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Am neunzehnten Tag des Septembers nahmen wir von den Indern und den Eingeborenen von Tankse Abschied (Abb. 69). Um jene tat es mir leid, sie konnten ja nicht dafür, daß sie nicht für das Klima taugten, und sich sonstwie auszuzeichnen hatten sie noch keine Gelegenheit gehabt. Den letzten Abend hatte Bikom Sing seinen Schwanengesang in unserer Gesellschaft angestimmt, nämlich dieselbe eintönige, resignierte Sanskrithymne, die ihm und seinen Landsleuten schon so oft eine Erinnerung gewesen war an ein wärmeres Land mit freundlichen Hütten im Schatten der Palmen und der Mangobäume, an beladene Ochsenkarren auf staubigen Landstraßen und an das entsetzliche Warngebrüll des Königstigers in den Dschungeln der Flußufer, wenn in den lauen Frühlingsnächten der Vollmond am Himmel steht. Jetzt dankte ich ihnen für treue und ehrliche Dienste, bezahlte sie gut, sorgte für ihre Rückreise und versah sie mit besten Empfehlungen. Als Proviant erhielten sie Mehl, Zucker, Tee und Reis, nebst einem Schafe für ihren Unterhalt. Manuel durfte einen der kleinen Hunde, in den er sich verliebt hatte, mitnehmen. Muhamed Isa hatte ihnen aus leeren Kornsäcken ein Zelt zum Schutz gegen die Nachtkälte genäht.
69. Die Leute von Tankse, die mich verließen.
Am ersten Tag wollten sie bloß bis an den Fuß der roten Bergkette ziehen, und der Tag war schon weit vorgeschritten, als sie nach einem kräftigen Händedruck zum Abschied zu Pferde stiegen. Wir blieben noch eine Weile stehen, sahen ihre kleine Schar sich unter der Sonne im Südwesten verkleinern, und bald verschwanden sie hinter den ersten Hügeln.
Ich habe nie wieder etwas von ihnen gehört! Nach anderthalb Jahren fragte Manuels Vater schriftlich bei mir an, wo sein Sohn geblieben sei, aber ich wußte es nicht. Soviel machte ich ausfindig, daß er wohlbehalten in Leh angelangt war, aber weiter konnte ich seine Spur nicht verfolgen. Indessen hoffe ich, daß er nach seinen Irrfahrten glücklich heimgekommen sein wird. Die Scheidenden fehlten uns ordentlich, aber ich tröstete mich mit dem Boot, das ausgepackt und am Ufer zusammengesetzt wurde.
Ein strahlend klarer Tag nach 16,8 Grad Kälte! Die Quelle an unserem Lager war zu einem glänzenden Streifen gefroren, der sich zum Strand hinunterschlängelte, und am Ufer klapperte ein zwei Meter breiter Eisrand im Wellengeplätscher. Das Wasser des Sees läßt sich im Notfall trinken; wahrscheinlich verringern seinen Salzgehalt die Zuflüsse an unserem Ufer, wo der vom Paß kommende Fluß und zahlreiche Quellen münden. Die feine Kräuselung des Sandes auf dem Grund des Sees ist von der oszillierenden Bewegung des Wellenganges scharf gezeichnet; das Wasser ist vollkommen kristallklar.
Nun wurden unsere Tiere, die im Lager Nr. 15 noch einen Kameraden verloren hatten, mit den schweren Lasten beladen. Die Karawane hatte Befehl, am Nordufer entlang zu ziehen und in seiner Nähe an einer geeigneten Stelle Lager zu schlagen. Robert sollte eine provisorische Kartenskizze von dem Verlauf der Uferlinie machen, Tsering, Muhamed Isas Bruder, durfte mich auf seine Bitte begleiten. Und so verließen wir denn gleichzeitig und mit einem Gefühl der Erleichterung diesen öden Platz, wo wir unseren Reisegefährten Lebewohl gesagt und sieben unserer Pferde verloren hatten! Von der Stille der Einöde umgeben, lagen sie da wie durch das Lied der Uferwellen in Schlaf gewiegt – ein von Göttern und Menschen vergessener Friedhof.
