vergleichbar über der Erde lagen. Man erhielt daher von dem Plateaulande kein rechtes Bild, ahnte aber fern im Norden eine Bergkette von himmelstürmender Höhe. Im Nordwesten sah man sehr deutlich einen Hauptkamm; er geht von unserem Aussichtspunkt, d. h. von der Anhöhe, wo wir standen, aus. Es ist das Kara-korumgebirge. Der ganze Kamm tritt hier als ein flach abgerundeter Landrücken auf, ohne anstehendes Gestein, aber von unzähligen kleinen Tälern durchfurcht, die samt und sonders oben auf dem Kamm beginnen und sich dann allmählich immer tiefer in seine Seiten einschneiden. Der Hauptkamm windet sich wie eine Schlange über das Hochland hin, und die Erosionstäler gehen nach allen Richtungen wie die Äste eines Baumes. Hier herrschen die horizontalen Linien in der Landschaft vor, aber weiter unten, in den peripherischen Gebieten, fällt der Blick auf vertikale Linien, wie in den Quertälern von Tschang-tschenmo. Dort unten sind die Landschaftsbilder imposanter und pittoresker, hier oben aber ist das Antlitz der Erde eher flach; hier haben die Stürme ihre Wohnungen und ihre unbegrenzten Tummelplätze in langen dunkeln Winternächten.
Bis ins Mark durchkältet gingen wir zu Fuß nach der Paßschwelle hinunter, wo sich die ganze Karawane angesammelt hatte; die Höhe betrug 5780 Meter, und es war 1 Grad Wärme. Die Leute sangen nicht, sie waren zu müde, aber wir hatten doch allen Grund, froh zu sein, denn alle Tiere waren mit ihren Lasten glücklich heraufgekommen. Nach Norden hin zieht sich ein kleines Tal, dem wir langsam bergab folgten. Sein Boden besteht aus lauter Schlamm, in den die Tiere bei jedem Schritt einsanken, und in den Gruben, die ihre Hufe hinterließen, sammelte sich sofort trübgraues Wasser an. Um uns herum dehnte sich ein Gewirr von relativ niedrigen, flachen Hügeln aus, die stets von jenen Spalten, die fließenden Boden ankündigen, durchfurcht waren. In der Mitte des Tales schlängelte sich lautlos ein Wässerlein ohne Stromschnellen hin; im übrigen war die ganze Gegend überschwemmt, und Wassermangel hatten wir also zunächst nicht zu befürchten.
Da, wo wir lagerten, war kein Grashalm zu sehen; es hatte daher gar keinen Zweck, die Tiere frei umherlaufen zu lassen, sie wurden paarweise zusammengebunden und mußten so stehend warten, bis die Sonne unterging. Dann setzte Guffaru sich auf eine Filzmatte, ließ einen Sack Mais vor sich hinstellen, füllte eine Holzschale mit diesem Futter und leerte sie in einen dargereichten Beutel aus, den ein Ladaki dann einem Pferd vor das Maul hängte. Und so liefen die Männer hin und her, bis alle Tiere ihren Anteil erhalten hatten und die trocknen, harten Maiskörner angenehm zwischen den Zähnen der hungrigen Tiere krachten. Die Ladakipferde weigerten sich energisch, Mais zu fressen, und erhielten statt dessen Gerste; sie wieherten so freundlich, wenn die Beutel gebracht wurden, aber lange hielt die Freude nicht vor; das Knabbern hörte nach und nach auf, und mit hängendem Kopf erwarteten sie blinzelnd und müde die neue lange Nacht (Abb. 48).
48. Meine Pferde im Kara-korum-Gebirge.
Einige überflüssige Pferde waren mit trocknen Japkakpflanzen beladen; beim Lager Nr. 2 gab es keine Spur von Feuerungsmaterial. Wir waren jetzt 5552 Meter hoch.
