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Zwölftes Kapitel.
In unbekanntem Lande.

Mitten in der Nacht weckten mich sieben Maulesel, die dicht neben meinem Zelt standen und auf dessen Stricke trampelten. Ich ging hinaus, um sie fortzujagen, aber als ich sah, wie erbärmlich sie froren und wie dicht sie sich aneinandergedrängt hatten, um sich gegenseitig zu wärmen, ließ ich sie gewähren. Einer von ihnen lag am Morgen mit unförmlich geschwollenem Bauche tot neben meinem Zelt.

Grüner Schiefer bildete in dem sonst weichen Boden kleine Schwellen und Leisten, so daß die Erde aus der Ferne schwarzgestreift aussah. Hier und dort tauchten Quarzitadern auf. Am östlichen Horizont erhoben sich rotviolette Hügel und das Land wurde unebener. Nach einer Weile ritten wir an den Schafen vorbei, die von den Männern in der Karawanenspur getrieben wurden. Sie zogen sehr langsam dahin, da sie während des Marsches grasten; noch hatten wir 18 behalten. Auch heute sah es mit dem Wasser böse aus. Beim Graben wurde allerdings in ein Fuß Tiefe welches gefunden, aber es war salzig. Der Tagesmarsch wurde infolgedessen länger als gewöhnlich, 19,3 Kilometer; da hatten wir aber auch eine Quelle erreicht.

Am Abend vor einem Ruhetag hat man das Gefühl, als sei Samstagabend und morgen keine Schule. Den 9. Oktober wollten wir im Lager Nr. 34 zubringen; ich hatte seit 17 Tagen keinen Rasttag gegeben. Alle freuten sich darauf, und die Ladakis veranstalteten in Erwartung des Ruhetages ein Fest im Freien um ein großes Lagerfeuer herum. Die Bewirtung war dieselbe wie immer, Tee in hölzernen Bechern, geröstetes Mehl und gebratenes Antilopenfleisch – Spirituosen in irgendeiner Gestalt durften in meiner Karawane nicht vorkommen. Aber die Stimmung war trotzdem ausgelassen; die Männer tanzten um das Feuer und sangen ein munteres Lied mit einem Refrain, dessen Höhepunkt ein barbarisches, gellend klingendes Gelächter bildete. Sie freuten sich, daß wir so weit vorgerückt waren, und besaßen Widerstandskraft genug, um noch schwerere Strapazen zu ertragen. Vom Kara-korum an haben wir 533 Kilometer zurückgelegt, nach dem Dangra-jum-tso sind es noch 660; aber wir sind dem See näher als Leh und haben also wirklich mehr als die Hälfte des Weges hinter uns!

Nach 23 Grad Kälte in der Nacht brach der 10. Oktober mit strahlendem Wetter sonnig und windstill an. Das Pferd Nr. 3 war der 26. Märtyrer der Karawane; es lag tot auf der Weide. Ein zweites überholten wir, es war mager wie ein Gerippe und erreichte das Lager nicht mehr. Wir zogen nach Ostsüdost, und jetzt galt es, das Längstal zu verlassen, in dem Wellby ganz Nordtibet durchwandert hat. Eine kleinere Bodensenkung wurde überschritten, und zwischen den Hügeln auf ihrer Südseite schlugen wir unser Lager auf.

Rote und gelbgraue Hügel umgaben den Weg, der uns in drei Stunden nach einer kleinen flachen Schwelle hinführte, von der aus die Aussicht nach Osten grenzenlos erschien. Wäre es meine Absicht gewesen, in dieser Richtung weiterzuziehen, so würden wir viele Tagereisen weit keine Terrainhindernisse auf unserem Weg gefunden haben, aber mein unverrückbares Ziel war der Dangra-jum-tso, und wir mußten daher nach Südosten steuern. Dort zeigte sich bald eine schwarze Kette mit gezähntem, ungleichmäßigem Kamm. Zwischen ihren Gipfeln sah man tiefeingeschnittene, sattelförmige Einsenkungen; aber man täuschte sich, sie waren schwieriger zu passieren, als sie aussahen; einer Karawane in unserem angegriffenen Zustand wurde auch die geringste Steigung fühlbar.