Tsering fand sich mit den Rudern bald gut zurecht, und nachher kam uns der Westwind zu Hilfe. Wir fuhren schräg nach der nordwestlichen Ecke des Sees hinüber und hatten es viel näher als die Karawane, die einen bedeutenden Umweg machen mußte. Die Fahrt machte keinen Anspruch darauf, mehr als eine Probefahrt zu sein, aber vom ersten Augenblick an war ich entzückt von dem englischen Boot, das ebenso fest und bequem, wie leicht zu regieren war. Die größte gemessene Tiefe betrug 48,5 Meter. Nachdem wir um einen Vorsprung herumgefahren waren, erblickten wir den blaugrauen Rauch unseres Lagers eine Strecke weit vom Ufer, zogen das Boot aufs Land und gesellten uns wieder zu den unseren.
Das Lager war nun folgendermaßen angeordnet. In einem großen, unten viereckigen und oben pyramidenförmigen Zelt residierten Muhamed Isa, Tsering, die Küche und zwei der anderen Leute (Abb. 83). Die vornehmeren Ladakis wohnten in dem tibetischen Zelt, während die übrigen sich innerhalb der Verschanzung der Proviantsäcke aufhielten. In Manuels Zelt hauste Robert allein, und um sein Bett herum hatte er so viele Kisten aller Art aufgestellt, daß es an ein Parsigrab erinnerte. Zu äußerst auf dem rechten Flügel stand mein Zelt ein wenig von den anderen entfernt. Der schwarze Pobranghund wurde vermißt; wahrscheinlich hielt er einen Schmaus an den sieben toten Pferden; und richtig: als Muhamed Isa einen Mann zum Lager 15 zurückschickte, fand sich der Hund dort dick und strotzend wie ein vollgestopfter Beutel und so faul und unlustig, daß er kaum gehen konnte. Er hatte sich vollständig überfressen und mochte nachher einen ganzen Tag lang sein Futter nicht einmal ansehen.
83. Muhamed Isa vor seinem Zelt.
Der 21. September wurde ein sehr denkwürdiger Tag in meiner Chronik. Das Boot lag segelfertig am Ufer, und ich beschloß, die Pferde wieder mit seinem Gewicht zu verschonen. Nach Osten hin sah der See ganz klein aus, und es konnte nicht weit bis zu seinem östlichen Ufer sein, in dessen Nähe die Karawane ja überall, wo leidliche Weide war, lagern konnte. Wurde es zu dunkel, ehe ich etwas von mir hören ließ, so konnten meine Leute ja am Ufer ein Signalfeuer anzünden. Aber wir würden schon rechtzeitig eintreffen! Wir behandelten die Sache als Bagatelle und dachten nicht daran, uns mit Proviant, Trinkwasser, Brennmaterial und warmem Nachtzeug zu versehen. Ich war wie gewöhnlich angezogen, trug meine Lederweste und hatte den Ulster mitgenommen, und nur, damit ich auf der Bank im Achter weich sitzen sollte, war ein Pelz darübergebreitet worden.
Ja, wir waren bei dieser Gelegenheit zu leichtsinnig! Vormittags inspizierte ich, wie gewöhnlich, alle Tiere und gab dann Rehim Ali (Abb. 59) Unterricht im Rudern, denn diesmal sollte er mitkommen, und er machte seine Sache so gut, daß er feierlich zum »Kemi-baschi«, zum – Flottenchef ernannt wurde. Unmittelbar beim Abfahren beschloß ich, erst quer über den See zu rudern, um seine Tiefe zu loten und seine Breite zu finden. Die Entfernungen oder richtiger die Geschwindigkeit maß ich mit Lyths Strommesser aus Stockholm, und die Tiefe sollte einmal in jeder Viertelstunde gelotet werden. Den Sammelplatz erreichten wir wohl noch vor Eintreten der Dunkelheit. Um 11 Uhr war die Temperatur des Wassers 6,2 Grad und nachher stieg sie noch um einige Grad. Der Tag war strahlend hell und windstill, um 1 Uhr hatten wir 11,7 Grad. Ich nahm mir das schwarze Mündungstor einer Uferterrasse als Ziel, dorthin wollten wir gewissenhaft steuern. Trinkwasser konnten wir entbehren; das Aräometer zeigte im See 1000; es schwamm also ebenso tief wie in süßem Wasser.
