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Dreiunddreißigstes Kapitel.
Der Raga-tsangpo und der My-tschu.

Am 3. April ging es auf dem Wege nach Westen ernstlich weiter, an anmutigen Dörfern und kleinen Klöstern vorüber, und wieder näherten wir uns dem Ufer des Tsangpo an einer Stelle, wo zwischen zwei lockeren Steinblöcken auf den Ufern eine schwankende Seilbrücke ausgespannt ist. Hier bildet das Wasser Stromschnellen; der Fluß bleibt von nun an nur 50 Meter breit, manchmal noch weniger, das Tal ist oberhalb der Weitung von Je-schung schmal und zusammengedrängt. Von dem Dorfe Pusum, wo wir lagerten, sieht man im Südwesten den Berg Najala, einen der Triangulationsfixpunkte auf Ryders Karte. Seine und Rawlings Expedition bewegte sich im Süden des Tsangpo, und es sollte nun noch zwei Monate dauern, ehe ich zum erstenmal ihre Route berührte. Der Fluß stieg infolge der Eisschmelze in den höheren Teilen seines Laufes im fernen Westen jetzt einen Monat lang.

Das Dorf Pusum liegt auf einer steilen Terrasse über dem Fluß. Die Schuttkegel gehen gerade nach dem Ufer hinunter, und auf dem Südufer erheben sich steile Berge. Das Tal ist eng und ganz gerade, so daß man schon von Pusum aus Pinsoling sieht, das Ziel des nächsten Tagemarsches; gleich einer Ritterburg am Rhein thront es auf einem Felsenvorsprung. Der Pfad zieht sich auf steilen, ungemütlichen Geröllabhängen hinauf. Nur grauer und roter Granit nebst schwarzem Schiefer sowohl im anstehenden Gestein wie im Schutt.

Beinahe unmittelbar südlich von Tschagha, einem Dorf mit ein paar Steinhäusern in einem Haine alter Weiden, erblickt man auf dem rechten Ufer das Kloster und den Dsong Pinsoling. Der Fluß ist schmal und die Ufer voll runder Granitblöcke von einem Meter Durchmesser; das nötige Material zu einer Brücke ist also vorhanden. Auf den Ufern sind zwei mächtige Steinpyramiden errichtet, hinter beiden noch zwei kleinere. Zwischen jenen sind zwei dicke Ketten ausgespannt, die sich bis an die kleineren Pyramiden weiterziehen und an ihnen noch einmal befestigt sind. Zwischen den Ketten wird ein Geflecht von Seilen wie eine Hängematte ausgespannt, auf die man schmale Planken legt; auf diesen geht man und benutzt die Ketten als Geländer (Abb. 175). Seit drei Jahren aber wird die Pinsolingbrücke nicht mehr benutzt; wer bei Tschagha nach Pinsoling hinüber will, muß erst flußaufwärts nach Ladse-dsong gehen und die dortige Fähre benutzen. Ich erkundigte mich, wie alt die Brücke sei. »Ebenso alt wie das Kloster«, war die Antwort. »Und wie alt ist das Kloster?« Ein Dorfbewohner sagte aufs Geratewohl: »Tausend Jahre.« Ein anderer aber meinte, das sei übertrieben, denn das Kloster solle vor 250 Jahren von einem Lama, der Jitsyn Tara Nara geheißen habe, angelegt sein. 200 Mönche gehörten zum Kloster Pinsoling, aber über die Hälfte seien gerade verreist. Ein Beamter des Dsong, der den Titel »Dsabo« führt, wohnt in Tschagha und visierte meinen Paß.

siehe Bildunterschrift

175. Kettenbrücke über den Brahmaputra zum Kloster Pinsoling (rechts).

Der Fluß hatte seinen niedrigsten Wasserstand, soll aber während der Hochwasserperiode bis an die Brückenketten reichen, was mir unwahrscheinlich erscheint, da sie an ihrer tiefsten Stelle gut 6 Meter über der Oberfläche des Flusses hängen. Selbst in kalten Wintern bleibt in der Mitte des Flusses eine Rinne offen. Nach dem Quertal, in dem Schigatse liegt, gelangen Boote in vier bis fünf Tagen, während des Sommers aber in zwei bis drei Tagen, weil der Fluß dann mit riesiger Schnelligkeit dahinrauscht. Man hielt es für weniger gefährlich mit der Hochflut zu fahren, weil die Boote dann glatt über Blöcke und Bänke hinwegtreiben, und sagte mir, daß nur äußerst selten jemand auf dem Fluß verunglücke oder eine Bootslast verloren gehe.