Am Morgen nahm ich von Tschenmo, dem Kotidar von Tankse, und von Sambul, dem Numberdar Pobrang, die hier umkehrten, Abschied. Sie konnten sich bald wieder an warmen Winden und dem Sonnenschein heller Tage erfreuen. Außer reichlicher Bezahlung für ihre guten Dienste erhielten sie jeder ein Zeugnis in rühmenden Ausdrücken. Sie nahmen meine Post mit und sollten den Boten aus Leh, falls sie ihnen begegneten, über den Weg Bescheid sagen. Unsere Gesellschaft verkleinerte sich dadurch um sechs Mann, drei Pferde und sieben Jaks. In meiner Abteilung waren wir nun bloß noch zu drei Mann, nämlich ich selbst, Robert zu Pferd und Rehim Ali zu Fuß.
Wir machten nun mit dem Bach einen Bogen nach Norden und hatten dabei auf beiden Seiten hügelige Berge. Das Land war wie tot, man sah keinen Grashalm, nicht einmal die Spur einer verirrten Antilope; alles organische Leben schien von hier verbannt zu sein. Aber als wir ein wenig weiter gekommen waren, tauchten Spuren von Menschenbesuchen auf. Man sah im Boden einen schwachen, hellen Streifen, der wie ein lange nicht begangener Pfad aussah, und neben ihm ein zylinderförmiges Steinmal mit einer Steinplatte obenauf. Und an einer Stelle lagen mehrere Pferde- und Yakschädel. Doch sollen sich Jäger, wie man mir sagte, nie hierher verirren; vielleicht war es ein Erinnerungszeichen an die Kartenaufnahmearbeiten der Survey of India oder stammte von einem der europäischen Pioniere her, die vor vielen Jahren zwischen Ostturkestan und Indien hin und her gereist sind.
Das Wetter war echt tibetisch. Eine Hagelbö nach der anderen durchkältete uns und jagte uns ihre kühlen Schauer ins Gesicht, aber die Sonne schien doch immer irgendwo innerhalb unseres Gesichtskreises. Von den Wolken, die ganz unbedeutend aussahen, hingen lange Hagelfransen herab, aber diese vermochten den Boden nicht weiß zu färben; er blieb so trocken wie Zunder, im Gegensatz zu den feuchten Gehängen auf beiden Seiten des Kara-korum-Kammes. Es staubte sogar ab und zu hinter den Pferden. Weit vor mir sah ich zwei schwarze Punkte auf dem gelblichgrauen Gelände – es waren ein Pferd und sein Führer, die hinter den anderen zurückgeblieben waren.
Man sah den großen Zug der Karawane sich ungeheuer langsam einen Abhang entlang bewegen. Sie machten halt, sie hatten also Weide gefunden! Ach, nein – der Boden war hier ebenso unfruchtbar wie überall während der 19 Kilometer, die wir an diesem Tage zurückgelegt hatten. So wie gestern mußten die Tiere zusammengebunden stehenbleiben und die Riemen ihrer Gersten- und Maisbeutel wurden ihnen wieder um den Hals gehängt.
In der Dämmerung berief ich Muhamed Isa zum Kriegsrat.
»Wie lange können die Tiere noch aushalten, wenn wir keine Weide finden?«
»Zwei Monate, Herr, aber wir finden schon eher Gras.«
»Wenn wir keine längeren Tagemärsche machen wie heute, brauchen wir bis an den Lake Lighten, den Wellby Sahib vor zehn Jahren entdeckt hat zehn Tage, und der Weg führt durch Ling-schi-tang und Aksai-tschin, die zu den ödesten Gegenden ganz Tibets gehören.«
»Dann wollen wir versuchen, doppelte Tagemärsche zu machen. um möglichst schnell durch das böse Land zu kommen; in der Gegend des Jeschil-köl ist die Weide gut, wie Sonam Tsering, der dort gewesen ist, sagt.«
»Wie steht es mit den Tieren?«
»Die halten sich gut, nur ein Pferd und ein Maulesel sind müde, aber die lassen wir einstweilen ohne Last gehen. Für die übrigen ist die Last ein wenig schwerer geworden, seit wir die sieben Yaks nicht mehr haben. Aber das gleicht sich bald aus.«
»Wie machen sich die gemieteten Pferde?«
»Die machen sich auch gut, bis auf zwei, mit denen es zu Ende geht und die wir wohl bald verlieren werden.«
»Achte ja darauf, daß die Tiere möglichst geschont und gut gepflegt werden.«