Nun stiegen wir wieder eine kleinere Schwelle (5253 Meter) hinauf. Vor uns sahen wir in der Spur der Karawane einen schwarzen Punkt; es war ein toter Maulesel, der neben seinem Packsattel mit weitgeöffneten Augen den letzten Schlaf schlief. Hinter einem Hügel überraschten wir einen großen, hübschen Fuchs, der es sehr eilig hatte, als wir uns ihm näherten. Aber er konnte es doch nicht lassen, sich unaufhörlich umzuwenden und uns anzustarren; er hatte jedenfalls noch nie Menschen gesehen.

Beim Lager Nr. 36 gab es keinen Tropfen Wasser, aber wir waren nicht imstande, weiterzuziehen. Zwei mit Eis gefüllte Ziegenlederschläuche hatten wir bei uns, und das reichte gerade zu unserem Tee (Abb. 67); die Tiere aber mußten dursten. Wir durften uns jedoch nicht beklagen; seit Leh war es ja das erstemal, daß wir kein Wasser hatten.

siehe Bildunterschrift

67. Nachmittagstee im Freien.

Ein ungewöhnlicher Anblick wurde uns am Morgen des 12. Oktobers: das ganze Land war mit Schnee bedeckt. Aber kaum war die Sonne hochgestiegen, so wurde auch der Boden wieder schneefrei und trocken. Die Karawane brach sehr früh auf, um den Durst der Tiere zu verkürzen. Jetzt hielten wir beständig auf Südosten zu und ließen einen See, den Rawling entdeckt und nach dem langjährigen, sehr verdienstreichen ehemaligen Präsidenten der Geographischen Gesellschaft in London » Lake Markham« genannt hat, außerhalb unseres Gesichtskreises liegen.

Wieder passieren wir ein Pferd mit aufgeschnittenem Hals; es ist rotbraun und sticht grell gegen den grauen Sandboden ab. Die Augen sind schon von den sechs Raben ausgepickt, die wie schwarze Totenbrüder um das gefallene Tier herumsitzen und Leichenwache halten. Ein wenig weiter zeigt sich wieder etwas Verdächtiges in der Karawanenspur – es ist der sechste Maulesel. Er ist auf dem Marsch zusammengebrochen und braucht nicht erst totgestochen zu werden; er ist noch weich und warm, und seine Augen haben ihren Glanz noch nicht verloren, aber bald werden die Raben da sein, sie folgen der Karawane wie Delphine im Kielwasser eines Schiffes. Mit jedem Tier, das fällt, wird ein Woilach frei und kommt einem der Kameraden zugute. Sie brauchen ihn, wenn die große Winterkälte kommt. Die beiden heutigen Opfer waren schon lange dienstfrei gewesen, aber sie mußten dennoch mitlaufen, bis sie stürzten, ich hoffte ja, daß sie sich noch erholen würden, allerdings vergeblich.

Die Spur führt uns in die Mündung eines Tales, wo wir die Karawane bald einholen – alle Tiere halten den Kopf in einen Bach, sie hatten ja so lange dursten müssen. Das Tal muß von einem Paß herabkommen, und wir ziehen in ihm hinauf. Es wird schmäler und ist schließlich ein nur vier Meter breiter Gang zwischen Wänden von vertikal stehendem Schiefer. Am Bache lag der gebleichte Schädel eines Ammonschafes mit schönem Gehörn (Abb. 30, 31). Unter dem Fuß einer jähen Felswand auf der linken Talseite fanden wir vor dem schneidenden Winde Schutz und richteten dort unsere Zeltstangen auf. Muhamed Isa bestieg mit dem Fernglas eine uns gegenüberliegende Höhe. »Ein Labyrinth von kleinen Bergen« lautete sein wenig erfreulicher Bericht. Wir hatten jetzt schon 29 Pferde und 6 Maulesel verloren und besaßen nur noch 29 Pferde und 30 Maulesel. »Die kräftigsten Tiere leben noch«, tröstete Muhamed Isa.

siehe Bildunterschrift

28 und 29 (links und rechts). Kopf der Pantholops-Antilope. 30 und 31 (Mitte). Kopf des Ammonschafes. Skizzen des Verfassers.

