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Elftes Kapitel.
Große Verluste.

Kaum hatten wir uns am Westufer des Pul-tso gelagert, als Muhamed Isa sich mit der Bitte um einen Ruhetag einstellte. Die Weide sei gut, Brennstoff reichlich vorhanden und die Tiere müßten sich verschnaufen. Ich ging um so lieber auf seinen Wunsch ein, als dies gut mit meinem eigenen Plan – einer neuen Seefahrt – zusammenpaßte. Ich wollte am nächsten Morgen in aller Frühe mit Robert und Rehim Ali schräg über diesen See in der Richtung eines abschüssigen Berges, der sich in N 56° O zeigte; von dort gedachte ich dann wieder nach dem Südufer hinüber zu segeln und an einem Berg in S 62° O zu übernachten. Am nächsten Morgen wollte ich die Nordostecke des Sees erreichen, wo die Karawane uns auf den dort gelbgrün schimmernden Weiden erwarten sollte. Ich brauchte also auf dem See zwei Tage zu einer Wegstrecke, die die Karawane an einem Tag zurücklegte. Proviant, warmes Zeug und Bettstücke wollten wir aber mitnehmen, nebst einer Menge Feuerung, um nicht wieder so von allem entblößt zu sein, wie das letzte Mal. Wasser war nicht nötig; das Seewasser war trinkbar, wenn es auch einen schwachen Beigeschmack hatte.

Einladend und idyllisch, zeigte der See am Abend eine ganz blanke Fläche und lag dunkel, träumerisch und schweigend zwischen den mit ewigem Schnee bedeckten Bergen. Große, qualmende Dungfeuer brannten gemütlich zwischen den Zelten, die Männer bereiteten sich ihr Abendessen oder flickten unter eifriger Unterhaltung Packsättel; überall war es still und friedlich, und der Mond schwebte silberweiß und kalt zwischen rosenroten Wolken.

Da höre ich fern im Osten einen sausenden Ton, der schnell anschwillt, näher kommt, sich in ein betäubendes Donnern verwandelt, und im Nu fegt einer der heftigsten Stürme über unser Ufer hin. Ich rufe mir Leute, damit meine Zeltöffnung zusammengebunden wird, ich höre Robert ein Indianergeheul ausstoßen, als seine luftige Wohnung umfliegt und in Fetzen zerrissen zu werden droht. Aber sie wird von einem Dutzend Männer wieder in Ordnung gebracht. Dann wird mein Zelt mit Sandwällen und Kisten befestigt; ich bin mit meinem Kohlenbecken eingesperrt, habe aber ein kleines Guckloch in der Zeltöffnung. Der Mondschein glitzert hell in der Brandung der sich gegen das Ufer wälzenden Sturzseen, ein herrliches Schauspiel, wild, unheimlich, beinahe theatralisch prächtig. Ein heftiger Sturm erster Ordnung, der rücksichtslos dreinfährt! Es klang, als wenn Schnellzüge unter überbauten Bahnhallen durchrollen, es peitschte, brauste und heulte, und taktfest und dröhnend schlug die Brandung gegen das Ufer. Die eben noch so freundlich flackernden Feuer verlöschen, die Brände werden wie Raketen fortgeweht; Muhamed Isas Zelt höre ich wie ein losgemachtes Segel flattern; dann vernimmt man keine menschlichen Stimmen mehr, nur das Heulen des Sturmes und das Donnern der Uferwellen stört die Ruhe der Wildnis. Ich brauche nur aus meinem Guckloch hinauszuschauen, um in dem pressenden Druck der Luftmassen beinahe zu ersticken! Nur den Yaks gefällt solches Wetter, sie grunzen und schnauben vor Vergnügen, wenn ihre langen, schwarzen Seitenfransen in den Windstößen flattern.

Der 28. September brach jedoch klar an, der Sturm war auf seinem Zug nach Westen weitergeeilt, und nur das schwermütige Plätschern der Dünung am Uferrand ist von seiner Wut übriggeblieben. Bevor wir auf der ersten Lotungslinie den halben Weg zurückgelegt hatten, lag der See wieder glatt wie ein Spiegel; nur war er mit kleinen, vom Sturme zurückgebliebenen Schaumflocken eigentümlich gefleckt. Das Wasser war nicht klar, dazu war es zu sehr aufgewühlt worden. Wir brauchten wenig mehr als eine Stunde, um den Felsenvorsprung zu erreichen und hatten dabei eine größte Tiefe von beinahe 17 Meter gelotet. Im Norden hatten wir eine bedeutende Bucht liegen lassen, die die Karawane umgehen sollte.

