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Der 12. Februar brach an, der Tag, an dem ich von dem heiligsten Manne in Tibet empfangen werden sollte. Ich machte mich daher so fein, wie ich es nur je zu einem Ball in einem britischen Government House getan hatte, und ritt dann, begleitet von denselben Leuten wie bei den Spielen, nach dem Haupteingang Taschi-lunpos hinauf, wo mich Tsaktserkan, Lobsang Tsering und einige Mönche erwarteten. In ihrer Gesellschaft ging es nun in die höheren Regionen hinauf, durch ein Labyrinth finsterer Gassen und enger, dunkler Klostergänge nach dem Labrang, wo der Taschi-Lama wohnt, jenem Vatikan, der mit seiner weißen Fassade, den pittoresken großen Fenstern und kleinen massiven Balkons hoch über dieser Stadt von Tempelgebäuden thront. Unsere Ciceroni führen uns in dunkle, kalte Kammern hinein und über außerordentlich steile Treppen. Die Stufen, in die die Sohlen der Mönche schon tiefe Höhlungen ausgetreten haben, zeigen vorn am Rand einen Eisenbeschlag, die runden Geländerstangen sind blank von den Griffen unzähliger Hände. Es ist dunkel auf den Treppen, und unsere Freunde bitten, langsam und vorsichtig zu gehen. Dann wird es hell, wir werden auf eine Galerie, ein Dach hinausgeführt, aber nur, um uns wieder in ein Labyrinth dunkler Gänge und Treppen zu verirren. In einer Kammer, auf deren Fußboden rote Kissen liegen, bittet man mich zu warten. Es dauert nicht lange, bis man mir meldet, daß der dem Taschi-Lama im Rang zunächststehende Mann, der vornehme, feiste kleine Lama, der das Amt eines Staatsministers bekleidet, zu meinem Empfang bereit sei. Sein Empfangszimmer, oder wohl eigentlich seine private Mönchszelle, war ein ganz kleines Gemach, aus dessen einzigem Fenster er aber eine wunderschöne Aussicht über die Tempelstadt Schigatse und die Felsengebirge der Umgegend hat. Das Zimmer war mit gediegenem, nicht aufdringlichem und echt lamaistischem Luxus dekoriert. Auf dem Fußboden rote Teppiche, Wände und Decke ebenfalls rot, soviel man nämlich davon sah, denn der größte Teil der Wände wurde durch kunstvoll geschnitzte, rotlackierte Schränke mit bunten Verzierungen und Metalleinlagen verdeckt. Auf ihnen standen größere Silbergaos, die Götterstatuen enthielten, und vor ihnen kleinere aus massivem Gold zwischen Schalen mit Opferspenden oder mit Dochten, die mit matter Flamme in Butter brannten. Man sah auch viel andere Gegenstände, die die Mönche beim Gottesdienst benutzen, Glocken, Zimbeln, Kannen mit Weihwasser und einen »Dortsche«, den Donnerkeil, das Sinnbild der Kraft, der einem Zepter gleicht. Links in der Fensternische hing ein fahnenähnliches Gemälde (»Tanka«) des ersten Taschi-Lama und rechts eine ähnliche Darstellung des Kirchenfürsten Schakya Pandita.
Der ehrwürdige Prälat saß mit gekreuzten Beinen auf einer mit roten Kissen belegten, an der Wand befestigten Bank, vor sich einen kleinen gelben, geschnitzten Tisch, in dessen Platte Seidenzeug eingelassen war. Er glänzte von Fett, innerlichem Behagen und Wohlwollen wie nur irgendein Kardinal; sein Gesicht war fein geschnitten, seine Augen sprachen von großer Intelligenz. Als ich eintrat, erhob er sich mit höflichem Lächeln und bat mich, auf einem Stuhl am Tische Platz zu nehmen, worauf die unvermeidlichen Teetassen gebracht wurden. Ebenso unumgänglich nötig ist es, »Kadachs« und Geschenke auszutauschen. Ich schenkte ihm einen ziselierten Dolch aus Kaschmir und er mir ein vergoldetes Götterbild – da sieht man den Unterschied zwischen weltlichen und geistlichen Geschenken! Wohl eine Stunde plauderten wir über dieses und jenes, und Seine Hochwürden baten mich, die Verzögerung zu entschuldigen, aber der Pantschen Rinpotsche sei in Meditation versunken und mit dem täglichen Gebet beschäftigt und dürfte nicht eher gestört werden, als bis er selber geruhe, das Zeichen dazu zu geben.