13. Oktober. Mit 21,8 Grad Kälte raubte uns die Nacht wieder ein Pferd und einen Maulesel! Ihre Knochen bleichen im Lager 37 und geben von unserem Besuch Kunde. Beschwerlicher Marsch durch sehr wellenförmiges Terrain! Wir mußten über drei kleine, anstrengende Pässe hinüber. Es lag noch ziemlich viel Schnee. Zur Rechten erstreckte sich ein roter Bergkamm, und in einer Schlucht war ein Wasserfall zu einem Eisklumpen erstarrt. Muhamed Isa hatte drei Steinmale errichtet, um uns den Weg an solchen Stellen anzugeben, wo die Spur der Karawane im Geröll undeutlich wurde. Auf dem ersten Paß war die Aussicht trostlos, lauter rote, violette und gelbe Berge. Im Norden dominierten noch immer die turkestanischen Berge mit ihren majestätischen Gipfeln, eine Reihe von Kaiserkronen, höher als alles andere. In N 50° O glaubten wir einen großen See zu sehen, aber es konnte ebensogut eine Ebene sein, auf der die Luftspiegelung ihr Spiel trieb. Viele Hügel und Ausläufer der Gegend bestehen aus fließendem Boden, der entsprechend seiner letzten Bewegung in Mustern und konzentrischen Ringen gefroren ist. Die dritte Paßschwelle erhebt sich in völlig sterilem Land. Hier machte sich Tsering riesige Mühe mit dem Errichten eines Steinmales, was jedoch ganz überflüssig war, da uns keiner mehr nachkam; aber es war eine Huldigung, die er den Göttern des Gebirges darbrachte, eine flehentliche Bitte, daß sie uns gesund passieren lassen möchten.

Endlich kamen wir auf offenes Gelände hinunter, nämlich in ein Haupttal, das nach Osten ging und wo in der Ferne gelbes Gras leuchtete. Tundup Sonam schoß zwei Ammonschafe, deren Fleisch unseren 18 Schafen das Leben verlängerte. Bei diesem kalten, windigen Wetter wird man eigentlich nie richtig warm. Wenn ich im Sitzen das Panorama des Tages zeichne oder die Sonne observiere, muß ich das Kohlenbecken neben mir haben, um mir die erstarrenden Hände so weit wieder anzuwärmen, daß ich sie gebrauchen kann. Nur Muhamed Isa, Tsering, Sonam Tsering und Guffaru sind vom Nachtdienst befreit; sonst müssen alle anderen in die kalte, dunkle Winternacht hinaus. Wenn die Dunkelheit eintritt, arbeite ich die am Tag gemachten Aufzeichnungen aus, studiere die Karten, lese teils leichte Lektüre, teils Supans »Physische Erdkunde« und ein paar Bücher über Buddhismus und Lamaismus. Um neun Uhr macht Robert meteorologische Observationen und stellt dann das Siedethermometer auf, das ich selbst in meinem Zelt ablese. Nachher plaudern wir noch eine Weile und gehen dann schlafen. Mein Bett ist auf einer Kautschukunterlage und zwei zusammengefalteten turkestanischen Filzdecken hergerichtet; auf den Filzdecken liegt ein großes Quadrat zusammengenähter Ziegenfelle. Auf die eine Hälfte des Quadrates lege ich mich und mit der anderen decke ich mich zu, worauf Tsering die Ränder so unter die Filzdecken stopft, daß das Ganze in einen Sack verwandelt wird. Zuletzt breitet er noch zwei Filzdecken, meinen Ulster und meinen Pelz über mich! Auf dem Kopf habe ich meine Pelzmütze und einen Baschlik, im übrigen aber entkleide ich mich wie gewöhnlich. Bei stürmischem Wetter ist das Morgenbad nicht gerade angenehm; mein Zeug ist während der Nacht eiskalt geworden. Die Ladakis haben keinen Begriff von Reinlichkeit und schleppen infolgedessen gastfrei kleine Kolonien von Ungeziefer mit sich herum, wofür ich nicht die geringste Verwendung habe. Aber die, welche mein Bett machen, aufräumen und mich im Zelt bedienen, teilen mir unwillkürlich recht freigebig von ihrem Überflusse mit, und mein Unterzeug muß daher sehr oft in kochendem Wasser gewaschen werden. Meine Empfindlichkeit in dieser Beziehung macht den Ladakis unbeschreiblich viel Spaß; ich höre sie über mein Entsetzen vor jeglicher Art blutsaugender Gesellschaft herzlich lachen. Ich sage ihnen daher, daß ich mich nur dann wohl fühle, wenn ich in meinen Kleidern ganz allein bin!