Nach kurzer Rast ruderten wir nach Südosten weiter und erhielten von einer schwachen nördlichen Brise gute Hilfe. Diesmal erreichten wir das Ufer ohne Abenteuer und vor Sonnenuntergang. Wir gingen mit Sack und Pack an Land, Rehim Ali sammelte Haufen von trocknem Dung, Robert brachte den Lagerplatz in Ordnung, und ich selber kreuzte noch in der Abendbrise umher, bis die Dämmerung kam und kühles Dunkel auf unser Leben à la Robinson Crusoe herabsenkte. Wir setzten uns um das Feuer, plauderten und kochten. Das Mahl aus gebratenem Schafshirn und gebratener Schafsniere schmeckte unter freiem Himmel trefflich. Westwärts konnten wir die Feuer der Karawane im Lager Nr. 23 sehen. Später am Abend erhob sich wieder ein heftiger Ostwind, und kaum zwei Meter von uns tobten die Wellen gegen das Ufer. Wir hüllten uns in die Pelze und starrten in das Feuer – nie hat man den Kopf so voller Pläne und Hoffnungen, als wenn der Blick dem Spiel der flackernden, blauen Flammen und den in der Glut entstehenden feurigen Figuren folgt!

Aber der Sturm wurde stärker, wir konnten das Feuer kaum noch schützen und krochen bald unter das Boot, das uns diesmal unzerteilt als Schutzdach diente. Alle drei lagen wir in diesem provisorischen Zelt und verstärkten es noch durch das Segel und zwei geteerte Schutzhüllen, mit denen die Bootshälften während des Marsches bedeckt sind, die wir aber mitgenommen hatten, um bei schlechtem Wetter unser Nachtzeug und unsere Betten zu schützen. An der Decke hing eine Laterne, die wir auslöschten, als wir fertig waren; jetzt erhellte der Mond das Segel, der Sturm heulte und jammerte um das Boot herum, die Uferbrandung aber wiegte uns bald in Schlaf.

Das Minimumthermometer zeigte -10,2 Grad, in der Nähe der Seen ist es stets milder. Früh waren wir wieder auf den Beinen, ein prächtiges Feuer belebte uns neu, und an seinen Flammen nahmen wir unser Frühstück ein, wobei die Sonne Augenzeugin war. Unsere nächtliche Koje wurde wieder in ihr Element gebracht, das Gepäck verstaut, wir stiegen an Bord und steuerten ostwärts nach der Mündung eines Sundes, der den Pul-tso in zwei Becken teilt. Die Breite beträgt hier einige 60 Meter; in dem südlichen Becken war das Wasser manchmal von kleinen Krustentieren beinahe rotgefärbt. Wir kreuzten es nach Südwesten und fanden kaum 14 Meter Tiefe. Nun erhob sich eine recht frische Brise aus Nordwesten, und die Wogen plätscherten und rauschten munter gegen das Boot. Wenn wir nur Südwestwind bekämen, so könnten wir bequem nach dem verabredeten Sammelplatz segeln. Wir wollen eine Weile am Ufer warten! Es ist hübsch geschweift und hat vier Terrassen, jede ungefähr 2 Meter hoch.

Auf der Rückfahrt nach Nordost wurde eine neue Linie abgelotet, deren größte Tiefe fast 19 Meter betrug. Jetzt hatten wir günstigen Wind von der Seite, ließen die Bootschwerter hinab, hißten das Segel und schaukelten weiter nach dem Sunde hin. Als wir gerade seiner Ostspitze zuglitten, tauchte ein Reiter mit einigen ledigen Rossen und mehreren Fußgängern auf. Es war Muhamed Isa, der uns entgegengekommen war. Jetzt sollte Rabsang versuchen, Rehim Ali abzulösen; aber er ging so ungeschickt mit den Rudern um, daß ich es vorzog, unseren alten Ruderer wieder mitzunehmen. Wir sagten der Rettungsgesellschaft Lebewohl und steuerten nordwärts über das nördliche Becken des Sees, wo die Tiefe höchstens 3 Meter betrug. Leider sprang der Wind nun nach Norden um und es wurde kalt, so daß wir während der beiden Stunden, die uns vom nördlichen Ufer trennten, gründlich froren.