59. Rehim Ali aus Ladak.
Die Lagunen an unserem Ufer waren mit zentimeterdickem Eise bedeckt. Am Fuß der nördlichen Berge zeigten sich sechs wilde Yaks. Der See lag betörend still und blank da, nur noch eine langsame, schwache Dünung, die letzte Nachwehe der Tätigkeit des sterbenden Nachtwindes, ließ sich spüren. Nicht ein Wölkchen, nicht die leiseste Brise, ein doppelter Genuß nach den Stürmen der letzten Tage. Gegen die hell türkisblaue Farbe des Himmels glänzte der See, wenn man nach Süden sah, so hellgrün wie das zarte Laub der Birken im Frühling.
Noch einige Minuten hörten wir die Glocken der abziehenden Maulesel, aber bald verschwanden die schwarzen Linien der Karawane in dem hügeligen Ufergelände. Rehim Ali ruderte wie ein ausgebildeter Ruderknecht. Schon beim zweiten Lotungspunkt betrug die Tiefe 35,1 Meter und beim dritten 49. Als mein Ruderer das nächste Mal die Ruder einziehen mußte, reichte die 65 Meter lange Lotleine nicht bis auf den Grund; leider hatten wir keine Reserveleinen, da ich früher nie so große Tiefen in tibetischen Seen gefunden hatte.
»Dieser See hat überhaupt keinen Grund«, seufzte Rehim Ali.
»Natürlich hat er Grund, aber wir haben keine Leinen mehr.«
»Hält der Sahib es nicht für gefährlich, weiterzufahren, wenn der See so bodenlos ist?«
»Das hat gar keine Gefahr; wir rudern nach dem Ufer hin, das ist nicht mehr weit, und dann haben wir bloß eine kleine Strecke nach dem Lager.«
»Inschallah! Aber es kann weiter sein, als es aussieht. Bismillah!« rief er und legte sich wieder in die Riemen.
Gegen zwei Uhr war der See völlig blank wie eine Glasscheibe; seltsame, verwirrende Spiegelbilder der Berge entstanden. Man wurde ganz wirr im Kopf, der See hatte jetzt dieselbe Farbe wie der Himmel, man glaubte in einem Raum von hellblauem Äther inmitten eines phantastischen ringförmigen Planeten zu schweben. Im Norden hinter uns hatte sich das Panorama eines mächtigen Kammes aufgerollt, mit flachen, hohen Kuppen, die ewiger Schnee bedeckte. Die Sonne brannte glühend heiß, Rehim Ali trocknere sich die Stirn, der Rauch meiner Zigarette blieb regungslos in der Luft stehen, nur das Boot und die Ruderschläge verursachten eine Kräuselung des Wassers – es war geradezu schade um diese ungewöhnlich blanke Fläche. Alles war so still und ruhig wie ein Nachsommertag, der sich zwischen den Bergen verspätet hatte.
»Gott bewahre uns vor der Dunkelheit,« meinte Rehim Ali, »es ist gefährlich, noch auf dem Wasser zu sein, wenn die Sonne untergegangen ist.«
»Sei nicht bange!«
Jetzt fand die Leine in 29 Meter Grund und das nächste Mal bei 10 Meter. Eine Viertelstunde später sprangen wir ans Land.
Ich zeichnete ein Panorama der nördlichen Berge, während Rehim Ali an einem Stück Brot kaute, das er vorsichtigerweise mitgenommen hatte.