Aber auch dieser Augenblick kam; ein Lama flüsterte dem Kardinal zu, daß man mich erwarte. Immer höher geht es wieder auf glatten, steilen Treppen nach offenen Vorplätzen, über neue Treppen, immer höher und höher nach dem Allerheiligsten der Klostertempel Taschi-lunpos. Immer leiser und gedämpfter wird die Unterhaltung, man wagt nicht mehr laut zu reden; in Korridoren und Gängen stehen kleine Gruppen von Lamas, die mich stumm wie Bildsäulen ansehen. Lobsang Tsering teilt mir flüsternd mit, daß wir jetzt in der letzten Vorhalle seien, wo ich mich zurecht machen und die schwarzen Schuhe anziehen könne. Hier heißt man meine Diener, außer Robert und Muhamed Isa, zurückbleiben. Wenn ich ohne Dolmetscher hätte fertig werden können, hätte Seine Heiligkeit mich ganz allein sehen wollen.
Wir treten ein – nicht ohne ein feierliches Gefühl. An der Tür mache ich eine tiefe Verbeugung und dann noch ein paar, ehe ich vor ihm stehe. Der Taschi-Lama sitzt auf einer Bank in einer Fensternische und hat vor sich einen kleinen Tisch mit einer Teetasse, einem Fernglas und einigen gedruckten Blättern. Er ist ebenso einfach gekleidet wie ein gewöhnlicher Mönch, trägt einen kirschroten Anzug von dem üblichen Schnitt, Rock, Weste, Unterjacke und die lange Zeugbahn, die wie eine Toga über die Schulter geworfen und um den Leib gewunden wird; zwischen ihren Falten sieht eine gelbe Unterweste mit Goldstickereien hervor; beide Arme sind nackt und der Kopf unbedeckt.
Seine Gesichtsfarbe ist hell, mit einem kleinen Stich ins Gelbliche, er ist eher klein als mittelgroß, ebenmäßig gebaut, sieht gesund und unverdorben aus und hat bei seinen kürzlich zurückgelegten 25 Jahren Aussicht, ein hohes Alter zu erreichen. In seinen kleinen hübschen, weichen Händen hält er einen aus roten Kugeln bestehenden Rosenkranz. Das kurzgeschorene Haar ist schwarz, auf der Oberlippe kaum eine Andeutung von Bartwuchs, die Lippen sind nicht dick und voll wie bei andern Tibetern, sondern fein und harmonisch modelliert, die Farbe der Augen ist kastanienbraun.
Freundlich nickend reicht er mir beide Hände und fordert mich auf, neben ihm in einem Lehnstuhl Platz zu nehmen. Das Zimmer, in dem er den größten Teil des Tages verbringt, ist im Gegensatz zu dem des Kardinals in den tieferen Regionen erstaunlich einfach (Abb. 121). Es ist klein und besteht aus zwei Abteilungen; die äußere ist eine Art Vorhalle ohne Dach, allen Winden des Himmels, dem Schnee des Winters wie den Regengüssen des Herbstes preisgegeben; die innere liegt eine Stufe höher und ist noch durch eine Barriere abgeteilt, die in einer Gitterwand endet, hinter der sein Schlafgemach liegt. Kein einziges Götterbild, keine Wandmalereien oder sonstiger Wandschmuck, keine Möbel, außer den bereits erwähnten, keine Spur von Teppich, nur der kahle Steinfußboden – und durch das Fenster schwebt sein wehmütig träumerischer, aber klarer und offener Blick über die goldenen Tempeldächer hin, über die unter ihnen liegende Stadt mit all ihrer Sündhaftigkeit und ihrem Schmutz, über die öden Gebirge, die seinen irdischen Horizont abschließen, hinweg in die weite Ferne über den azurblauen Himmel hinaus nach einem uns unsichtbaren Nirwana hin, wo sein Geist dereinst Ruhe finden wird. Nun stieg er aus seinem Himmel herab und wurde einen Augenblick Mensch. Die ganze Zeit über bewahrte er eine wunderbare Ruhe, eine feine, liebenswürdige Höflichkeit und Würde und redete mit bezaubernder, weicher und gedämpfter Stimme, bescheiden, ja beinahe schüchtern; er sprach schnell und in kurzen Sätzen, aber sehr leise.