Schwarze und dunkelviolette Berge erheben sich um das Dorf herum, hier und dort sieht man von ihnen nur Streifen zwischen Flugsandgürteln; sie gleichen dann einem Tigerfell. Bei einem Kamm im Südwesten liegt eine bedeutende Düne.

Der Tagesbefehl des 5. April besagte, daß Muhamed Isa mit den gemieteten Tieren und dem Gepäck an dem Punkt lagern solle, wo sich der Raga-tsangpo in den oberen Brahmaputra ergießt. Wir anderen ritten nach dem kleinen Paß Tsuktschung-tschang hinauf in einem Ausläufer des Gebirges, der bis an das Ufer des Hauptflusses reicht. Von diesem Punkt aus hat man einen großartigen Überblick über das Haupttal mit dem Fluß, der sich in zwei Armen über Kies und Sand hinschlängelt. Unten erblickte man Eselkarawanen, klein wie Punkte, aber ihre Schellen erfüllten das Tal mit ihrem Geklingel. Von dem Paß führte der Weg halsbrechend steil nach dem Talgrund hinab, so daß wir Extraleute hatten dingen müssen, die das Gepäck trugen, mit dem die Pferde die schroffen Wände nicht hinunterklettern konnten. In abgeschnürten Flußarmen schwammen große, dunkle Fische, und bei ihnen saß Schukkur Ali mit seiner Angel. Drei Meter hohe Sanddünen sind etwas ganz Gewöhnliches; an ihrer dem Wind abgewandten Steilseite, der östlichen, hat sich vielfach ein Tümpel gebildet.

Im Südwesten öffnet sich ein mächtiges Taltor, in dessen Hintergrund steile Berge mit kurzen Quertälern eine hübsche Perspektive bilden. Durch dieses Tor tritt der Brahmaputra dem Raga-tsangpo entgegen, aber dieser Fluß ist hier in seinem untersten Teil unter dem Namen Dok-tschu bekannt, während der Hauptfluß Dam-tschu (= Tamtschok) genannt wird. Am Vereinigungspunkt beider waren keine Zelte zu sehen, und Muhamed Isa erklärte mir später, daß er dort nicht habe bleiben können, weil die Gegend vollkommen vegetationslos sei. Wir ritten daher durch das Dok-tschu-Tal hinauf weiter nach dem Dorfe Tangna, das aus zehn Steinhäusern besteht; die Bewohner bauen Erbsen, Weizen und Gerste, können aber nicht sicher auf die Ernte rechnen.

Ich wollte unter keiner Bedingung versäumen, die Vereinigung der beiden Flüsse anzusehen, und befahl daher meinen Leuten, am folgenden Tag durch das Dok-tschu-Tal hinunter nach diesem Punkt zu gehen. Hiervon wollte aber die Eskorte nichts hören. Es stehe deutlich im Paß, daß ich nicht nach meinem Belieben vorwärts oder rückwärts ziehen dürfte, sondern nur geradeswegs nach Ladak zu marschieren hätte! Schließlich gaben sie sich aber zufrieden unter der Bedingung, daß der Ausflug nicht länger als einen Tag dauern dürfe.

Morgens brachte Muhamed Isa das Boot und die Ruder zum Flusse hinab, während Stricke, Stangen, Beile, Pfähle und Proviant von einigen Ladakis auf dem Wege, auf dem wir gestern gekommen waren, nach dem Vereinigungspunkt der Flüsse hingetragen wurden. Am Ufer angekommen, fand ich das Boot schon zusammengesetzt bereit liegen und setzte mich mit einem auf dem Flusse bekannten Tibeter hinein, der die Ruder so gewandt regierte, als habe er sein Leben lang nichts anderes getan; aber er war auch gewöhnt, sein eigenes Boot zwischen den Ufern bei Tangna zu lenken und kannte das Fahrwasser talabwärts.