»Sie können sich auf mich verlassen, es wird nichts versäumt. In solchen Lagern wie diesem hier bekommen sie mehr Mais und Gerste als gewöhnlich, aber da, wo es Weide gibt, gehen wir mit unseren Vorräten sparsam um.«
Am 3. September lag das flache Plateau in Schneerauch und Nebel verborgen, und es war schwer zu entscheiden, nach welcher Seite man ziehen mußte; wir verabredeten jedoch, daß keiner den Fluß aus den Augen verlieren dürfe, denn anderes Wasser schien nicht zu finden zu sein. Wir waren noch nicht weit gelangt, als der Schneefall begann, ein scharfer Südwestwind sich erhob und die wirbelnden Flocken uns sogar die allernächsten Hügel verbargen. Es schneite jetzt so dicht, daß wir fürchteten, die Spur der Karawane, die schon weit voraus war, zu verlieren. Der englischen Karte nach konnten wir von einem kleinen Salzsee nicht mehr weit entfernt sein, aber in diesem Wetter war man nicht imstande, sich von dem Aussehen des Landes einen Begriff zu machen, und es hatte keinen Zweck, des Umschauens wegen einen der Hügel zu besteigen. Wir saßen eingeschneit im Sattel, aber der Schnee taute auf unseren Kleidern, und man wurde von einem unangenehmen Feuchtigkeitsgeruch verfolgt.
Doch lange dauerte dieses Wetter nicht; die schweren, dunkelblauen und violetten Wolkenmassen zogen sich wie Vorhänge auseinander und setzten ihre schnelle Flucht nach Osten hin fort; die Aussicht wurde wieder frei. Einige Kundschafter, die vorausgegangen waren, entdeckten am linken Ufer des Flusses üppige Japkakpflanzen, mit denen unsere hungrigen Tiere gern vorlieb nahmen. Drei Antilopenpfade, die wir gekreuzt hatten, wurden für ein gutes Zeichen gehalten; es mußte also irgendwo in der Gegend Weide geben, aber wo?
Der nächste Tagemarsch führte uns über eine dem Auge ganz gleichmäßig erscheinende Ebene, die ein Kranz von Bergen umgab; unsere Richtung war im allgemeinen nordöstlich. Wir brachen gleichzeitig auf; ich ritt an der ganzen Karawane entlang, die sich imposant ausnahm. Die Tiere gehen nicht in der Reihe, sondern in zerstreuten Gruppen, und ihre gesamten Fährten gleichen einer ungeheuren Landstraße. Die Maulesel halten sich tapfer und sind immer voran. Mehrere Pferde sind angegriffen und legen sich von Zeit zu Zeit nieder, aber nur, um sofort von einem der Ladakis wieder auf die Beine gebracht zu werden. Vorn an der Spitze geht Muhamed Isa zu Fuß; er ist der sichere Magnet, der die ganze Gesellschaft nachzieht.
Nun versuchten wir, das breite, sumpfige Bett des Flusses zu überschreiten. Muhamed Isa bestieg sein Pferd, aber das Tier sank bald bis an den Bauch ein; wir mußten das Unternehmen aufgeben und statt dessen längs des Ufers weiter ziehen. Bisweilen mußten wir über Nebenflüsse mit ebenso tückischem Boden hinüber. Wenn der Lotse den Weg gezeigt hatte, folgten einige bepackte Maulesel; dann kamen die anderen Tiere alle miteinander. Sie sanken bis ans Knie in die klatschende Schlammsuppe ein, und hinter ihnen sah der Boden wie ein schwedischer Brotfladen aus.
Um 10 Uhr stellte sich der tägliche Sturm wieder ein. Im Nordwesten sah man seine äußerste Grenze mit ungeheurer Schärfe gezogen. Es war, als ob etwas großes schweres Schwarzes über das Plateau hinrolle. Jetzt ist der Sturm über uns mit seinen ersten schwarzen Fransen, zwischen denen das blaue Himmelsfeld verschwindet. Zwei Raben, die uns während der letzten Tage treu begleitet haben, krächzen heiser; einige kleine Vögel streichen zwitschernd über den Boden hin. Der Schneehagel peitscht uns mit ungeheuerer Wut; er kommt von der Seite, die Tiere wollen ihm ausweichen und drehen dem Sturme den Schwanz zu, geraten dabei aber aus dem Kurs und werden wieder auf die richtige Straße getrieben. Wir wissen nicht, wohin wir gehen. Auf einem Hügel halte ich einen Augenblick mit Muhamed Isa.