121. Audienzzimmer des Taschi-Lama.
Auf dem Diwan an den kleinen Fenstern sein gewöhnlicher Platz.
Worüber wir sprachen? Ja, von allem möglichen zwischen Himmel und Erde, von seiner eigenen Religion angefangen, in deren Pantheon er selber den höchsten Rang unter den jetzt lebenden Prälaten einnimmt, bis zu den Yaks, die wild in Tschang-tang umherstreifen! Er zeigte eine Aufgewecktheit, ein Interesse an allem und eine Intelligenz, die mich in Erstaunen versetzten – bei einem Tibeter. Nie bin ich so taktvoll und zugleich so gründlich interviewt worden! Zuerst erkundigte er sich, ob ich unter der Kälte und den Mühseligkeiten in Tschang-tang gelitten habe und ob wir große Verluste gehabt hätten. Dann bat er mich, zu verzeihen, daß ich so schlecht aufgenommen worden sei; es sei nur daher gekommen, weil ich so still und unbemerkt angelangt sei und niemand gewußt habe, ob ich auch der Richtige sei, den man erwartet habe und von dessen wahrscheinlicher Ankunft man von Indien aus unterrichtet worden sei. Jetzt aber solle alles nur Mögliche für meine Bequemlichkeit und mein Wohlbefinden geschehen, und er wünsche und hoffe, daß ich eine angenehme Erinnerung aus seinem Lande mitnehme.
Darauf folgten Fragen nach meinem Namen, meinem Alter, meiner Karawane, den Wegen, auf denen ich gekommen, meinem Vaterlande, seiner Größe und Einwohnerzahl, seiner Lage im Verhältnis zu Rußland und England, ob Schweden von seinen Nachbarn abhängig sei oder einen eigenen König habe, auf welchem Weg man am besten nach Schweden reise, wie lange Zeit die Reise dauere und welche Jahreszeit dazu die geeignetste sei – ganz als ob er beabsichtige, mir dort einen Gegenbesuch zu machen! Dann frug er nach den verschiedenen europäischen Ländern und ihren Staatsoberhäuptern, ihrer Machtstellung und Größe im Verhältnis zueinander, nach dem Krieg zwischen Rußland und Japan, nach den großen Seeschlachten und den eisernen Panzerschiffen, die untergegangen seien, nach der Bedeutung, die der Ausgang des Krieges für Ostasien haben könne, nach dem Kaiser von Japan und dem Kaiser von China – vor letzterem hatte er augenscheinlich den größten Respekt. Er fragte, welche Länder ich besucht und ob ich von Indien, wo er selber vor einem Jahr so gut aufgenommen worden sei, viel gesehen habe. Mit Vorliebe sprach er von seinen Eindrücken in Indien, von den großen Städten mit ihren herrlichen Gebäuden, von der indischen Armee, den Eisenbahnen, der Pracht und dem überall herrschenden Reichtum und der großen Gastfreiheit, die ihm der Lord Sahib (der Vizekönig) erwiesen. »Grüßen Sie den Lord Sahib, wenn Sie ihm schreiben, versprechen Sie es mir, sagen Sie ihm, daß ich oft an seine Güte denke, und grüßen Sie Lord Kitchener«, und dabei zeigte er mir eine Photographie mit der eigenhändigen Namensunterschrift des großen Feldherrn. Besonders habe er sich gefreut, die heiligen Stellen, die er aus Beschreibungen und Tempelgemälden so gut gekannt und die im Leben des großen Religionsstifters Buddha eine Rolle gespielt, besuchen zu können, vor allem Buddhagaya in Magada, wo Prinz Sarvathasidda, der Buddhasohn, sechs Jahre in Einsamkeit und Meditation zugebracht, Mâra, den Versucher, den Herrscher in der Welt der Gelüste, besiegt und die vollendete Weisheit erlangt habe.