Es war ¾4 als wir wieder abstießen. In zwei Stunden mußte es dunkel werden, aber dann würden wir ja das Lagerfeuer am Ufer sehen. Das Ostende des Sees erschien ganz nahe; aber man täuschte sich darin leicht infolge der Luftspiegelung. Wir ruderten eine Weile nach Ostnordosten längs des Ufers. Es wäre doch seltsam, wenn der Westwind heut ausbliebe; immer wieder fragte ich Rehim Ali, der den westlichen Horizont vor sich hatte, ob es dort klar aussehe oder ob der Weststurm sich noch nicht zeige.
»Nein, es gibt keinen Sturm«, antwortete er ruhig.
»Doch, nun kommt er,« meinte er nach einer kleinen Weile, »und es wird ein böser Sturm!«
Ich wende mich um und sehe im Westen über dem Paß, den wir vor einigen Tagen überschritten, hohe, lichtgelbe Staub- und Sandtromben, die sich bald bis 30 Grad über den Horizont emportürmen; sie erheben sich schnell, fließen zusammen zu einer finsteren Wolke und verdecken die Aussicht auf die westlichen Berge. Ja, das ist ein heranziehender Weststurm.
Aber für uns ist die Gefahr nicht groß, wir können an Land gehen, wo wir wollen; Zündhölzer haben wir, um Feuer anzuzünden, und Japkak findet sich genug; wir erfrieren also nicht, auch wenn es 16 Grad Kälte gibt; und ohne Nahrung können wir schon einmal sein.
»Noch wollen wir nicht landen; vielleicht ist das Lager ganz nahe; rudere nur zu, Rehim Ali – nein, warte noch, richte den Mast auf und hisse das Segel, ehe der Sturm einfällt, dann bekommen wir ein Stück des Weges Hilfe. Wird der Sturm zu stark, dann gehen wir an Land.«
Noch ist es totenstill. Aber jetzt kommt ein erster Vorläufer, ein Kräuseln läuft über die Wasserfläche, der Wind legt sich in das Segel, bläht es auf wie einen Ball und glättet alle seine Falten, das Boot schießt vorwärts, und eine wirbelnde kochende Spur bildet sich in unserem Kielwasser. Wir halten uns am südlichen Ufer; dort ist eine Reihe von Lagunen und Landzungen von Sand und Geröll. Auf einer dieser Landspitzen sitzt ein Paar Schwarzgänse; sie starren uns verwundert an, als wir vorbeisausen; sie halten uns wohl für einen gewaltigen Seevogel, der nicht fliegen kann, da er nur eine Schwinge hat. Die See geht schon höher; wir schießen gegen eine Landspitze im Nordosten; o weh, das Wasser ist nur einen Meter tief unter dem Kiel. Kommen wir aber auf Grund, so wird das Boot aufgerissen; sein ölgetränktes Segeltuch ist gespannt wie ein Trommelfell; ich steuere also, was das Steuer aushalten kann, und streife die Landspitze mitten in der rasenden Brandung – es glückt und im nächsten Augenblick sind wir draußen auf offenem, tiefem Wasser, wo die Wogen gleichmäßiger gehen.
Nun erscheint in Ostnordost eine weit in den See hinausspringende Landzunge; aber es ist weit bis dahin, und wir sind draußen auf dem hochgehenden See, wo die weißen Schaumkämme der Wogen immer größer, ihr Brausen immer gewaltiger werden; der ganze See zischt und ist im wildesten Aufruhr; kommen wir nur heil und glücklich bis zu jener Landspitze drüben, dann liegen wir geschützt vor dem Wind und können landen. Ja, wir müssen landen, wenn es irgend möglich ist! Denn der Sturm ist nun über uns; er wird immer heftiger, es knackt im Mast; ich wage nicht länger weiterzufahren mit festgebundener Schote; wir haben den prächtigsten Fahrwind, es rauscht und braust um den Vordersteven, es siedet und kocht hinter uns, es gilt aufzupassen: bricht der Mast, der schon wie ein Bogen gespannt ist, so kippt das Boot, füllt sich in einem Augenblick mit Wasser und wird von den Bootschwertern, die zwar nicht gebraucht, aber gleichwohl als Ballast mitgeführt werden, in die Tiefe gerissen. Für den äußersten Notfall haben wir zwei Rettungsringe.