Muhamed Isa hatte uns aber eine betrübende Nachricht gebracht; im Lager Nr. 23 waren wieder zwei Pferde und ein Maulesel gestorben; am Abend starb noch ein Pferd. Sonst war die Karawane im Lager Nr. 25 gesund und munter. Um so verwunderter waren wir, als wir vom See aus ein großes Feuer auf dem verlassenen Lagerplatz im Westen erblickten. Die Karawane war morgens gegen acht Uhr aufgebrochen, und jetzt war es vier Uhr nachmittags. Keine Katze war im Lager Nr. 23 zurückgeblieben, und doch brannte dort ein Feuer! Wir sahen Flammen und Rauch, der sich wie ein großer Schleier am Ufer entlangzog. Rehim Ali glaubte, daß die Post aus Ladak uns endlich eingeholt habe.

»Nein, das ist unmöglich, ein Postbote kann nicht so weit gehen und seinen Proviant mitführen!«

»Aber das Lagerfeuer hätte gleich nach dem Abzug der Karawane erlöschen müssen! Ohne Menschen brennt kein Feuer so hell!«

»Der Rauch des Lagers Nr. 25 ist vom Lager Nr. 23 aus deutlich zu sehen. Hätte die Post das Lager Nr. 23 erreicht, dann hielte sie sich dort keine Minute auf, sondern würde weiter eilen, um noch vor Nacht zu uns zu stoßen.«

»Ja, Sahib, vielleicht aber ist der Bote so erschöpft, daß er um Hilfe signalisiert.«

»Können es nicht auch Tschangpas sein?« bemerkte Robert.

»Ja freilich, es könnenTibeter sein, die aus dem Süden abgeschickt sind, uns Halt zu gebieten oder uns wenigstens zu beobachten und den nächsten Häuptlingen Bericht zu erstatten!«

»Master, vielleicht müssen wir eher haltmachen, als wir glauben! Was wird dann?«

»Ich glaube nicht, daß die Tibeter uns so weit nördlich hindern können; zum Rückzug können sie uns nicht zwingen. Im schlimmsten Fall müssen sie uns in Mitteltibet ostwärts nach China oder Birma ziehen lassen, wie Bower dies tat.«

»Seht nur, wie es qualmt; dies große Feuer muß etwas zu bedeuten haben!«

»Ja, ein richtiges Spukfeuer, ein Sankt-Elmsfeuer! Die Seegötter haben es angezündet, um uns irrezuführen!«

»Ich glaube, es ist die Post; aber unheimlich sieht das Feuer aus«, sagte Rehim Ali und ruderte aus Leibeskräften.

»Nur keine Angst! Ist es die Post, dann hören wir noch vor Abend von dem Boten; ich glaube, das Lagerfeuer ist einfach nicht ganz erloschen gewesen, sondern hat an einer geschützten Stelle tagüber weiter geschwelt; als der Wind sich drehte, hat irgendein Reservehaufen Dung Feuer gefangen und ist nun bei dem nördlichen Wind in hellen Flammen aufgegangen.« Mit dieser Vermutung mußten wir uns bescheiden.

Um sechs Uhr waren wir wieder »daheim«. Nachdem ich eine sehr nötige Mahlzeit eingenommen hatte, ließ ich mir Muhamed Isa und Sonam Tsering zu einer Beratung rufen.

»Wieviel Pferde haben wir noch?« – »Vierzig.«

»Wieviel Maulesel?« – »Vierunddreißig.«

»Sind sie.in einigermaßen gutem Zustand?«

»Nein, Sahib, nicht alle; vier meiner Pferde und sechs von Sonam sind Todeskandidaten, und fünf Maulesel.«

»Wir haben also in den nächsten Tagen noch mehr Verluste zu erwarten?«

»Ja, leider! Aber um zu retten, was sich retten läßt, bekommen jetzt nur die kräftigsten Tiere Mais und Gerste; die Todeskandidaten müssen für sich selber sorgen bis ihre Stunde kommt. Sie sind in jedem Fall verloren!«

»Das ist barbarisch; gib ihnen wenigstens etwas! Vielleicht sind einige noch zu retten.«

»Wir müssen mit der Furage haushälterisch umgehen, Sahib.«

Die Anordnungen des Karawan-baschi waren klug, aber grausam.