Dem Taschi-Lama hatte sich also die Reise nach Indien zu einer Wallfahrt gestaltet, obwohl, vom englischen Gesichtspunkt aus, die mit der Einladung verbundene Absicht eher politischer Natur gewesen war. Für die Engländer in Indien war es natürlich wichtig, an ihrer Nordgrenze einen Nachbar zu haben, auf dessen Treue und Freundschaft sie in unruhigen Zeiten rechnen konnten. Schon der große Warren Hastings hatte im Jahre 1774 Bogle als Gesandten zum dritten Taschi-Lama gesandt, um Erkundigungen über dessen Land einzuziehen und, wenn möglich, Handelsverbindungen anzuknüpfen. Und an den vierten Taschi-Lama hatte er im Jahre 1783 Turner gesandt. Jetzt, über 100 Jahre später, war der siebente Taschi-Lama in eigener hoher Person nach Indien eingeladen worden, um den Reichtum, die Macht und den Ruhm der Engländer mit eigenen Augen zu schauen. Und man sparte auch nicht an Knalleffekten, um einen unauslöschlichen Eindruck auf den einflußreichen Kirchenfürsten zu machen! Spätere Ereignisse haben gezeigt, daß jene Berechnungen fehlgeschlagen sind. Die Reise des Taschi-Lama nach Indien stieß in Tibet auf großen Widerstand und erweckte mancherlei Bedenken. Um so größer war die Freude, als er wohlbehalten zurückkehrte. Denn die Kirche konnte es nicht ertragen, nun, da der Dalai-Lama in der Fremde verschwunden war, etwa noch den Taschi-Lama zu verlieren. Was sollte aus den Reinkarnationen werden, wenn man nicht einmal wußte, wo die beiden Päpste sich aufhielten?
Dann brachte er die Rede wieder auf die europäischen Mächte und fand, daß Europa ein seltsames Mosaik von Staaten sei. Er holte ein Bild, das eine Gruppe aller mächtigeren Staatsoberhäupter der Erde darstellte. Unter jedem Porträt stand Name und Land in tibetischer Schrift. Er stellte eine Menge Fragen über jeden einzelnen Monarchen und zeigte das lebhafteste Interesse für ihre Schicksale – er, der mächtiger ist als alle Könige dieser Erde, denn er beherrscht den Glauben und den Geist der Menschen von den Kalmücken an der Wolga bis zu den Burjäten am Baikalsee, von der Küste des Eismeeres bis unter Indiens glühender Sonne!
Ich bin nicht der erste Europäer, den Tubdän Tschöki Nima Gelég Namgjal, der siebente Taschi-Lama, im Labrang zu Taschi-lunpo empfangen hat. Nach Younghusbands Expedition war im Herbst 1904 Major W. F. O'Connor als Vertreter der indischen Regierung zu einer Audienz zugelassen worden, und bei dieser Gelegenheit hatten ihn vier Offiziere der Gartokmission begleitet, Major Ryder, die Hauptleute Rawling und Wood und Leutnant Bailey. O'Connor, der die tibetische Sprache beherrscht, war Younghusbands Dolmetscher in Lhasa und der des Taschi-Lama in Indien und hatte in seiner Eigenschaft als englischer Handelsagent oft Veranlassung, mit dem Papst in Taschi-lunpo zu verhandeln. Gleich nach seiner Rückkehr im Jahre 1906 empfing der Taschi-Lama auch den Hauptmann Fitzgerald, Lord Kitcheners Adjutanten, und Herrn David Fraser.