Die Winterabende wurden immer länger, und unser Leben verlief einsam und eintönig. Am schlimmsten aber war es, daß meine leichte Lektüre zu Ende ging. Um die Freistunden auszufüllen, ließ ich mir dann von den Ladakis Sagen und Märchen aus ihrem eigenen Lande erzählen und zeichnete einige davon auf. Ich ließ auch jeden meiner Diener seine eigenen Schicksale berichten, aber die Aufzeichnungen, die ich davon machte, sind nicht sehr merkwürdig, denn die Leute haben nicht viel zu erzählen und finden alles so natürlich und unwichtig. Man muß sie ausfragen und auspumpen, und doch kommt nichts Rechtes heraus. Äußerst selten wissen sie, wie ein Europäer, dem sie jahrelang gedient haben, auch nur geheißen hat, und ihr eigenes Alter können sie nicht angeben. Aber ganz genau wissen sie, wieviel Tiere in einer Karawane waren, die sie vor Jahren begleiteten, und welche Farbe die verschiedenen Pferde hatten. Ein Ladaki, der die bewohnten Teile Westtibets durchzogen hat, kann mir den Namen jedes Lagerplatzes nennen, ihn genau beschreiben und sagen, ob die Weide dort gut oder schlecht war. Für die Terrainverhältnisse haben sie also ein unglaubliches Gedächtnis.

Die Rücksicht auf den Umfang dieses Berichtes verbietet es mir zwar, mich auf biographische Weitläufigkeiten einzulassen, aber es ist doch nötig, daß ich dem Leser meine kleine Schar wenigstens ganz flüchtig vorstelle. Beginnen wir also mit Rabsang, der das von den Wölfen gehetzte Pferd suchte. Er ist »Bod«, d. i. Buddhist, eigentlich Lamaist; sein Vater heißt Pale, seine Mutter Rdugmo aus dem Dorfe Tschuschutjogma in Ladak. Von Beruf ist er »Semindar«, Ackerbauer, baut Gerste, Weizen und Erbsen, hat zwei Pferde und zwei Jaks, aber keine Schafe, und bezahlt jährlich 23 Rupien Steuer an den Maharadschah, dagegen keine Abgaben an die Lamas. Einmal jährlich geht er im Dienst afghanischer Kaufleute nach Jarkent und erhält für eine ganze Reise 50 Rupien Lohn. Die Kaufleute bringen Kleiderstoffe, Korallen, Tee, Indigo und dergleichen nach Jarkent, wo sie in der Karawanserei der Hindus einkehren und zwanzig Tage bleiben, um ihre Waren zu verkaufen und dafür Seide, Filzteppiche, gewöhnliche Teppiche usw. einzuhandeln, die sie dann in Peschawar veräußern. Rabsang hatte besonders dem Hadschi Eidar Khan, einem reichen Kaufmann aus Kabul, gedient. Vor sechs Jahren erlebte er ein Abenteuer auf dem Paß Suget-davan, wo seiner Karawane zwölf Leute aus Badakschan, die dem Hadschi Geld schuldig waren, begegneten. Die Zwölf aber hatten in Jarkent ein wüstes Leben geführt und konnten nun ihre Schulden nicht bezahlen. Die Afghanen, die nur aus fünf Mann bestanden, fielen über sie her, und es kam zu einer heftigen Schlägerei, die in Blutvergießen ausartete. Dies war Rabsangs schlimmstes Abenteuer gewesen. Dem Hauptmann Deasy hatte er fünf Monate und einem anderen Engländer ebensolange gedient. Wenn er selber auf Reisen war, bestellten seine Frau und ein Bruder sein Land und besorgten seine Geschäfte.