Um sieben Uhr kam der Sturm – es war der dritte Abend, an dem wir heftigen Ostwind hatten; eine sonst in Tibet äußerst seltene Windrichtung. Er kam wie ein Schlag und machte dem Frieden ein Ende, brach alle Unterhaltung ab, störte alle Arbeit, löschte die Lagerfeuer, wehte Wolken von Sand und Staub in mein Zelt und hinderte die müden Tiere beim Weiden. Denn bei Sturm grasen sie nicht. Sie stellen sich mit dem Schwanz gegen den Wind, halten alle vier Beine möglichst dicht zusammen und lassen den Kopf hängen. So bleiben sie stehen und warten, bis es wieder ruhig wird. Sie mußten die ganze Nacht warten und träumten wohl, schläfrig und mit schwerem Kopf, von der Herzlosigkeit harter Männer und den friedlichen, sonnigen Halden bei Tankse und Leh. Am Abend inspizierte ich sie mit Muhamed Isa. Der Mond schien hell, aber sein kaltes, bläuliches Licht machte den durchdringenden Wind noch eisiger als gewöhnlich. Wie dunkle Gespenster standen die Tiere in der Nacht da, so regungslos, daß man hätte denken können, sie seien schon zu Eis geworden. Nicht die Kälte, sondern der Wind bringt unsere Tiere um; alle meine Leute sagen es; der Winter zieht mit aller Macht in unsere Gebirge ein. Die Luftverdünnung und die spärliche Weide werden aber wohl das allerschlimmste sein.

Der Sturm pfiff klagend um die Ecken, als ich einschlief, und derselbe Ton schlug an mein Ohr, als der mit einem dicken Winterpelz vermummte Tsering mir am Morgen das Kohlenbecken brachte. Ein düsterer Morgen! Im Zelt verschwanden alle Gegenstände unter einer dicken Schicht von Staub und Flugsand, und ich war schon völlig durchfroren, ehe ich noch in den Kleidern war. Pferde und Maulesel waren nach Osten weitergezogen, aber ich brach erst um neun Uhr auf – in rasendem Sturm. Unmittelbar vor dem Lager lag das zuletzt verendete Pferd kalt und hart wie Eis. Tsering erzählte, er sei kaum einen Steinwurf von dem Kadaver entfernt gewesen, als auch schon Wölfe herangeschlichen seien, um sich daran gütlich zu tun.

Das Gelände ist gut, Sand, Staub und feiner Kies; später wird der Boden intensiv ziegelrot. Man sieht nicht weit, die Luft ist dunstig und der Himmel bewölkt, aber soweit der Blick reicht, sehen wir nur niedrige Berge. Aus kleinen Nebentälern im Norden kommen ein paar fest zugefrorene Bäche. Langsam steigen wir zu einer Paßschwelle (5239 Meter) hinauf, von deren Höhe das Land nach Osten hin gerade so flach und günstig wie bisher erscheint. Hier ziehe ich auf Rawlings Weg; seine Karte entspricht auch in der kleinsten Kleinigkeit den wirklichen Verhältnissen.

Es ist etwas ganz anderes, auf ansteigendem Gelände gegen den Sturm anzureiten, als bergab den Wind im Rücken zu haben. Wir pflügen uns vorwärts durch den Wind, der durch die Pelze dringt, und sind schon nach zehn Minuten total erstarrt. Kaum kann ich die Hände zur Kartenarbeit gebrauchen; zwischendurch stecke ich sie in die Pelzärmel, bücke mich soweit vornüber wie möglich und lasse das Pferd seinen Weg allein finden. Vor Abend starben noch zwei Pferde; ein drittes wurde in der Nähe des Lagers geführt; es sah dick und fett aus, taumelte aber nur noch vorwärts.

Als ich ins Lager einritt, hatte ich von diesem greulichen Tag mehr als genug. In der Proviantburg der Ladakis brannte ein schönes Feuer, an dem wir, auf Tsering wartend, plaudernd eine Stunde zubrachten. Die Lagerburg schrumpfte von Tag zu Tag beängstigend zusammen, aber die Tiere starben in so schnellem Tempo, daß die Lasten trotzdem immer zu schwer waren (Abb. 64). Muhamed Isa glaubte jedoch, daß noch genug Maulesel bis an den Dangra-jum-tso aushalten würden und kein Gepäck zurückgelassen zu werden brauchte. Im Notfall könnten wir das Boot und ein paar Zelte opfern. Leere Proviantkisten wurden sofort als Feuerung verbraucht. Kein Zweifel, wir mußten den fernen See im Zustand höchster Hilfsbedürftigkeit erreichen! Ward uns dann keine Hilfe zuteil, so konnten wir nirgends mehr hin! Dann war es den Tibetern leicht, uns festzuhalten. Wir waren daher eine Beute größter Aufregung, und diese nahm von nun an mit jedem Tage zu.