Von den beiden Oberpriestern der Gelbmützen sagt Koeppen: »Von diesen gilt der Pantschen Rinpotsche auf Taschi-lunpo in letzter Instanz meistens für die Verkörperung des Dhyani-Buddha der gegenwärtigen Weltperiode, Amitabha, aber auch der Bodhisattvas Mandschuschri und Vadschrapani, näher endlich für die übernatürliche Wiedergeburt des Reformators und Stifters der Gelbmützen Tsongkapa; der Dalai-Lama von Lhasa dagegen immer für die Inkarnation des Bodhisattva Avalokiteschvara (Padmapani) … In der Tat ist das Lehramt und das königliche Amt zwischen den beiden lamaistischen Päpsten geteilt, dergestalt, daß jenes vorzugsweise dem Pantschen, dieses dem Dalai-Lama zukommt. Das wird auch im Titel beider ausgesprochen; denn der erstere heißt eben Pantschen Rinpotsche, der ›große kostbare Lehrer‹, der andere dagegen Gjalpo Rinpotsche, der ›kostbare König‹. Dieser Idee zufolge ist denn auch zuletzt der Dalai-Lama weltlicher Beherrscher des größten Teils von Tibet geworden, was er freilich mehr der Lage und den historischen Beziehungen seiner Residenz, als jener scholastischen Heiligkeitstheorie verdankt, wie etwa der Statthalter Gottes auf den sieben Hügeln diese Statthalterschaft mehr der Bedeutung der Stadt Rom, als zweien wohlfeilen Bibelstellen schuldet. Der ›große Lehrer‹ des jenseitigen Tibets (der Taschi-Lama) muß sich dafür einstweilen mit einem verhältnismäßig kleinen Gebiete, mit dem Ruf seiner Heiligkeit und schrankenlosen Allwissenheit, mit der Rolle eines Lehrers und Vormunds des unmündigen Dalai-Lama und mit gewissen Hoffnungen für die Zukunft, wenn die Zeit der ›fünfhundertjährigen Trübsale‹ erfüllt sein wird, begnügen.«
Und ein englischer Gelehrter, Waddell, sagt über das gegenseitige Verhältnis der beiden Päpste: »Die Großlamas von Taschi-lunpo gelten, wenn möglich, für noch heiliger als die Großlamas von Lhasa, weil sie weniger durch weltliche Regierungsgeschäfte und politische Angelegenheiten befleckt und berühmter wegen ihrer Gelehrsamkeit sind.«
Daß dieses Verhältnis zwischen den beiden lamaistischen Päpsten gerade während der Zeit meiner letzten Reise große Veränderungen zugunsten des Taschi-Lama erlitt, werde ich später zeigen. Die Berechnungen der Engländer, durch die Freundschaft des Taschi-Lama Einfluß in Tibet zu gewinnen, waren an und für sich richtig; aber sie hatten nicht damit gerechnet, daß die verlorene weltliche Macht des Dalai-Lama keineswegs auf den Taschi-Lama überging, dessen weltliche Herrschaft auch fernerhin an den Grenzen der Provinz Tschang endete und selbst dort durch Chinas alles verschlingende Herrschermacht eingeschränkt wurde. Der Dalai-Lama hatte also viel zu verlieren, der Taschi-Lama wenig oder nichts. Der Dalai-Lama war ein herrschsüchtiger Intrigant, der durch unvorsichtige politische Kombinationen Lord Curzons für Tibet so unglückliche Offensivpolitik herausforderte und dadurch so gut wie alles verlor. Und wenn der Taschi-Lama bereits vorher seiner Heiligkeit und Gelehrsamkeit wegen größeres Ansehen genossen hatte als sein Mitpapst in Lhasa, so stiegen sein Ruhm und seine geistliche Macht noch höher, als der Ausgang des Krieges bewiesen hatte, daß die schönen Versprechungen des Dalai-Lama eitel Lug und Trug waren und nur zur Beugung der Nacken unter das schwere Joch der Chinesen führten. Kurz vor meinem Besuch hatte der Taschi-Lama eine Gelegenheit gehabt, die lamaistische Hierarchie an sein hohes Dasein zu erinnern; als er nämlich 25 Jahre alt wurde, spendete er allen Klöstern Tibets Geldgeschenke und lud alle ihre Mönche zu einer großen Schmauserei in ihrem eigenen Kloster zu Gaste; so wurde z. B. eine besondere Mönchsgesandtschaft nach Ladak, eine andere nach Lhasa, Sekija, Taschi-gembe usw. geschickt. Das fünfundzwanzigjährige Jubiläum seiner Geburt wurde in der ganzen lamaistischen Welt gefeiert.