Unsere Fahrt durch die Stromschnellen wurde jedoch aufregend und abenteuerlich! Das Gefälle des Flusses ist nämlich durchaus nicht gleichmäßig, es verändert sich stufenweise; seichte, brausende Stromschnellen wechseln mit tiefen, ruhigen Bassins. Von den Bergseiten sind große und kleine Blöcke in den Fluß gestürzt, und bisweilen scheint es unmöglich, zwischen ihnen durchzugelangen. Aber der Ruderer weiß, wie er das Boot zu steuern hat. Schon aus der Entfernung hören wir das Tosen der nächsten Stromschnelle und halten scharfen Ausguck nach vorn. Auf dem Uferweg laufen einige unserer Ladakis, um uns zu warnen, wenn wirkliche Gefahren drohen.

In fliegender Eile saust das Boot stromabwärts. Der Ruderer saß stumm mit zusammengebissenen Zähnen und fest gegen den Boden gestemmten Füßen und umspannte die Griffe der Ruder so fest mit seinen schwieligen Händen, daß seine Handknöchel weiß wurden. Wir waren bereits glücklich über mehrere Stromschnellen hinüber und glitten nun gemütlich über eine ruhige Strecke dunkelgrünen Wassers hin. Da hörten wir vor uns das warnende Tosen der nächsten Stromschnelle, aber diesmal stärker als bisher, und da standen auch zwei Ladakis rufend und gestikulierend. Ich erhob mich im Boot und sah nun, daß der Doktschu sich in zwei Arme teilte, deren Wasser weißschäumend zwischen scharfkantigen schwarzen Blöcken hinunterstürzten. Die Stelle sah unpassierbar aus, die Lücken zwischen den Steinen viel zu eng für das Boot, dessen Boden jeden Augenblick durch tückisch verdeckte Blöcke einen Riß erhalten konnte; über mehreren von ihnen wölbte sich das Wasser zu hellgrünen Glocken, die sofort wieder in schäumendem Spritzwasser zersprühten. »Wenn es gut abläuft, soll's mich freuen!« dachte ich, ließ aber den Ruderer gewähren. Wir waren schon in der saugenden Strömung, die keinen Widerstand duldete, und trieben schneller und schneller nach den beiden Stromschnellen hin. Mit kräftigen Ruderschlägen zwang der Ruderer das Boot, in den linken Arm einzubiegen. Die Ladakis standen sprachlos am Ufer und warteten, daß wir Schiffbruch leiden würden, um in die Schnellen hineinzuwaten und uns zu retten. Da stießen wir gegen den ersten Block, aber der Ruderer führte das Boot in das tiefste Wasser hinaus und ließ es einen kleinen Wasserfall hinabgleiten, hinter dem wir einen Stoß von der anderen Seite erhielten. Jetzt erweiterte sich das Fahrwasser, wurde aber auch seichter und das Boot schrammte immerfort gegen den Grund, zum Glück aber nur mit dem Kiel und ohne leck zu werden. Die Strömung war stark genug, uns über Steine und Schutt hinwegzuspülen.

Nach einer Weile vereinigten sich die beiden Arme, der Fluß wurde ruhig und tief. Der Ruderer hatte keine Miene verändert; jetzt half er mit den Rudern nach. Wir waren noch auf der nördlichen Talseite; aber gerade in der Krümmung, wo der Fluß sich der südlichen zuwandte, tobte und kochte das Wasser wilder als je zuvor, und hier erklärte der unerschrockene Ruderer, daß das Weiterfahren unmöglich sei. Mir stockte der Atem bei dem Anblick des weißschäumenden Wassers, das sich auf der Schwelle des Falles brach; in einer Sekunde mußte das Boot vom Sog gepackt werden und ohne Gnade kentern! Aber im rechten Augenblick trieb der Ruderer unsere Nußschale in eine kleine Bucht mit Gegenströmung, und da konnten wir landen. Die Ladakis waren herbeigeeilt, zogen das Boot aufs Land und setzten es unterhalb des Wasserfalles wieder auf das Wasser.