»Kannst du dich denn so lange auf die Treue deiner Frau verlassen?« fragte ich ihn.

»Nein,« antwortete er, »aber in Ladak macht man sich daraus nichts.«

»Was geschieht, wenn sie dich mit einem anderen betrügt?«

»Dann muß er mir als Buße ein Schaf geben«.

Als wir soweit gekommen waren, konnte ich aus Rabsang kein Wort mehr herausbringen.

In unserer Karawane steht er unmittelbar unter Tserings Kommando und begleitet die vier Pferde, die mein Zelt, mein Bett, die täglich gebrauchten Kisten und das Küchengeschirr tragen. Er ist Gehilfe des Oberkochs und hat mich den ganzen Abend mit glühenden Kohlen zu versorgen. Er holt für Tsering Brennstoff und Wasser zum Kochen und ist ein außergewöhnlich starker, tüchtiger Kerl. Ein Jahr später sollte er in unserer Karawane eine besondere Rolle spielen.

Von dem Mohammedaner Rehim Ali habe ich bereits gesprochen. Er ist mein Handlanger während der Märsche. Guffaru ist der Älteste unserer Gesellschaft und Anführer der Pferdekarawane; er hat infolgedessen immer weniger zu tun, je mehr Pferde uns sterben. Der Hadschi Gulam Rasul ist zweimal in Mekka gewesen; er ist Muhamed Isas Koch. Schukkur Ali hat viele merkwürdige Reisen gemacht, die ein besonderes Kapitel erfordern würden; bei uns ist er Führer einer Abteilung der Pferdekarawane, hat aber nur noch zwei Schutzbefohlene. Gaffar ist ein junger Mohammedaner, der die Pferde begleitet, Feuerung einsammelt und Wasser holt. Dieselben Beschäftigungen sind das Los des jungen Tsering, und zur selben Kategorie gehören auch Ische Tundup und Adul; letzterer, ein arbeitsamer, tüchtiger Mensch, ist in meine Dienste getreten, um sich in Leh ein Haus zu kaufen und sich verheiraten zu können. Islam Ahun ist Pferdewärter. Bolu gehört zu meiner Karawane und ist einer der Handlanger Tserings. Galsan, der viel in Westtibet umhergereist ist, dient als Maultiertreiber. Ische Tundupist für die Schafe verantwortlich. Lobsang Rigdal, scherzweise der Lama genannt, hat mit den Pferden zu tun. Er ist mitgekommen, um Geld zu verdienen, das er seinem Vater und seinen älteren Brüdern geben will, weil sie früher immer für ihn gesorgt haben. Er ist der Spaßvogel der Karawane und sieht sehr komisch aus. Taschi, der die Pferde begleitet, ist einer unserer besten Leute. Tundup Sonam rettet die Weidmannsehre der Karawane und versieht uns alle mit frischem Fleisch. Er tut fast nie einen Fehlschuß und ist so ruhig und gesetzt, wie eine Satte dicker Milch. Er hatte schon einmal unter mir gedient, im Winter 1902, als ich von Leh nach Jarkent reiste. Gartschung gehört zur Mauleselkarawane und trat in meine Dienste, um seine pekuniären Verhältnisse wieder in Ordnung zu bringen. Ein kleiner, untersetzter, schwarzbärtiger Kerl von 50 Jahren hört auf den Namen Taschi Tsering; »früher hieß ich Islam Ahun«, sagt er; er hat also seine Religion gewechselt, obgleich es nur selten vorkommt, daß ein Mohammedaner zum Lamaismus übertritt. Er führt auch eine Abteilung der Pferde. Rub Das ist ein Gurkha aus Sitang und ist unser Mädchen für alles, er ist schweigsam und arbeitet wie ein Sklave, ohne der geringsten Ermahnung zu bedürfen. Tundup Galsan ist der Märchenerzähler, dessen Stimme man noch lange hört, wenn schon alle Tagesarbeit beendet ist; überdies ist er Oberkoch im schwarzen Zelt der Ladakis. Namgjal ist Eseltreiber und einer unserer Besten, Sonam Tsering der Chef der Maulesel, Kurban nichts als Guffarus Sohn und Tsering mein Oberkoch.