Doch kehren wir zur Audienz zurück. Lamas, die auf den Zehen gingen und stumm wie Schattenwesen waren, reichten uns die ganze Zeit über Tee und Früchte. Der Taschi-Lama selbst trank gleichzeitig mit mir ein Schlückchen aus seiner einfachen Tasse, wie um zu zeigen, daß er sich nicht als zu heilig betrachte, um mit einem Ungläubigen am Tische zu sitzen. Einige Lamas, die ein wenig von uns entfernt im Zimmer standen, wurden dann und wann durch eine Handbewegung hinausgeschickt, wenn er nach etwas fragen wollte, das sie seiner Meinung nach nicht zu wissen brauchten. Dies geschah besonders, als er mich bat, es die Chinesen nicht wissen zu lassen, daß er mir Gastfreundschaft erweise, obwohl es ihrer Aufmerksamkeit wohl schwerlich hatte entgehen können.
Ich selber benutzte die Gelegenheit, um einige Vergünstigungen zu bitten; ich bat, ihn photographieren zu dürfen – ja gern, ich dürfe, wenn ich wolle, mit der Kamera wiederkommen. Ich bat, ganz Taschi-lunpo ansehen und in der Klosterstadt ungehindert zeichnen und photographieren zu dürfen: »Ja, recht gern, ich habe den Lamas, die Ihnen alles zeigen sollen, schon Befehl gegeben.« Und schließlich bat ich um einen Paß für künftige Reisen in seinem Lande, um einen der Beamten des Labrang und einige zuverlässige Leute als Eskorte. Auch dies wurde mir gewährt, und alles sollte geordnet werden, sobald der Tag meiner Abreise bestimmt sei. Alle Versprechungen wurden auch bis ins kleinste erfüllt, und wenn nicht China gerade in dieser Zeit Tibet mit seinen Drachenkrallen so scharf wie nie zuvor gepackt hätte, so wäre der Taschi-Lama sicherlich mächtig genug gewesen, um mir alle Tore zu öffnen. Aber seine Freundschaft und seine Güte wurden mir tatsächlich während meiner ganzen ferneren Reise zur vorzüglichsten Empfehlung und haben mich aus mancher schwierigen Lage befreit. Pilger aus ganz Tibet hatten mit eigenen Augen gesehen, wie gut ich aufgenommen worden war. Sie hatten vor dem Taschi-Lama unbegrenzte Ehrfurcht, setzten das ungetrübteste Vertrauen in ihn und schlossen folgendermaßen: »Wer dieser Fremdling auch sei, immerhin muß er in seinem eigenen Land ein hervorragender Lama sein, sonst würde der Pantschen Rinpotsche ihn nicht wie seinesgleichen behandeln.« Und dann kehrten diese Pilger nach ihren schwarzen Zelten in fernen Provinzen zurück und erzählten anderen, was sie gesehen hatten, und als wir nun mit unserer kleinen Karawane angezogen kamen, wußten alle, wer wir waren. Noch anderthalb Jahre später kam es vor, daß Häuptlinge und Mönche sagten: »Bombo Tschimbo, wir wissen, daß ihr des Taschi-Lama Freund seid, wir stehen euch zu Diensten.«
Als wir uns zwei Stunden unterhalten hatten, machte ich Miene, mich zu erheben, aber der Taschi-Lama drückte mich wieder auf den Stuhl nieder und sagte: »Nein, bleiben Sie noch ein Weilchen«. Und dieses wiederholte sich, bis drei volle Stunden vergangen waren. Wie viele Millionen Gläubige hätten für eine solche Gunst nicht Jahre ihres Lebens hingegeben! Auch die Pilger, die Hunderte von Meilen zurückgelegt haben, um ihn zu sehen, müssen sich mit einem Kopfnicken und einem Segen aus der Ferne begnügen.