Nun trieben wir herrlich an den steilen Felswänden des Südufers vorbei, wo die Tiefe manchmal 1,6 Meter und manchmal wenig mehr als einen Fuß betrug. Ich habe eine Stange und helfe beim Abhalten vom Ufer. Wieder werden wir nach der nördlichen Talseite hingeführt und tanzen und schaukeln durch eine Reihe schmaler, lustiger Stromschnellen, die gewöhnlich tief genug sind. Hier und dort schrammen wir freilich auch gegen den Boden, aber der hölzerne Kiel pariert die Stöße noch. Unterhalb eines mitten im Fluß liegenden Riesenblockes entsteht ein saugender Mahlstrom, in den wir beinahe hineingeraten wären. Aber es läuft glücklich ab, und schließlich gelangen wir an den Punkt, wo der Dok-tschu sein schneegeborenes Wasser in die Fluten des Brahmaputra strömen läßt.

Der Nebenfluß hat sich hier in zwei Deltaarme geteilt, die anderthalb Meter hohe Kiesufer haben. Auf dem linken Ufer des Hauptarmes wurde ein Pfahl eingeschlagen, um den wir das eine Ende eines Seiles banden; mit dem anderen Ende ruderte ich nach dem rechten Ufer hinüber, wo das Seil an einem zweiten Pfahl befestigt wurde. Die Breite betrug 54 Meter. Dann maß ich in gleichmäßig großen Abständen an elf Stellen die Tiefe des Flusses, die 1,3 Meter nicht überstieg. An derselben Stelle wurde die Stromgeschwindigkeit an der Oberfläche, in der Mitte und am Grunde mit Lyths Strommesser gemessen. Wenn man erst die Breite und die Durchschnittswerte der Geschwindigkeit kennt, erhält man die Wassermenge, die also jetzt in beiden Armen des Dok-tschu 33 Kubikmeter in der Sekunde betrug.

An der Stelle, wo sich die beiden Flüsse miteinander vereinigen, ist der Dok-tschu reißend und rauschend, der Brahmaputra aber langsam, tief und ruhig. Seine Breite betrug 46 Meter und die größte Tiefe 4,67 Meter; das Bett ist folglich sehr ausgehöhlt und schmal; die Wassermenge belief sich auf 84 Kubikmeter in der Sekunde, so daß der Tsangpo jetzt nur anderthalbmal so groß war wie sein Nebenfluß, der Dok-tschu. Die Seehöhe betrug hier 4013 Meter.

Als ich mit dieser Arbeit fertig war, durften unsere Freunde Tso Ting Pang und Lava Taschi mich auf einer kleinen Ruderfahrt den Hauptfluß ein Stück hinunter begleiten; dann landeten wir an einem Vorsprung, wo unsere Leute ein Feuer angezündet und das Beste, was sie besaßen, aufgetischt hatten, nämlich harte Eier, kalten Aufschnitt von Hühnern und Milch. In gemütlicher und gemischter Gesellschaft, ein Schwede unter Tibetern, Chinesen und Ladakis, verzehrten wir unser spätes Mittagessen in der großartigsten, energisch ausgemeißelten Landschaft, die man sich nur denken kann. Während die anderen ihr Pfeifchen rauchten und ihren fettigen Tee schlürften, zeichnete ich eine Skizze des riesigen Tors von festem Granit, durch das sich die Wassermassen des Brahmaputra auf ihrem Weg nach Osten wälzen, nach dem Dihongtal und den Ebenen Assams hin. Ich wäre hier gern noch lange geblieben und hätte zugeschaut, wie der unersättliche Fluß in jedem Augenblick, der entflieht, seinen bedeutenden Tribut vom Dok-tschu einzieht; aber es wurde dämmerig, und wir hatten einen weiten Heimweg; wir legten daher das Boot zusammen, packten es mit der übrigen Bagage auf gemietete Pferde, stiegen selber in den Sattel und ritten talaufwärts. Wie schon so oft zuvor, überraschte uns auch heute die Dunkelheit. Vor uns ging Rabsang mit einem Tibeter an jeder Hand; alle drei brüllten so laut sie nur konnten! Alle waren brillanter Laune, es war frisch und angenehm unter den funkelnden Sternen, und begleitet vom Schellengeklingel der Chinesenpferde weckten die fröhlichen Sänger ein schlummerndes, schrilles Echo in den Sälen der Berge. An einer gefährlichen Stelle in der Nähe des Dorfes, wo der Weg auf einer über dem Fluß vom Gestein gebildeten Leiste entlang geht, kam man uns mit Papierlaternen entgegen; bald darauf saßen wir nach einem anstrengenden aber lehrreichen Tagewerk friedlich in unseren Zelten.