Rehim Ali sitzt im vorderen Bootsteil. Er hält sich am Mast fest, steht auf, späht geradeaus und meldet, daß hinter der gelben Landzunge der See ebenso groß ist wie im Westen! Alles ist nur eine Gesichtstäuschung gewesen, wir können den östlichen Strand nicht erreichen, ehe uns die Dunkelheit völlig überrascht. Wäre es nicht besser zu landen und den Tag abzuwarten? Ja, wir wollen landen und hinter der Landzunge Deckung suchen! Die Sonne sinkt, der Sturm wird immer stärker, man hört ihn heulen in den wilden Klüften im Süden, feiner Schaum steht wie Kometenschweife auf den Wogenkämmen, es ist ein äußerst kritischer und spannender Moment. Die Staubwolken sind verschwunden, man sieht undeutlich den westlichen Horizont. Wie eine Kugel von flüssigem Gold nähert sich die Sonne seinem Rand, und ein unheimlich zauberhafter Schein ergießt sich über die ganze Gegend. Alles ist gerötet außer dem schwarzblauen, weißgeränderten See. Im Osten steigt die Nacht herauf, dunkelviolette Schatten heben sich hinter den Bergen, aber die östlichen Bergzacken und der alles überragende Gipfel T mit seinen gleißenden Schneefeldern stehen feuerrot gegen den finsteren Hintergrund, gleich Vulkankegeln von Glas, deren Inneres von glühenden Lavaströmen erleuchtet ist; ein paar zerrissene Wolken jagen gen Osten; in Scharlach gefärbt wetteifern sie an Schönheit mit den Schneefeldern und Gletschern unter ihnen. Das Segel schimmert in allen Rosafarben, und auf den Kämmen der Wogen zittert purpurner Schaum, als ob wir über ein Meer von Blut getrieben würden.
Die Sonne sinkt; nun färben sich Segel und Wogenschaum weiß, und bald leuchtet nur noch auf den höchsten Schneefeldern der letzte Hauch des scheidenden Abendrotes. Die Nacht schreitet weiter gen Westen, und die letzte Glut, der letzte Schimmer des Tages erlischt auf den Gipfeln in Südost.
Rehim Ali sitzt zusammengekauert auf dem Grund des Bootes, während wir schaukelnd, wiegend und schlingernd vorwärts schießen gegen die Landzunge. Noch sind alle Umrisse scharf und deutlich. Ich steuere das Boot aus der Brandung heraus, um die Landzunge herum, zaudere dann aber einen Augenblick; es wäre leicht, in Lee zu gehen; aber nein, jetzt geht ja alles gut – der Mond leuchtet so klar, und ehe er untergeht, haben wir wohl eine neue Landspitze erreicht.
Im stöbernden Gischt und im brausenden Wellenschaum jagen wir an der Landzunge vorüber und in einer Sekunde war es zu spät in Lee zu gehen, auch wenn wir es noch so gern getan hätten, denn das Tosen der Brandung erstarb lautlos hinter uns, und vor uns hatten wir aufs neue ein offenes, nachtschwarzes gähnendes Wasser, in der Ferne begrenzt von einem kaum erkennbaren Landstreifen, einer neuen Landzunge von den zahlreichen Schuttkegeln des südlichen Ufers.
So jagen wir vorwärts über den aufgewühlten See. Da schrecken wir empor, denn wir hören die mächtigen, sich überstürzenden Wogen hinter uns. Das dumpfe Getöse kommt näher, ich wende mich um – wir mußten rettungslos unter den wälzenden und rollenden Kämmen der Wogen begraben werden. Im Westen hat sich noch ein schwacher Widerschein des fliehenden Tages verspätet; sein Licht bricht sich auf dem nahenden Wogenberg und färbt ihn smaragdgrün. Der Schaum wird vom Sturm gepeitscht und gibt uns ein kühlendes Bad. Da erreicht uns die Welle – aber sie hebt das Boot sanft in die Höhe, und dann rollen wir weiter gegen das östliche Ufer, das Rehim Ali nicht mehr für erreichbar hält.