Nun aber war die Zeit zur Überlieferung meiner Freundesgabe gekommen; die elegante englische Apotheke wurde aus ihrem Seidentuch ausgewickelt, geöffnet und gezeigt und erregte sein großes Erstaunen und sein lebhaftes Interesse – alles mußte ihm erklärt werden; die Morphiumspritze in ihrem geschmackvollen Aluminiumetui mit sämtlichem Zubehör gefiel ihm besonders. Zwei Mönche aus der medizinischen Fakultät wurden dann mehrere Tage hintereinander in mein Lager geschickt, um all den Inhalt der verschiedenen Tabloiddosen und die Anwendung der verschiedenen Medikamente tibetisch aufzuschreiben. Aber ich warnte sowohl sie wie den Taschi-Lama, ihre Wirkung zu erproben, ohne vorher Major O'Connors Arzt in Gyangtse um Rat gefragt zu haben. Die Gefahr war jedoch nicht so groß, denn die Lamas sind der Ansicht, daß ihre eigene medizinische Weisheit auf einer viel höheren Entwicklungsstufe steht, als die der Europäer.
Wunderbarer, unvergeßlicher Taschi-Lama! Nie hat ein Mensch einen so tiefen, unauslöschlichen Eindruck auf mich gemacht. Nicht als Gottheit in Menschengestalt, sondern als ein Mensch, der sich in Herzensgüte, Reinheit und Keuschheit der Grenze der Vollkommenheit so sehr nähert, als dies überhaupt möglich ist. Seinen Blick werde ich nie vergessen; er strahlt eine ganze Welt von Güte, Demut und Menschenliebe aus, und niemals habe ich ein solches Lächeln, einen so feingeschnittenen Mund, ein so edles Antlitz gesehen. Sein Lächeln verließ ihn keinen Augenblick, er lächelte wie ein Schlafender, der von etwas Schönem und Ersehntem träumt, und jedesmal, wenn unsere Blicke sich trafen, steigerte sich sein Lächeln, und er nickte mir so freundlich und gütig zu, als ob er sagen wolle: »Vertraue nur blind meiner Freundschaft, denn ich meine es mit allen Menschen gut.«
Die Inkarnation Amitabhas! Die irdische Hülle, in der die Seele Amitabhas durch die Zeiten fortlebt! Also eine Gottheit voll übernatürlicher Weisheit und Allwissenheit. Die Tibeter glauben, daß er nicht nur alles weiß, was geschieht und geschehen ist, sondern auch alles, was geschehen wird. Mag er Amitabha selber sein; soviel ist gewiß, daß er ein ganz außerordentlicher Mensch, ein seltener, einziger und unvergleichlicher Mensch ist. Ich sagte ihm, daß ich mich glücklich schätzte, ihn gesehen zu haben, und daß ich die Stunden, die ich in seiner Nähe zugebracht, nie vergessen würde; und er antwortete nur, daß es ihn freuen werde, wenn ich einmal wiederkommen könnte.
Nachdem ich ihm noch einmal für seine große Gastfreundschaft und Güte gedankt hatte, rief er einige Lamas herauf und erteilte ihnen Befehl, mir die Tempel zu zeigen. Dann reichte er mir wieder beide Hände und folgte mir mit seinem wunderbaren Lächeln, als ich mich mit Verbeugungen entfernte. Seine freundlichen Blicke verließen mich nicht, bis ich durch die in das Vorzimmer führende Tür verschwand. Am Fuß der ersten Treppe warteten mehrere Lamas; sie lächelten stumm, machten große Augen und fanden gewiß, daß mir durch eine so lange Audienz eine seltene Gunst erwiesen worden sei. Von nun an behandelten mich alle mit Noch größerer Achtung als vorher, und es war klar, daß schon an demselben Abend der ganze Basar und die ganze Stadt Schigatse wußte, daß ich drei Stunden bei dem Heiligen zugebracht hatte. Ich selber konnte kaum an anderes denken als an den Taschi-Lama und den mächtigen Eindruck, den er auf mich gemacht hatte. Ich verließ den Labrang, sein Klosterschloß, berauscht und bezaubert von seiner Persönlichkeit. Dieser Tag wog viele Tage in Tibet auf, und ich fühlte, daß ich jetzt Tibets größte Sehenswürdigkeit geschaut hatte, die kaum von den Gebirgsmassen übertroffen werden konnte, deren schneebedeckte Gipfel seit uralten Zeiten in den öden Tälern, die sich an ihrem Fuß hinschlängeln, Generationen haben geboren werden und sterben sehen.