Langsam stiegen wir am folgenden Tag in nordwestlicher Richtung das Dok-tschu-Tal hinauf, ein hinreißend schöner Weg, auf dem man unaufhörlich absitzen und die wilde Bergszenerie in Ruhe hätten genießen mögen!

Aber jetzt ist es mir nicht möglich, dabei zu verweilen; eine Seite meines Tagebuches nach der andern muß überschlagen werden, wenn ich je mit der Beschreibung dieser Reise, auf der unser noch so viele harte Schicksale und böse Abenteuer warten, zu Ende kommen soll!

Wir reiten durch Schutt und groben Sand, die Verwitterungsprodukte des grauen Granits, wir kommen an einer Reihe kurzer, abschüssiger Quertäler und an mehreren pittoresken Dörfern vorüber. Eines von ihnen, Matschung, hat eine herrliche Lage am Fuß der steilen Felsen auf der Nordseite des Tales, von denen ein ovaler Block abgestürzt ist und wie ein riesenhaftes Ei im Sande steht, ein dekoratives Piedestal, das auf eine Reiterstatue wartet. Auf seiner östlichen, von Wind und Wetter blank polierten Fläche ist eine regelrechte Trikolore gemalt, Weiß in der Mitte, Rot links und Blau rechts, aber weder Bonvalot, noch Dutreuil de Rhins haben dieses Erinnerungszeichen hinterlassen, denn in dieser Gegend ist noch nie ein Reisender gewesen. Die Bewohner des Dorfes sind es, die hier flaggen, und neben der Trikolore erblickt man eine zweite symbolische Malerei, ein weißes Kreuz in schwarzem Felde. Bei dem Dorf spiegeln sich knorrige Bäume in einem Teich. Die Dorfleute stehen gaffend an den Ecken und in den Haustüren, während ein Mann meinen Dienern einen Schluck Tschang aus einer Holzschale anbietet. Die Seiten der Felsen sind in seltsamen Formationen modelliert; der Granit ist vertikal zerklüftet und steht wie senkrechte Kulissen im Tal. Oft geht es an Manihaufen vorbei – allenthalben zeigt sich, daß wir uns in einer Gegend mit vielen Klöstern befinden, der ganze Weg ist mit religiösen Kennzeichen geschmückt. Bei jedem Mani teilt sich der Weg, denn keiner, außer den Anhängern der Pembosekte, unterläßt es, links an ihm vorüberzugehen, in derselben Richtung, wie sich die Gebetmühlen drehen. Auf dem Gipfel mehrerer Felsen erblickt man Mauer- und Turmruinen; man merkt, daß das Tal in dahingeschwundenen Zeiten dichter bewohnt gewesen ist. An zwei Stellen gewähren geschützte Felsspalten verkrüppelten Wacholdersträuchern gastliche Unterkunft. Auf der nördlichen Talseite hat der Fluß einst die Basis der Granitwand poliert, und auf ihrer blanken Fläche sind zwei Zeichnungen angebracht (Abb. 178). Sie bestehen aus den Konturen zweier Buddhabilder und sind recht künstlerisch ausgeführt. Die westliche ist von zwei anderen, schwach sichtbaren Figuren umgeben, und unter ihnen sind allerlei Ornamente, Ranken und Zeichen in den Granit eingehauen. Gleich oberhalb dieser Stelle lagerten wir in einer höchst malerischen, interessanten Talerweiterung im Dorfe Lingö (Abb. 184).