Nun ist das Segel kreideweiß im Mondschein, auf seiner Fläche geht mein Schatten auf und nieder je nach der Bewegung des Bootes. Rehim Ali ist halbtot vor Schreck, er hat sich auf dem Grund des Bootes wie ein Igel zusammengerollt und sein Gesicht in meinen Ulster vergraben, um nicht den aufgeregten See zu sehen. Er sagt nichts mehr, er ist in alles ergeben und wartet nur auf sein letztes Stündlein. Die Entfernung bis zum östlichen Ufer abzuschätzen, war unmöglich, und eine Landung dort gewiß nicht ohne Schiffbruch auszuführen. Fanden sich Klippen und Scheren am Ufer, dann wurden wir zermalmt und vernichtet in der Brandung, und fiel der Strand sacht ab, dann mußten wir kentern und wurden wie ein Stückchen Kork von den gewaltig rollenden Wogen aufs Land geworfen.
In dem undeutlichen nächtlichen Chaos ringsum leuchtet die Brandung an der Spitze der Landzunge; sie ist wilder als die vorige, denn die Wogen sind gewachsen, eine je weitere Fläche des Sees wir hinter uns gelassen haben. Ich versuche in Lee zu kommen, aber der Sturm treibt uns wieder hinaus, und ehe wir uns besonnen haben, sind wir wieder vom Land entfernt. Es wird jetzt kälter, aber mich friert nicht, die Aufregung ist zu groß, das Leben steht ja auf dem Spiel! Vergeblich spähe ich auf das Feuerzeichen meiner Leute; haben sie meinen Befehl nicht befolgt, oder sind wir so weit vom Strand, daß das Feuer nicht mehr sichtbar ist? Ich mache glücklich die Achterbank los und setze mich auf den Boden nieder, wo ich vor dem durchkältenden Wind etwas geschützt bin. Hinter uns macht die zerfetzte Lichtstraße des Mondscheins auf dem Wasser die Wogen noch unheimlicher als früher; sie sind jetzt Riesen geworden, und die vorderste verdeckt jetzt alle anderen (Abb. 58).
58. Eine schauerliche Nacht auf dem Lake Lighten.
Die Stunden der Nacht schreiten vorwärts; der Mond geht unter. Jetzt erst ist es stockdunkel; nur die Sterne flimmern wie Fackeln hoch über uns, sonst ist alles rabenschwarz. Meine rechte Hand schläft halb erstarrt um die Ruderstange; man meint, das Boot fliege gen Osten, aber die Wogen rollen an uns vorbei, sie sind noch schneller als wir. Ab und zu frage ich Rehim Ali, ob er nicht mit seinen Katzenaugen bis zur östlichen Uferbrandung sehen könne. Er wirft einen flüchtigen Blick über die Reling, antwortet, daß es noch endlos weit sei, und verbirgt sein Gesicht wieder in den Ulster. Die Spannung vergrößert sich, mag kommen was will, wir nähern uns doch dem Augenblick, wo das Boot machtlos auf den Strand geworfen wird. Ich hoffe, der See ist so groß, daß wir die wilde Fahrt bis zum Tagesanbruch fortsetzen können; aber nein, das ist undenkbar, so große Seen gibt es in Tibet nicht; wir haben ja noch die ganze Nacht vor uns, und in dieser fliegenden Eile bewältigt man ungeheure Entfernungen.
Es liegt etwas Unheimliches und zugleich Imponierendes in einer solchen Fahrt, wo die Wogenkämme in der Finsternis nur sichtbar sind in dem Augenblick, wo sie das Boot heben, um im nächsten Moment dröhnend weiterzurollen. Nichts hört man als ihr Brausen, das Heulen des Windes und das Zischen des Schaumes um den Vordersteven.
»Paß auf, Rehim Ali,« rufe ich, »wenn du merkst, daß das Boot Grund hat, springst du hinaus und ziehst es mit aller Kraft auf den Strand!« Aber er antwortet nicht mehr, er ist völlig versteinert vor Schreck! Ich meinerseits packe meine Aufzeichnungen und Skizzenbücher in eine kleine Tasche.