»Falls wir den Fluß aus dem Gesicht verlieren sollten, wäre es wohl besser, wenn wir einige Ziegenlederschläuche mit Wasser füllten«, schlägt er mir vor.
»Nein, laß uns weitergehen; es wird sich schon aufklären, und nachher finden wir schon Rat.«
Und der Zug schreitet weiter, trotz des Schneetreibens und des winterlichen Dunkels. Es wird hell, und wieder schweift der Blick ungehindert über das öde, hügelige, verschneite Land hin; im Westen dehnen sich die Ebenen von Ling-schi-tang aus, nach Südosten erstreckt sich die gewaltige Kette des Kara-korum mit ihren ewigen Schneegipfeln, wo der Donner rollt zwischen bleischweren, blauschwarzen Wolken. Bald erreicht uns auch dieses Unwetter, und nun werden wir in mehlfeine, trockne, dichte Schneeflocken eingehüllt, während es um uns her dunkle Nacht wird. Ich reite als der letzte im Zuge. Die Karawane ist in vier Kolonnen geteilt. Die nächste, in deren Kielwasser ich ziehe, sieht im Nebel beinahe schwarz aus; ihre Vorgängerin erscheint wie ein schmutziggrauer Knäuel, die dritte Kolonne ist nur schwach zu erkennen, und die vorderste sieht man fast gar nicht mehr. Muhamed Isa ist verschwunden. Der Schnee geht bald in große federleichte Flocken über, die wie feine, weiße Striche horizontal am Boden hinjagen. In unserer Gesellschaft ist es still; keiner spricht; die Männer marschieren vornübergebeugt mit gekreuzten Armen und über die Ohren gezogenen Pelzmützen. Die ganze Gesellschaft sieht jetzt wie Schneemänner aus, und der Schnee macht den Tieren die Lasten noch schwerer, als sie eigentlich sein sollten.
Schließlich schimmerte wieder unser alter Fluß aus der Dämmerung hervor, und wir schlugen an seinem Ufer Lager. Tsering entdeckte reichliche Japkakmengen in der Nachbarschaft, die teils grün waren, so daß wir die Tiere dorthin führen konnten, teils verdorrt uns als Brennholz sehr willkommen waren. Abends hatten wir drei Grad Kälte. Das Mondlicht verteilte sich in Strahlenbündeln in einer Atmosphäre von umherfliegenden feinen Schneekristallen. Grabesstille! Man hört das eigene Ohrenklingen, man hört den Herzschlag der kleinen Hunde und das Ticken der Chronometer, man hört die niedersinkende Nachtkälte sich in der Erde festbeißen.
Am 5. September marschierten wir über ein Gelände, das gut und eben war, besonders in der Nähe des kleinen Sees, dessen blauer Spiegel sich jetzt im Südosten zeigte. Wie alle anderen Salzseen Tibets scheint er sich in einem Stadium der Austrocknung zu befinden, denn wir legten eine längere Strecke auf seinem trocknen Schlammboden zurück, und sahen dabei höher oben deutlich ausgeprägte frühere Uferterrassen. Muhamed Isa meldete, ein erschöpfter Maulesel werde wahrscheinlich nicht mehr imstande sein, den heutigen kleinen Paß zu überschreiten, der innerhalb einer kleineren Kette unseren Weg versperrte. Das Tier kam aber doch noch über den Paß hinüber und langte auch abends im Lager an, sah aber mager und ausgemergelt aus. Zwei Pantholops-Antilopen, die man leicht an ihren hohen, leierförmigen Gehörnen erkennt (Abb. 28 und 29), entflohen nach Süden hin, und wir stießen auch auf eine Wolfsfährte. An einigen Stellen war die Weide so gut, daß wir ein paar Minuten anhielten und die Tiere fressen ließen. Manchmal war man in Versuchung, schon das Lager aufzuschlagen, aber wir zogen dennoch weiter. Schließlich lagerten wir in einer Talerweiterung mit einem stillstehenden Wasserarm, Japkak und spärlichem Graswuchs. Diese drei Dinge, die uns notwendig waren, Weide, Brennstoff und Wasser, hatten wir so bald und so nahe am Kara-korum kaum zu finden gehofft. In diesem Lager Nr. 6 beschlossen wir, den Tieren nach all den Anstrengungen der letzten Zeit einen Ruhetag zu gewähren.