siehe Bildunterschrift

184. Die eine Boothälfte zur Überfahrt über den Doktschu-tsangpo bei Lingö bereit.

Ein Teil der Bewohner Lingös zieht im Sommer mit seinen Viehherden sechs bis sieben Tagereisen weit nach Norden, denn der Boden ist um Lingö herum schlecht und auf die Ernte ist kein Verlaß. Der Dok-tschu läßt sich hier im Sommer nicht ohne Boot überschreiten; im Winter friert der Fluß allerdings zu, aber selten so fest, daß sein Eis trägt. Das Interessante an dieser Talerweiterung ist, daß der gerade von Westen kommende Dok-tschu oder Raga-tsangpo sich just hier mit unserm alten Bekannten, dem My-tschu, vereinigt, der 15,11 Kubikmeter Wasser in der Sekunde führt. Für den ganzen Dok-tschu hatte ich am Tag vorher 33 Kubikmeter ausgerechnet; also ist der Unterschied von 18 Kubikmeter das vom Raga-tsangpo gelieferte Wasser, und der My-tschu ist folglich nur ein Nebenfluß des Raga. Andererseits aber ergießt sich der Dok-tschu in mehreren, stromschnellartigen Deltaarmen in den My-tschu, der tiefer im Talgrund liegt und ruhiger fließt; von diesem Gesichtspunkt aus müßte der My-tschu also der Hauptfluß sein; dies kann als Geschmacksache angesehen werden.

Am 8. April hatten wir wieder einen herrlichen Tag, um 1 Uhr 11,4 Grad im Schatten. Wir sollten nun die intimere Bekanntschaft des My-tschu machen, eines Flusses, den wir bis jetzt nur vom Hörensagen kannten; aber um so besser kannten wir seinen von Osten kommenden Nebenfluß, den wir auf der Hinreise überschritten hatten. Wie gewöhnlich wechseln wir die Lasttiere beinahe in jedem Dorf, wo wir lagern, und Robert bezahlt die Miete den Dorfleuten, damit die Eskorte keine Gelegenheit hat, sie in ihren eigenen Beutel zu stecken, wenigstens nicht in unserer Gegenwart. Gewöhnlich zieht die Karawane ein wenig voraus, während zwei Dorfleute mich begleiten und mir Auskunft über die Gegend erteilen.

Gleich hinter Lingö biegen wir in das My-tschu-Tal ein, reiten nordwärts und lassen nun das Tal des Raga-tsangpo westlich hinter uns zurück. In der Biegung selbst geht es über einen kolossalen Kegel von Granit, der aus rundgeschliffenen Blöcken besteht, zwischen denen der Weg im Zickzack auf und nieder kriecht und zuweilen eine Treppe bildet, die beladene Tiere unmöglich passieren können. Wir nahmen deshalb verschiedene Bauern aus dem Dorf zu Hilfe, um das Gepäck zu tragen. Zur Linken haben wir den Fluß, breit, tief und langsam; die abgestürzten grauen Granitblöcke stechen grell gegen das dunkelgrüne Wasser ab, in dem ganze Kolonnen schwarzrückiger Fische umherschwimmen und emporschnellen. Auf einer Granitfläche sieht man eine buddhistische Felsenzeichnung, die die Zeit teilweise verwischt hat. Dann folgt ein Mani dem anderen. In einer Grotte mit schwarzberußter, gewölbter Decke und einer kleinen Schutzmauer von Steinblöcken haust ein Schmied, um Reisenden zu Dienst zu stehen. Hoch droben auf einer Felsenterrasse liegt Gunda-tammo, ein kleines Nonnenkloster; unten führt eine Kettenbrücke zwischen zwei verstümmelten Pyramiden über den Fluß. Sie ist nur für Fußgänger. Der Fluß ist tief zwischen seinen Uferterrassen eingeschnitten, und zwei Streifen klaren grünen Eises sind noch sichtbar. Das Flußbett ist so regelmäßig ausgegraben wie ein Kanal. Eine Felswand am Eingang eines Seitentales zeigt ein schwarzes Gesicht von 2 Meter im Durchmesser, mit Augen, Nase und Mund in Rot gemalt.

Je höher wir hinaufkommen, desto öfter werden wir daran erinnert, daß wir auf einem heiligen Wege sind, der von einem Tempel zum anderen führt, einem Klosterweg der Mönche, einem Wallfahrtsweg der Pilger, einer Straße, auf der man öfter als sonst » Om mani padme hum« murmelt. Bald sind Steinblöcke und Felsenvorsprünge rot angestrichen, bald Steinhaufen am Wegrand aufgetürmt, bald sehen wir schornsteinförmige Monumente mit Büscheln wimpelgeschmückter Gerten, bald wieder lange Manihaufen, von denen einer 120 Meter lang war. Zwei mitten auf dem Weg liegende einzelne Granitblöcke waren mit erhabenen Schriftzeichen ganz bedeckt – eine ungeheure Arbeit. Wir sind in der Tat in einer großen Pulsader des Verkehrs, der lebhafter ist als am Ufer des Tsangpo. Unaufhörlich begegnen uns Yak- und Eselkarawanen, Reiter und Wanderer, Mönche, Bauern und Bettler. Sie grüßen höflich, die Mütze in der Linken, mit der Rechten den Kopf kratzend, die Zunge weit aus dem Munde gestreckt und rufen mir zu: »Glückliche Reise, Bombo!«