Damit ist die Liste geschlossen. Jeder von diesen Männern hatte seine Pflicht zu erfüllen, alle waren willig und gutmütig, und nie hörte man Zank und Streit; aber Robert und Muhamed Isa verstanden es auch vorzüglich, Disziplin zu halten (Abb. 73). Jeder hatte seinen warmen Schafpelz; dazu machten sie sich Bettunterlagen von den Fellen der geschlachteten Schafe oder des erlegten Wildes; als die Winterkälte abnahm, benutzten sie leere Proviantsäcke als Schlafdecken. Da sie alle zu Fuß gingen, nutzten sich ihre weichen Ladakistiefel schnell ab, und sie mußten sie immerfort mit neuen Sohlen versehen; dazu gebrauchten sie Fellstücke, deren Wolle sie nach innen kehrten.

siehe Bildunterschrift

73. Muhamed Isa und Robert am Feuer.

Am 14. Oktober zogen wir über eine Reihe großer Flußbetten, die den Kamm im Süden in flachen Tälern durchschnitten. Kulane und Antilopen ästen hier in großer Zahl. Bei dem Lager, das zwischen hagebuttenfarbigen Hügeln lag, war die Weide gut. Unsere Marschrichtung war Ostsüdost. In der Nacht starb ein Pferd. Das Land behält von nun an ungefähr denselben Charakter: es besteht aus einer Menge kleiner Kämme, die sich von Osten nach Westen hinziehen und deren Überschreitung sehr zeitraubend ist; zwischen ihnen liegen Längstäler. Nicht selten zählen wir südwärts drei bis vier solcher Kämme, und alle müssen wir sie überschreiten! Wir haben uns in einem Meer erstarrter Riesenwellen verloren; wir gleichen einem Schiff, das sein Steuer eingebüßt hat und bald sinken muß; keine rettenden Inseln, keine entgegenkommenden Schiffe, auf allen Seiten nur endloses Meer. Wir möchten Öl auf diese aufgeregte See gießen, wir sehnen uns nach ruhigem Fahrwasser, aber solange uns noch eine Planke bleibt, werden wir uns doch an ihr festklammern. Beim Lager 40 gab es gute Weide, und das nötige Wasser konnten wir uns aus Eis herstellen (Abb. 68).

siehe Bildunterschrift

68. Schmelzen von Schnee zum Trinkwasser für die Tiere.

Dem braunen Puppy haben die Männer einen Filzmantel genäht, den sie ihm anziehen, wenn es abends kalt wird. Er sieht in seinem neuen Nachtgewand drollig aus, wenn er einherspaziert, sich auf die Zipfel tritt und dann hinpurzelt. Der weiße Puppy sitzt erst ganz verblüfft da und gafft ihn an, findet aber dann die Sache so verführerisch, daß er es nicht unterlassen kann, den Kameraden zu necken, um ihn herumzutanzen und in den Mantel zu beißen. Der Braune aber kurz entschlossen, bleibt trübselig still sitzen und läßt den weißen um sich herumtoben.