Am 7. September wurden bei Tagesanbruch sechs erbärmliche Gäule von den gemieteten ausgesondert, und da ihre Lasten bereits verzehrt waren, durften sie nebst zwei Führern umkehren. Der kranke Maulesel lag tot in der Lagerstadt. Der Himmel war völlig wolkenlos, und der Tag wurde glutheiß. Doch auch in anderer Hinsicht traten wir in neue Verhältnisse ein, denn obgleich wir 30 Kilometer zurücklegten, sahen wir keinen Tropfen Wasser, bevor wir an den Punkt gelangten, wo wir das Lager aufschlugen. Es hatte den Anschein, als könnten die Monsunwolken nicht mehr über den Kara-korum kommen, und dann konnte unsere Lage vielleicht durch Wassermangel recht kritisch werden!
Die Marschrichtung des Tages ergab sich von selbst, da sich offenes Gelände zwischen niedrigen, runden, rötlichen Hügeln nach Norden hinzog. Der Boden wäre ebenfalls vorzüglich gewesen, hätten ihn nicht die Feldmäuse unterwühlt gehabt, so daß die Pferde unaufhörlich in die Löcher hineintraten und dabei fast auf die Nase fielen. Die Mäuse selbst ließen sich zwar nicht sehen, aber für ihren tiefen Winterschlaf war es noch zu früh im Jahr. Das breite Tal mündet in einen kolossalen Kessel, den auf allen Seiten prächtige Berge umgeben, ein echter »Meidan«, wie die Turkestaner ein solches Tal nennen. Im Norden erheben die Berge zwischen Kara-kasch und Jurun-kasch ihre hohen Zacken, und im Süden zieht sich der Kara-korum immer weiter von unserer Bahn hin.
Über die Ebene eilen Antilopen in leichten, flüchtigen Sprüngen; sie stehen regungslos da, um uns zu betrachten, aber sobald wir uns nähern, springen sie fort, wie von einer Stahlfeder emporgeschnellt und verschwinden bald in der Ferne.
Ein vor uns liegender Bergvorsprung erschien uns als ein passendes Ziel, wo Wasser zu finden sein mußte. Aber die Stunden vergingen, und er schien noch ebenso fern. Ein sterbendes Pferd hielt mich auf; es war unbepackt, aber dennoch zusammengebrochen. Ich empfand großes Mitleid mit ihm und bedauerte, daß es uns nicht weiter begleiten konnte. So blieb ich denn bei ihm, um ihm noch eine Weile Gesellschaft zu leisten, aber der Tag ging hin, und die beiden Männer, die sich mit ihm beschäftigten, erhielten Befehl, es zu erstechen, wenn es nicht mehr mitkommen könne. Meine Ladakis fanden es ebenfalls grausam, ein noch lebendes Pferd zu verlassen; sein Todeskampf konnte ja noch stundenlang dauern und seine letzten Augenblicke entsetzlich werden, wenn Wölfe es aufspürten. Es war ein großes, schwarzes Jarkentpferd und erhielt abends sein Kreuz auf der Liste.
In der Ferne sah man die schwarze Linie der Karawane sich nach einer Schlucht zwischen den Hügeln hinbewegen, wo ein schwacher grünlicher Schimmer auf Gras schließen ließ. Eine Weile darauf zog sie aber wieder hinunter und verschwand im Gelände; augenscheinlich hatte es auch dort kein Wasser gegeben. Wieder verfloß eine ziemliche Weile, bis wir weit draußen auf der Ebene im Westen kleine schwarze Punkte und Linien erblickten, ohne entscheiden zu können, ob es Wildesel oder unsere eigenen seien. Der Feldstecher reichte dazu nicht aus. Am Fuß eines Bergstockes im Westen glänzte ein Bach wie Silber, aber bis dorthin war es weit, und alle Entfernungen waren so groß, daß die Luftspiegelung irreführte und das, was man für eine Karawane hielt, ebenso gut der auf einer Erosionsterrasse liegende Schatten sein konnte.