Während unseres Verweilens in Schigatse erwarb ich mir unter den Mönchen Taschi-lunpos viele Freunde, die mir mit der größten Bereitwilligkeit all die Aufklärungen gaben, um die ich sie bat. Einer erzählte mir, daß ein Taschi-Lama, wenn er den Tod herannahen fühle, nach den Vorschriften des heiligen Gesetzes in sitzender Stellung bleiben müsse, mit untergeschlagenen Beinen und die Hände mit der Innenseite nach oben im Schoß, da er in derselben Stellung sterben müsse wie der meditierende Buddha. Seine letzten Augenblicke werden ihm von einer Menge Mönche versüßt, die ihn auf allen Seiten umgeben, die Luft durch das Murmeln ihrer Gebete erfüllen, unaufhörlich mit den Handflächen und der Stirn vor ihm auf den Fußboden niederfallen und ihm und seinem fliehenden Geist göttliche Anbetung zuteil werden lassen. Wenn er das Bewußtsein verloren und keine Gewalt mehr über seinen Körper hat und schlaff zusammensinkt, wird er gestützt, und wenn das Leben entflohen ist, setzt man ihn so, daß er in der orthodoxen Stellung erstarrt. Der Tote wird mit dem priesterlichen Ornat bekleidet – jedes Stück ist neu und noch nie getragen worden –, dann setzt man ihm die hohe Mitra auf den Kopf. Totengebete werden hergesagt, mystische Zeremonien vorgenommen, und so schnell es sich machen läßt, setzt man den Toten, immer noch in sitzender Stellung, in ein metallenes Gefäß, das dann mit Salz gefüllt und hermetisch verschlossen wird. Darauf wird seine Grabkapelle in Ordnung gebracht; da diese in einem massiven Steingebäude liegen muß und inwendig sehr kostspielig und künstlerisch dekoriert wird, mag wohl lange Zeit erforderlich sein, ehe sein Staub endgültig Ruhe findet. Die Kosten tragen die Pilger und die Frommen im Lande, und gerade aus Veranlassung des Todesfalles strömen die Gaben reichlicher als je, denn es ist eine gute Tat, zur letzten Ruhestätte eines Taschi-Lama beizutragen; eine solche Freigebigkeit sichert dem Geber Verdienste in der Kette der Seelenwanderung.
Nach dem Tode verkörpert sich Amitabha in dem Leib eines neugeborenen Knaben; die Schwierigkeit besteht nur darin, zu erfahren, wo dieser sich befindet. Man schickt daher in ganz Tibet und überall in den lamaistischen Nachbarländern Schreiben umher, worin man sich erkundigt, ob sich irgendein mit ungewöhnlichen Geistesgaben ausgerüstetes Kind männlichen Geschlechts gezeigt habe. Zahlreiche Antworten laufen ein. Nachdem einer oder der andere verworfen worden ist, handelt es sich darum, ihn unter den übrigen herauszufinden, von denen man überzeugt ist, daß unter ihnen der richtige sein muß. Die Namen der Knaben werden auf Papierstreifen geschrieben, die aufgerollt in eine Deckelschale gelegt werden, und diese stellt man vor die Statue eines Hauptgottes, wahrscheinlich vor die des Amitabha oder die des Tsongkapa, worauf dann hohe Kardinäle vor der Schale Gebete sprechen, passende Stellen aus den heiligen Schriften rezitieren, den Göttern Opfergaben darbringen, Weihrauch aufsteigen lassen und allerlei andere Zeremonien vornehmen, bis dann der Deckel schnell entfernt wird und der zuerst herausgenommene Zettel den neuen Pantschen Rinpotsche angibt. Die Entscheidung dieser Verlosung muß jedoch vom Dalai-Lama bestätigt werden, ehe sie Gesetzeskraft erlangt, und der neue Oberpriester, ein unschuldiges Kind, erhält von ihm die Weihen. Wenn der Dalai-Lama abwesend oder selber minderjährig ist, geschieht dies durch ein Konklave hochgestellter Priester.