siehe Bildunterschrift

64. Pferde und Maultiere in unfruchtbarem Lande.

»Wenn die Tiere im selben Tempo wie jetzt zusammenbrechen, werden wir nicht bis zu den ersten Nomaden kommen!«

»Sahib, die stärksten leben noch.«

»Ja, das ist immer dein Trost; aber in wenigen Tagen werden auch einige der stärksten Todeskandidaten sein.«

»Der Wind bringt sie um; wenn wir nur einige Tage ruhiges Wetter hätten!«

»Dazu ist in dieser Jahreszeit keine Aussicht. Dieser Sturm hat jetzt 27 Stunden angehalten. Dann aber kommen die Winterstürme aus Südwest!«

Am 1. Oktober schrieb ich in mein Tagebuch: »Was werden wir in diesem neuen Monat erleben! Um acht Uhr morgens tobte der Sturm noch immer, und der Ritt dieses Tages war noch schlimmer als der vorige.«

Flaches, offenes Land. Nur ein paar Hügel von rotem Sandstein und Konglomerat nebst grünem Schiefer, sonst kein festes Gestein. Die im Südosten thronende »Deasy Group« kommt immer näher. In einer gefrorenen Blutlache liegt das Pferd Nr. 27, kalt und nackt, da der Packsattel des Heues wegen mitgenommen wurde. Während der Nacht waren drei Pferde durchgebrannt und wurden von Muhamed Isa und drei Ladakis gesucht. Zwei hatten sie wiedergefunden, nach dem dritten suchte Rabsang noch. Dumme Tiere, sich so unnötig müde zu laufen! Eine unerklärliche Unruhe schien sie von der Stelle, wo man ihnen ihre Lasten abnahm, fortzutreiben. Die Armen glaubten wohl, selbst besseres Gras finden zu können, als unsere Hartherzigkeit ihnen bot.

Wir näherten uns einem ganz kleinen Süßwassersee, an dem sowohl Wellby wie Deasy schon gerastet hatten. Ein Viertel seines Spiegels war zugefroren, und am westlichen Ufer hatte der Sturm einen fußhohen Wall zertrümmerten Eises aufgeschichtet. Ein eisglänzender Bach ging von der Deasy Group nach dem See hinunter. Das Wasser des Sees war bis unter den Gefrierpunkt abgekühlt; nur einige Stunden vollkommener Windstille und der ganze See fror zu. Am Ufer fand Sonam Tsering drei alte Zeltstangen, an denen noch die eisernen Ringe saßen. Er konnte sich nicht erinnern, daß Rawling sie zurückgelassen hatte; wahrscheinlich waren sie noch ein Andenken an Wellbys Besuch.

Tundup Sonam hatte eine Antilope erlegt, und zu Mittag erhielt ich duftenden, am Spieß gebratenen »Schißlik«. Tsering verstand seine Sache; er war bei Beach und Lennart, die ich 1890 in Kaschgar traf, Koch gewesen und war geschickter als »der schwarze Kerl«, wie Muhamed Isa den seligen Manuel verächtlich nannte.

Die Lamaisten unter meinen Ladakis teilten mir im Vertrauen mit, sie beteten allabendlich zu ihren Göttern um glückliche Reise. Sie wünschten ebenso eifrig wie ich selber, daß wir Schigatse und das heilige Kloster Taschi-lunpo, wo der Taschi-Lama residiert, erreichen möchten. Denn dann würden sie einen Ehrentitel erhalten, ebenso wie ein Mohammedaner »Hadschi« wird, wenn er in Mekka war. Gern wollten sie als fromme Gabe sieben Rupien zu Butter für die Altarlampen spenden, ja, Seiner Heiligkeit dem Taschi-Lama auch noch einen ganzen Monatslohn als Geschenk opfern. Bei ihnen handelte es sich also um eine glücklich zu Ende zu führende Wallfahrt; bei mir darum, möglichst viele weiße Flecke auf der Karte von Tibet zu erforschen. Es muß uns glücken! O Gott, laß uns Glück haben!

Daß wir keinen einzigen Mann als Eskorte hatten, daran dachte keiner. Wir näherten uns doch mit jedem Tag bewohnten Gegenden und drangen in ein Land, das kürzlich (1904) mit seinem mächtigen Nachbar im Süden in Fehde gelegen hatte. Die Tibeter waren den Europäern immer feindlich gesinnt; nach dem Blutbad bei Guru und bei Tuna aber mußten sie es wahrscheinlich noch viel mehr sein. Ich hatte weder Paß noch Erlaubnis, in das »Verbotene Land« einzudringen! Wie würde es uns ergehen? Meine Aufregung stieg immer mehr. Würden wir gar wie Feinde empfangen und uns schließlich noch zurücksehnen nach den Wölfen am Ufer des Jeschil-köl?