Die guten Augen Roberts aber entdeckten am Fuß des Berges den Rauch eines Signalfeuers. Die Karawane war also angelangt und hatte Lager geschlagen, und nach einem Ritt von noch einer Stunde quer über die Ebene waren wir wieder mit ihr vereinigt (Abb. 57).
57. Mein Zelt, im Vordergrund Bikom Sing, Manuel und die jungen Hunde.
Wir befanden uns hier in einer Gegend, die zu dem herrenlosen Gebiete Aksai-tschin in Nordwesttibet gehört. Oder sage mir einer, welcher Macht dieses Land gehorcht? Erhebt der Maharadscha von Kaschmir Anspruch darauf oder der Dalai-Lama, oder ist es ein Teil von Chinesisch-Turkestan? Auf den Karten sind keine Grenzen angegeben und nach Steinmalen sucht man vergebens. Die Wildesel, die Yaks und die schnellfüßigen Antilopen sind keinem Herrn untertan und die Winde des Himmels kümmern sich nicht um irdische Grenzsteine. Von hier aus konnte ich also ostwärts ziehen, ohne den Wünschen der englischen Regierung zunahezutreten, und die Chinesen verzeihen es mir gewiß, daß ich von ihrem Passe gar keinen Gebrauch machte.
Die fernen Gebirge im Norden, die sich eben noch in rosigen Farben wie die Häuserreihen einer Riesenstadt am Himmel abzeichneten, erblaßten im grauen Licht der Dämmerung, und das großartige Relief wurde zerstört, als eine neue Nacht ihre dunklen Schwingen über die Erde senkte. Eine Flöte klang leise und melodisch zwischen den Zelten, und ihre Töne lockten unsere müden Wanderer zur Ruhe.
Am folgenden Morgen sah das Lager außergewöhnlich klein aus, denn die gemieteten Pferde und Maulesel waren mitten auf der Ebene geblieben, wo ihre Führer durch Graben Wasser gefunden hatten. Sie ersparten sich dadurch einen bedeutenden Umweg. Der Sicherheit halber nahmen wir nun ein paar Ziegenlederschläuche voll Wasser mit, und alle Flaschen und Kannen wurden gefüllt. Noch unmittelbar vor dem Aufbrechen sahen wir unsere Ladakis lang ausgestreckt am Rinnsal der Quelle liegen und ihren Durst gründlich stillen, und auch die Pferde erhielten so viel, wie sie nur wollten.
Die heutige Marschstrecke war vortrefflich, fest und eben; » the great trunk road« in Indien konnte nicht besser sein, kaum eine Landstraße in Schweden. Von Osten über Süden nach Südwesten zeigten sich Wolken in Masse; es stürmte wohl im Kara-korum, aber uns erreichten nicht einmal die Ausläufer des Unwetters. Hier war der Boden trocken, und der von der Karawane aufgewirbelte, überaus feine Staub zog wie eine Dampfwolke längs der Erde hin. Die anderen Kolonnen steuerten gleich mit einem verabredeten Ziel, einem Bergvorsprung im Nordosten zu. Wir näherten uns ihm und zerbrachen uns den Kopf darüber, ob wir auf seiner anderen Seite den Aksai-tschin-See, den Crosby 1903 passiert hat, erblicken würden.
Im Norden des Bergvorsprungs dehnt sich die große, flache Ebene aus, und hier zeigte sich eine geradezu verwirrende Luftspiegelung. Die Gebirge schienen sich in einer vollkommen ruhigen Seefläche zu spiegeln, aber diese Oberfläche glich nicht dem Wasser; sie war hell, leicht und luftig, sie war flüchtig wie ein Farbenspiel zwischen Wolken, es sah aus als habe sie eine Unterlage von durchsichtigem Glas. Auch die Mauleselkarawane, die wir jetzt vor uns hatten, war ein Spielzeug der Luftspiegelung; man sah sie doppelt, als ob sie zugleich auch am Rand eines Sees hinzöge.