Immer tiefer bohren wir uns in das unbekannte Land ein. Am 16. Oktober, dem Jahrestag meiner Abreise aus Stockholm, hatten wir bis an den Dangra-jum-tso noch 609 Kilometer zurückzulegen, aber jetzt waren wir selten imstande, mehr als 12 Kilometer täglich zu marschieren! Im Lager 41 wurden einige entbehrliche Sachen kassiert, um die Lasten zu erleichtern, darunter mehrere ausgelesene Bücher nebst Bowers Reisebeschreibung, die ihre Rolle in meiner Wanderbibliothek nun ausgespielt hatte. Die Zelte waren in einem geschützten Tal am Fuß eines Felsens aufgeschlagen worden (Abb. 72, 74). Tundup Sonam war vorausgegangen und hatte einen vierjährigen Yak, der auf einem Abhang in der Sonne lag, überrascht. Durch das Terrain gedeckt, hatte der Schütze sich ganz nahe an ihn heranschleichen können. Die erste Kugel war im Becken steckengeblieben. Der so unangenehm aus seinen Betrachtungen geweckte Yak war aufgesprungen und hatte eine zweite Kugel in den Bug erhalten. Er war nun den Abhang hinuntergestürmt und tot kopfüber auf den Talboden gestürzt, wo dann aus diesem Grund die Zelte aufgeschlagen wurden. Er war schon abgehäutet und zerlegt, als wir anlangten, und das dunkelrote Fleisch mit einer violetten Schattierung an den Keulen glänzte in der Sonne. Der Magen war kolossal und voller Gras, Flechten und Moos – kein Wunder, daß er nach solcher Schlemmerei der Ruhe bedurft hatte. Der Kopf wurde dekorativ am Fuße eines Bergvorsprunges aufgestellt und der Schütze neben dieser Trophäe photographiert. Die Ladakis erhielten Befehl, sich ordentlich an Fleisch satt zu essen, denn mit einer Extrabürde konnten wir uns nicht belasten. Alles Fett wurde jedoch mitgenommen, und ich erhielt das Mark. Als wir den Platz verließen, war von dem Yak nicht mehr viel übrig, und ich habe die Ladakis in Verdacht, daß sie sich in ihren Privatschnappsäcken doch noch einige schöne Stücke mitgenommen hatten.

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72. Mein Zelt im Lager Nr. 41, rechts Robert vor seinem Zelt.

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74. Vorbereitung zum Diner im Lager Nr. 41.

In Gesellschaft eines Adlers saßen die Raben schmausend um das blutige Skelett herum. Jetzt sind ihrer bereits elf, und ihre Flügel glänzen in der Sonne wie blauer Stahl. Sie fühlen sich in der Karawane leider ganz heimisch und sind halbzahm. Die Hunde schenken ihnen keine Aufmerksamkeit und werden von den Raben mit ironischer Verachtung behandelt.

Der 17. Oktober war ein anstrengender Tag; es wehte heftig aus Westen, und die Temperatur konnte sich mittags nicht über -5,1 Grad erheben. Wir rückten nach einem Paß hinauf, schlugen aber schon vor ihm Lager. Um 9 Uhr waren es -12,6 Grad, und im Zelt konnte ich es nur auf -4,2 Grad bringen, denn das bißchen Wärme, das vom Kohlenbecken ausstrahlte, trieb der Wind gleich wieder hinaus. Das Minimumthermometer stand denn auch auf 28,2 Grad Kälte, der niedrigsten Temperatur, die wir bis jetzt abgelesen hatten! Ein weißer Maulesel, der schon zehn Tage keine Last mehr getragen hatte, erfror. Jetzt hatte ich nur noch 27 Maulesel, 27 Pferde und 27 Diener in der Karawane. Seit 57 Tagen hatten wir keine Menschen gesehen; ob wir wohl alle beisammenblieben, bis wir auf die ersten Nomaden stießen?