Klare Quellen rieseln über den Weg; das Tal verengt sich und wird immer großartiger an kräftiger, kühner Plastik; der Granit hört auf und an seine Stelle tritt ein feinkörniger kristallinischer Schiefer. In der Landschaft Tong, wo hoch über dem Fluß mehrere Dörfer (Abb. 185), liegen, lagerten wir unterhalb des Klosters Lung-gandän-gumpa (Abb. 179), in dem 21 Mönche der Gelugpasekte wohnen und in dessen »Labrang« wie gewöhnlich ein Prior vom Kanpograde residiert. Wir machten einen Besuch, zogen aber die herrliche Aussicht über das Tal den in der Dämmerung stehenden Götterbildern vor. Einen Teil ihres Unterhaltes bekommen die Brüder (Abb. 173) vom Taschi-Lama und leben im übrigen vom Ertrag ihrer Felder, denn das Kloster besitzt ziemlich viel Ländereien. Ein Blinder, der nicht zur Brüderschaft gehörte, saß wie eine Maschine an der Gebetmühle, um sie für die Mönche zu drehen, und weinte über sein hartes Los. Der »Gova«, der Distriktshäuptling von Tong herrscht über mehrere Dörfer der Gegend und lebt in seinem festen, wohleingerichteten Hause wie ein Fürst.

siehe Bildunterschrift

185. Tibeter im Dorf Tong.

siehe Bildunterschrift

173. Lama in Tong. Skizze des Verfassers.

Auch am 10. April folgten wir dem Lauf des My-tschu an bisher unbekannten Dörfern und Klöstern vorbei. Die Dörfer liegen unmittelbar unterhalb der Mündungen der Nebentäler, wo man die größte Aussicht hat, von dem Berieselungswasser Nutzen zu ziehen. Eine Karawane von wohl 100 Yaks, die von Männern und Weibern getrieben und zum Teil auch geritten wurden, war in Tok-dschalung gewesen und hatte dort Tsamba aus Tong verkauft; auf der Rückreise von jener Goldgrube in Westtibet war sie drei Monate unterwegs gewesen. Sie benutzte dabei einen Weg durch das Gebirge, wo die Yaks geeignete Weide fanden. So gelangt der Ertrag des Erdbodens von den besser bedachten Teilen des Landes zu den Nomaden, die ihn gegen Wolle, Häute und Salz eintauschen. Nach kurzem Marsch lagerten wir in Ghe, das 19 Häuser hat. Ein »Angdi«, ein Musikant, fiedelte und kratzte auf einem zweisaitigen Instrument (Abb. 186), während seine Frau uns etwas vortanzte.

siehe Bildunterschrift

186. Wandernder Musikant und Tänzerin.

Hier kehrte die Eskorte von Schigatse um, nachdem sie unseren Paß vier neuen Männern, deren vornehmster der Gova von Tong war, feierlich überliefert hatte. Sie hatten uns vorzügliche Dienste geleistet, ich gab ihnen daher sehr gute Zeugnisse und Trinkgelder. Sie waren zufrieden und wollten bis an ihr Lebensende für mein Wohlergehen beten. Besondere Sympathie empfand ich für den einen Tibeter, der seine beiden Söhne in der Schlacht bei Guru verloren hatte; der eine war 23 und der andere 25 Jahre alt gewesen, und der Vater konnte nicht begreifen, weshalb sie gefallen waren, da sie doch nichts Böses getan hätten.