Endlich erreichten wir den hartnäckigen Vorsprung und rasteten dort eine Weile. Robert erkletterte den Abhang, um nach dem erwarteten See auszuschauen; als er wieder herunterkam, geriet der Schutt ins Rutschen, unsere Pferde wurden scheu und gingen im tollsten Lauf nach Osten hin durch. Glücklicherweise folgten sie dabei dem Weg der Karawane, die gerade im Begriff war, Lager zu schlagen. Die Weide beim Lager Nr. 8 war die beste, die wir seit Pobrang gesehen hatten, und Wasser fanden wir beim Graben schon in 55 Zentimeter Tiefe. Für Brennmaterial hatten die Kulane gesorgt, denn ihr Dung war hier reichlich vertreten (Abb. 70). Der Platz war so behaglich, daß wir den nächsten Tag noch hier blieben und an diesem Tage einen Ausflug nach der fast wie eine umgekehrte Schüssel geformten Erhebung von Sandstein und Konglomerat machten, die im Süden der Ebene steht und ihren scharf abgeschnittenen Rand nach Norden kehrt. Oben auf ihrem Gipfel errichtete Muhamed Isa ein Steinmal ( Abb. 53). Er hatte eine Art Steinmal-Raptus; damals ahnte ich nicht, daß ich dieses Merkzeichen anderthalb Jahre später noch einmal wiedersehen sollte!
Abb. 53 fehlt im Buch
70. Namgjal mit einem Sack gesammelten Yakdungs.
Beim Grauen des nächsten Tages taten wir einen neuen Schritt in das verbotene Land hinein. Die Luft war nicht ganz klar, und man sah sie über dem Erdboden zittern; aber höher oben wurde sie durchsichtiger, denn die Kämme der Berge waren schärfer abgezeichnet als ihr Fuß. Es ging nach Osten hin; zur Rechten hatten wir die blutrote Konglomeratmasse, die wie ein Schutzdach über grünem Schiefer lag. Zur Linken zeigte sich jetzt der Aktsai-tschin-See, dessen intensiv blauer Spiegel grell abstach gegen die matten Töne, die sonst vorherrschten. Der Anblick eines Sees wirkt belebend, er verleiht der Landschaft erst den richtigen Reiz. Nach Osten hin war das Land bis an den Rand des Horizontes offen; nur in der Ferne sah man auf dieser Seite ein Schneegebirge, aber wahrscheinlich setzte sich unser Längstal auf der Nord- oder der Südseite dieses Bergstockes fort. Kurz, das Terrain war so günstig wie nur möglich, es blieb auch mehrere Tage so, und ich mutmaßte, daß der Lake Lighten, der Jeschil-köl und der Pul-tso, bekannt von Wellbys, Deasys und Rawlings Reisen, in diesem Längstal liegen dürften, das in jeder Hinsicht für das tibetische Hochland charakteristisch ist.
Der Boden erinnerte an eine völlig wurmstichige Diele; die Löcher der Feldmäuse lagen so dicht nebeneinander, daß jeder Versuch, ihnen auszuweichen, nutzlos war. Selbst auf den Zwischenräumen war man nicht sicher. Oft barst die Decke von trockner, mit Kies gemischter lockerer Erde über einem unterirdischen Gang. Robert überschlug sich einmal mit seinem Pferd. Diese lästigen Nagetiere, die von den Wurzeln der Japkakpflanzen und des Grases leben, sind höchst ärgerlich.
Ganz nahe am Ufer hatte sich die Karawane an reichlich fließenden Quellen mit herrlichstem Wasser, das als kleiner Bach in den scharfsalzigen See hineingeht, gelagert. Spät am Abend sahen wir in weiter Ferne ein Feuer brennen. War noch ein Reisender am See oder hatten sich Jäger hierher verirrt? O nein, es waren einige unserer eigenen Leute, die die Karawanentiere hüteten und ein Feuer angezündet hatten, um sich warm zu halten. Außer uns gab es keine Menschen in diesen öden Gegenden.