Antilopen und Yaks grasen an den Abhängen des Passes. Die Höhe ist hier 5357 Meter, und in der Richtung unseres Marsches breitet sich ein Labyrinth von Bergen aus! Wir biegen daher nach Nordost aus und lagern in einer Talmulde.

In der Nacht auf den 19. Oktober erfroren uns wieder zwei Pferde und ein Schaf. Von letzteren haben wir jetzt nur noch 16; von Gasen aufgeschwellt, lagen die drei Toten am Abhang und starrten uns mit dunkeln, blutigen Augenhöhlen an; die Raben waren schon darüber gewesen. Das Terrain war sehr schwierig, es ging unausgesetzt bergauf und bergab. Man sah die Karawane sich nach einem Paß hinaufarbeiten, aber dahinter zeigte sich ein zweiter, noch höherer, der Schneestreifen aufwies. Die Bergkämme schienen sich in dieser Gegend im allgemeinen nach Ostnordost zu ziehen. In einer Entfernung von etwa 20 bis 40 Kilometer dehnte sich im Süden ein See aus, aber er blieb weit rechts von unserem Wege liegen.

Als wir das Lager 44 auf einer Höhe von 5346 Meter inmitten greulicher Berge erreichten, wurde Muhamed Isa krank gemeldet. Er hatte schon einige Tage entsetzliche Kopfschmerzen gehabt und erhielt daher eine ordentliche Dosis Chinin. Da er nicht wie gewöhnlich rekognoszieren konnte, bat Robert um die Erlaubnis, den hohen Paß, der uns im Osten den Weg versperrte, erklimmen und dort Ausschau halten zu dürfen. Er kam erst bei Dunkelheit wieder und erklärte, daß wir bald aus diesen unangenehmen Bergen hinauskommen würden, wenn wir uns nur nach Südosten wendeten. Daraufhin erhielt Muhamed Isa eine entsprechende Instruktion für den folgenden Tag.

Welch ein Unterschied gegen gestern Abend, als die Sterne elektrisch weiß von einem blauschwarzen Himmel herabfunkelten und die Feuer gelbrot und hell flammten! Jetzt liegen schwere Wolkenmassen über Berg und Tal, und zwar so niedrig, daß wir sie berühren zu können glauben. Es schneit außerordentlich dicht, der Boden ist weiß, und seine Unebenheiten und Moosbüschel werfen lange Schatten um die Feuer. Aus dem Inneren der jetzt ganz zusammengeschrumpften Proviantburg steigt nur ein bleiches Licht auf, das einen schwachen Schein auf das schwarze Zelt der Ladakis wirft. Tsering und seine Mannschaft sitzen, in ihre Pelze gehüllt, um das Küchenfeuer herum, und seit zwei vollen Stunden hat er ihnen, ohne eine Sekunde zu pausieren, eine Vorlesung gehalten. Seine Zunge ist wie eine Windmühle im Winde. Sie kennen einander seit Jahren. Was in aller Welt kann er ihnen zu erzählen haben, das sie nicht schon zwanzigmal gehört hätten! Aber Rabsang, Rehim Ali und noch ein paar hören andächtig zu und äußern von Zeit zu Zeit ihr Entzücken. Ich setze mich eine Weile zu ihnen. Da erheben sie sich, grüßen mich und legen einen neuen Armvoll trockner Dungfladen auf das Feuer. Die lodernden Flammen werfen ein grelles Licht auf den Schnee, der unter den Tritten der Männer knarrt. Aber weit reicht der Flammenschein nicht, und jenseits gähnt auf allen Seiten schwarze Nacht. Man sieht weder die weidenden Tiere, noch hört man sie, aber man vernimmt den zischenden Laut des Schnees, der unaufhörlich in die Glut des Feuers fällt.


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