2. Oktober. Nachts 20,2 Grad Kälte – und Rabsang läßt nichts von sich hören! Ist ihm etwas zugestoßen? Schukkur Ali wird mit Fleisch, Tee und Brot auf der Karawanenspur zurückgeschickt. Im Lager wird ein Maulesel, der nicht mehr aufstehen kann, getötet. Wenn der Wind gelegentlich aufhört, wird es ganz seltsam still. Die Landschaft bleibt einförmig, eine endlose, langsam ansteigende Ebene. Im Norden und Süden setzen sich die beiden Bergkämme mit den Schneemassiven fort. Überall wächst Gras und Japkak. Stunde auf Stunde reiten wir nach Ostnordost, ohne irgendeinen Szenenwechsel. Ich sehne mich nach dem Augenblick, da wir nach Südosten abschwenken können; aber bis dahin ist es noch weit, denn ich muß erst das ganze Gebiet, das Rawling schon erforscht hat, umgehen. Für die Tiere wird es dann noch schwerer werden, weil wir mehrere Pässe überschreiten müssen. Die Bergketten ziehen sich von Ost nach West; einstweilen wandern wir noch zwischen zweien von ihnen hin, später müssen wir aber über sie alle hinweg! Mit großer Spannung mustere ich täglich die Tiere und setze meine Hoffnung auf die kräftigsten, die Elitetruppe, die bis zuletzt aushalten soll. Wie drückt es mich nieder, wenn eines von ihnen aus dem Spiel ausscheidet!

Rot wie Blut stieg an diesem Tag der Vollmond über den Bergen im Osten auf. Er wurde schnell bleicher, je höher er stieg; und die Schneegebirge leuchteten so weiß wie der hellste Rauch eines Dampfers. Der Abend war windstill, und im Lager Nr. 28 ließ das Zelt sich leicht erwärmen. Die Kälte sank jedoch bis auf -22,2 Grad – und Rabsang wurde noch immer vermißt! Ob ihn Wölfe zerrissen hatten? –

Am folgenden Morgen aber kam er in Begleitung Schukkur Alis zurück, jedoch ohne das Pferd. Er hatte die Spur des umherirrenden Tieres lange verfolgt und hatte dann im Ufersand des kleinen Sees die Schilderung eines tragischen Ereignisses von beinahe dramatischer Wirkung lesen können. Die Spur bewies, daß das Pferd wie toll dahin gerannt war, auf beiden Seiten von einer Schar Wölfe verfolgt. Sie hatten ihr Opfer auf eine schmale Schlammzunge hinaufgejagt, die in einer Spitze endete. Von dem Pferde hatte er dort nur eine Spur gesehen, die von der Spitze in dem langsam abfallenden Seegrund verschwand. Aber die Wölfe hatten eine Doppelspur hinterlassen, sie waren umgekehrt! Sie hatten das Pferd auf der Landzunge, wo es nicht weiterlaufen konnte, überrumpeln wollen, aber sie hatten sich verrechnet. Rabsang meinte, ihre zurückführende Spur habe ganz verdutzt ausgesehen! Das hilflose Pferd, durch den hungrig und wild mit aufgerissenem Rachen hinter ihm herstürmenden Tod zur Verzweiflung getrieben, war ins Wasser hineingelaufen und hatte lieber ertrinken als in die Klauen seiner Verfolger fallen wollen. Kein einziger Tropfen Blut war zu sehen gewesen. Hätte es versucht, den See zu durchschwimmen, müßte es am Starrkrampf gestorben sein; wäre es zum Ufer zurückgekehrt, dann hätten die Wölfe es hier erwartet und sich nicht ins Gebirge zurückgezogen. Es war ein Held, und ich vermißte es jetzt doppelt; es war eins der besten in der ganzen Karawane, ein Sanskari, und hatte lange die schwersten Kisten mit Silberrupien getragen. Das Bild seines mutigen Sprunges in die unbekannte Tiefe des Sees hinein und seiner an Wahnsinn grenzenden Verzweiflung verfolgte mich noch lange, wenn ich abends wach lag, und ich dachte dabei an das Roß, auf dem der Römer Marcus Curtius den Todessprung in den Abgrund ausführte.