Klingelnd wie eine Schlittenpartie begleitete uns die neue Eskorte am nächsten Tag den My-tschu hinauf, der denselben Charakter beibehält. Granit und Schiefer wechseln ab. Der Fluß tost, obgleich er gelegentlich ruhige Strecken hat. Im Hintergrund der Seitentäler erblickt man oft gewaltige, leicht mit Schnee bedeckte Bergstöcke und an ihrem Eingang Dörfer mit steinernen Häusern und Äckern, auf denen man nur Gerste und Erbsen, selten Weizen baut. Die schwarzen Zelte, die wir gelegentlich sehen, gehören Kaufleuten, die auf der Reise nach oder von Westtibet sind. Über Nebenflüsse führen Brücken, flache Steinplatten, die auf ein paar Balken zwischen ziemlich hohen, ein wenig überhängenden Steinmauern ruhen. Die religiösen Steinhaufen sind noch immer zahlreich; einer davon hatte zur Entstehung einer Sanddüne Veranlassung gegeben. Wildenten, Tauben und Rebhühner kommen hier vor – die letzteren kamen ohne ihre Absicht dazu, eine Rolle in Tserings Küche zu spielen. Im Dorfe Sirtschung ist die Bevölkerung zahlreich; hier treffen auch mehrere Straßen und Nebentäler zusammen. Unter dem Haufen der Schaulustigen (Abb. 188) befand sich eine junge Frau, die so außergewöhnlich hübsch war, daß sie auf zwei Platten photographiert wurde. Sie war 20 Jahre alt und hieß Putön (Abb. 187).

siehe Bildunterschrift

188. Gruppe von tibetischen Weibern.

siehe Bildunterschrift

187. Die hübsche Frau Putön in Sirtschung.

Den Tag darauf besuchten wir das nahe Kloster Lehlung-gumpa, dessen 26 Mönche irgendeiner heterodoxen Sekte angehören, denn sie erkennen weder Tsongkapa noch den Taschi-Lama an; der Prior hatte sich in seiner Wohnung eingeschlossen, in tiefes Grübeln versunken. Ein Lama und drei Einwohner aus dem benachbarten Dorf Nesar waren am Tage vorher gestorben, unsere tibetische Eskorte warnte uns daher, nicht nach dem Kloster hinaufzugehen, da wir dort angesteckt werden könnten. Als wir uns aber doch hinbegaben, baten sie um die Erlaubnis, uns wenigstens nicht begleiten zu müssen. Dieses öde, verfallene Kloster lag stolz und königlich auf seiner Felsenspitze, ziemlich hoch aufwärts in einem Seitental, das sich von links nach dem My-tschu hinzieht. Von seinen Dachplattformen hatte man eine wunderbare orientierende Aussicht über das Tal des My-tschu. Was wir bisher noch nie gesehen hatten, war eine Reihe ausgestopfter Yaks, die hart wie Holz und knochentrocken mit Hörnern, Zehenpaaren und Häuten an der Decke einer Veranda aufgehängt waren. Keiner der Mönche konnte sich erinnern, wann sie dort angebracht worden waren. Sie sahen uralt aus und schienen dieselbe Aufgabe zu haben wie die vier Geisterkönige und die gemalten wilden Tiere, nämlich böse Geistermächte fern zu halten.

Unterhalb des Klosters stehen ganz dicht nebeneinander 24 Manis in einer Reihe und gleichen einer Kirchspielgrenze auf einer Landkarte. Auf dem ganzen Wege bergauf sind diese religiösen Steinhaufen so zahlreich, daß sie sogar die bei Leh noch übertreffen. Das Land wird immer hochalpiner, das Tal wilder und öder; bei Lehlung-gumpa bildeten aber einige Bäume noch einen kleinen Hain. Schließlich ritten wir aus einer Geröllterrasse, wohl 40 Meter hoch über dem Fluß, der jetzt kleine Wasserfälle bildete und gemütlich zwischen abgestürzten Steinblöcken hinrieselte. In der Nähe des Seitentales Kathing hatte die Karawane in dem engen Tal unmittelbar am Ufer des My-tschu ihr Lager aufgeschlagen. Das Gepäck war zum größten Teil von Tibetern getragen worden, weil keine Lasttiere vorhanden waren, und jetzt saßen wohl 100 Schwarzköpfe gruppenweise zwischen großen Felsblöcken an ihren Feuern.

Hier befanden wir uns auf einer Höhe von 4229 Meter, waren also von Schigatse, dessen Höhe 3871 Meter beträgt, nur 358 Meter emporgestiegen. Aber die Luft wurde wieder kühler; die letzte Nacht hatten wir 13 Grad Kälte gehabt.


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