Der Marsch am 3. Oktober führte uns in derselben gleichmäßigen Ebene, auf der schließlich jede Spur von Vegetation aufhörte, weiter. Beim Lager Nr. 29 gab es leider keine Weide, und so mußten wir die Tiere an den Fuß der Berge führen, wo auch nur spärliches Gras wuchs.

4. Oktober. Wir setzen unseren Zug nach Ostnordost fort und das Land verändert sich nicht im geringsten; man kommt sich wie ein Eichhörnchen auf einer rollenden Walze im Käfig vor, man geht immerfort und befindet sich trotzdem immer in derselben Landschaft, das Panorama bleibt sich gleich, im Norden und im Süden zeigen sich dieselben Gipfel, nur ihren Sehwinkel verändern sie langsam. Dieses große, offene Längstal nannte Deasy »Antelope Plain«. In seinem südwestlichen Teil ist Rawling auf zwei Linien gereist, und zwischen ihnen zieht sich meine Route auf dem linken Ufer der sehr breiten, jetzt ausgetrockneten Abflußrinne des Tales hin. In Ostnordost ahnen wir den Salzsee, an dessen Südufer Wellby entlang zog, aber noch ist er nicht sichtbar. Gelbes Gras tritt wieder auf beiden Seiten auf, und an einem kleinen Becken herrlichen Quellwassers wird das Lager errichtet. Sobald die Tiere von ihrer Last befreit und losgelassen sind, kann man annehmen, daß ein Drittel sofort zu grasen beginnt, das zweite Drittel sich mit herabhängendem Kopf stehend ausruht, das dritte aber sich sofort niederlegt. Die ersten sind die besten und kräftigsten Tiere, die letzteren die am meisten erschöpften. Unter letzteren befand sich auch das Pferd Nr. 10, das am folgenden Morgen getötet werden mußte; in der Totenliste hatte es die Nr. 25!

Muhamed Isa bricht jetzt morgens nicht vor ½9 auf; denn er hat die Beobachtung gemacht, daß die Tiere in den ersten Stunden nach Sonnenaufgang mit besserem Appetit grasen. Das breite harte Flußbett bietet uns einen vorzüglichen Weg, eine wahre Chaussee, die außerordentlich langsam abwärtsgeht. Während der letzten Tage haben die Zeiger der Aneroide beinahe unverändert auf denselben Ziffern gestanden. Im Norden haben wir noch immer den Kven-lun, bald als schwarze Bergmassen, bald mit schneegekrönten flachen Gipfeln.

Um ein Uhr halte ich stets mit Robert und Rehim Ali kurze Rast, um die meteorologischen Instrumente abzulesen. Das Journal wird von Robert mit größter Sorgfalt geführt. Ich selber zeichne ein Panorama und mache Peilungen, während unsere Pferde grasend umhergehen dürfen. Aber Essen gibt es dann nicht, denn wir speisen täglich nur zweimal, um 8 Uhr morgens und 6 Uhr abends. Dennoch ist uns die kleine Mittagsrast willkommen. Wir sind vorher durchgefroren; auf der Erde kann man sich leichter warm halten als im Sattel, wo man dem Wind völlig preisgegeben ist.

Den ganzen Tag haben wir keinen Tropfen Wasser gesehen, und daß die Karawane nach einer Quelle ausschaut, sieht man nur zu deutlich an den Spähern, die sich von Zeit zu Zeit bald nach rechts, bald nach links von den anderen absondern. Schließlich entdecken sie einen großen Tümpel und dort werden die Zelte aufgeschlagen. Während der letzten Tage sind wir täglich 15 Kilometer marschiert – mehr halten wir nicht aus.

Am Morgen des 6. Oktobers sind wir kaum aufgebrochen, als der Lagerplatz auch schon von Wölfen inspiziert wird, die wieder auf ein Pferd lauern; diesmal aber sind sie die Angeführten. Sie folgen uns ebenso treu wie die Raben und ziehen vielleicht nach und nach Verstärkungen an sich. Strenge Befehle sind ergangen, daß die Nachtwache für die Tiere verantwortlich ist und bestraft wird, wenn wir durch Wölfe Verluste erleiden. Auch die sechs Raben begleiten uns noch immer. Sie setzen sich, wenn wir lagern, sie brechen mit uns zugleich auf und verfolgen uns mit ihrem heiseren Krächzen den ganzen Tag hindurch.

Wir gehen über das Flußbett, das jetzt Wasser und Eis enthält, aber noch immer verdecken niedrige Hügel den erwarteten See. Sonst ist der Boden eben, so eben, daß nur die schwache Bewegung des Stromes angibt, nach welcher Richtung sich das Gelände senkt. Gelbe Sandtromben im Nordwesten verraten das Herannahen eines Sturmes, der aus heiterem Himmel über uns kommt. Innerhalb einer halben Stunde geht er in einen Oststurm über, ein typischer Zyklon. Erschöpft vor Kälte kommen wir im Lager 32 an.

Die Hündchen sind jetzt schon groß und treiben allen möglichen Unfug. Auf der Konduitenliste des weißen Puppy steht, daß er eines meiner Kartenblätter zerrissen hat. Zum Glück fehlte keiner der einzelnen Fetzen. Vor meinem Zelt fand Tsering auch eine Zahnbürste, die der dumme Hund als überflüssig angesehen haben muß. Der braune Puppy zerbiß einen Aräometer, der in einem Lederfutteral umherlag. Ihre Erziehung ist höchst mangelhaft, aber sie sind ja auch Findelkinder von Srinagars Straßen, und man kann daher wohl nicht viel von ihnen verlangen. Der Begriff »Disziplin« ist ihnen völlig unbekannt, sie gehorchen gar nicht, wenn man sie ruft. Wenn aber Tsering mit dem Mittagessen hereinkommt, dann sind sie gleich bei der Hand, spielen die Liebenswürdigen und drängen sich auf jede Weise in den Vordergrund. Ein großes Verdienst haben sie aber doch: sie halten mir nachts die Füße warm, denn dann liegen sie nebeneinander zusammengerollt auf meinem Bett.

24,8 Grad Kälte in der Nacht zum 7. Oktober! Das war wohl der Grund, weshalb ich einen so gräßlichen Traum hatte: ein ganzes Heer schwarzer Tibeter kam uns entgegen und trieb uns nach Norden zurück. Wasserbecher und Tinte sind Eisklumpen.

Jetzt haben wir Rawling weit hinter uns gelassen, und nun ist der Weg Wellbys und Malcolms die letzte Route, die in dieser Gegend zurückgelegt worden ist. Wir folgen noch immer demselben Tal wie jene Expedition.

Unser Vorrat an Yakfleisch war gerade zu Ende, als Tundup Sonam den Augenblick benutzte, eine Antilope zu erlegen. Eine zweite, bedauernswerte hatte er nur angeschossen, und sie entwischte ihm auf drei Beinen. Droben auf dem Hügel spazierte einer unserer Wölfe umher. Er hatte den Verlauf der Jagd genau beobachtet, und die verwundete Antilope wurde ohne Zweifel seine Beute.

In seinem dicken grauen Winteranzug geht Muhamed Isa, die Pfeife in der Mundecke, einher und lotst die Karawane gerade zwischen den Hügeln aufwärts, als wir sie einholen. Wir erreichen den Gipfel des Hügels. Ein weißer Rand zeigt sich und unter ihm ein blaugrüner Steifen, der immer größer wird. Nach einigen Minuten haben wir den ersehnten Salzsee unmittelbar unter uns, da die Hügel steil nach dem südlichen Seeufer abfallen. Jetzt stimmen die Ladakis in schmelzenden, weichen Tönen eines ihrer schönsten Marschlieder an; sie sind glücklich, an diesem See, von dem ich tagelang geredet habe, angelangt zu sein, und denken wie ich, daß wir eine neue Etappe auf dem weiten Weg nach dem Dangra-jum-tso erreicht haben. Nach Nordwesten hin imponiert die Landschaft mit dem gewaltigen Hochgebirge voll schneebedeckter Gipfel und großer Gletscher. In der westlichen Verlängerung des Sees ist das Flachland kreideweiß von Salz, und dort tanzen weiße Tromben wirbelnd an dem öden Ufer.

Nach Ostnordosten hin ist das Längstal noch ebenso offen wie bisher; dort ist Wellby entlanggezogen. Jetzt können wir also, wann wir wollen, nach Südosten abschwenken, ohne Rawlings Route weiter zu berühren. Dort wartet unser ein neues Land, das große Dreieck zwischen Wellbys, Bowers und Dutreuil de Rhins' Routen. Einer meiner sehnlichsten Wünsche war ja gewesen, wenigstens auf einer Linie den großen weißen Fleck zu durchqueren, der auf der großen englischen Karte von Tibet keine andere Bezeichnung trägt als » Unexplored«!


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