Aber, was ist das? Ich höre ein donnerndes Brausen, das das Brüllen des Sturmes noch übertönt, und in der nachtschwarzen Dunkelheit vor uns sehe ich etwas wie einen helleren Rand in unserer unmittelbaren Nähe. Das muß die Uferbrandung sein. »Reffe das Segel!« schreie ich so laut, daß fast die Stimmbänder springen, aber Rehim Ali ist wie gelähmt, er rührt sich nicht vom Fleck. Ich lasse das Tau los und lasse das Segel flattern und schlagen im selben Augenblick, als das Boot auf den Grund schrammt und plötzlich festsitzt.
»Spring ins Wasser und zieh das Boot hinauf«, rufe ich, aber er gehorcht nicht; ich puffe ihn in den Rücken, aber er merkt es nicht. Da packe ich ihn am Kragen und werfe ihn über Bord, eben als die nächste Sturzwelle das Ufer hinaufrollt, das Boot füllt, es auf die Seite wirft und mich bis auf die Haut durchnäßt! Da kann ich ja ebensogut hinausspringen, und jetzt erst erfaßt Rehim Ali die Situation und hilft mir das Boot aus dem Bereich der Brandung aufs Ufer ziehen (Abb. 61). Pelz und Ulster waren ebenso durchnäßt wie wir selbst, und nach langem Suchen fanden wir alle Sachen wieder, die beim Schiffbruch abhanden gekommen waren.
61. Rehim Ali hilft mir das Boot aus der Brandung ans Ufer ziehen.
Wir waren halbtot vor Ermattung und Aufregung; bei einer solchen Anstrengung in dieser dünnen Luft kommt man fast ganz außer Atem. Wir gingen eine sandige Anhöhe hinauf und setzten uns, aber der eisig durchschauernde Wind jagte uns wieder auf. Ob uns das Boot nicht Schutz geben konnte? Wir mußten nur die Bolzen herausziehen, die seine beiden Hälften zusammenhielten, und mit Hilfe des einen Bootschwertes gelang es schließlich. Mit vereinten Kräften richteten wir die eine Hälfte des Bootes auf, lehnten sie schräg auf ein Brett der Bank und duckten uns dahinter. Wir waren völlig erstarrt; kein Wunder, denn das Wasser gefror in den Kleidern, so daß sie knisterten, wenn man sich nur rührte. Man hörte, wie das Wasser auf dem Boden des Bootes zu Eis wurde; mein Pelz war hart wie ein Brett und absolut nicht zu brauchen. Hände und Füße waren steif und gefühllos; wir mußten uns wieder aufraffen, um nicht völlig zu erfrieren. Es blieb uns nichts anderes übrig. Im Schutz der Boothälfte zog ich mir die Kaschmirstiefel und die Strümpfe aus, Rehim Ali mußte meine Füße kneten; aber erst als er seinen Tschapan öffnete und eine gute Weile meine armen Füße an seinem nackten Leibe wärmte, spürte ich wieder Leben darin. –
Ringsum keine Spur von Leben! Bei dem Toben der Brandung mußten wir schreien, um uns verständlich zu machen. Wie sollten wir übernachten bei 16 Grad Kälte und nassen Kleidern, die schon zu Eispanzern erstarrt waren? Konnten wir auch nur das Leben fristen, bis die Sonne aufging? Rehim Ali verschwindet im Dunkel, um nach Brennstoffen zu suchen, aber er kommt mit leeren Händen zurück. Zu meiner Freude finde ich, daß mein Zigarettenetui und die Streichhölzer noch brauchbar sind; ich hatte nur bis zur Brust im Wasser gestanden, auch als die letzte Sturzwelle ein übriges getan hatte, um mich völlig zu durchnässen. Ich zünde also eine Zigarette an und gebe Rehim Ali auch eine, um sich damit zu beleben.
»Gibt es denn hier gar nichts, was wir verbrennen können? Ja, halt, wir haben doch die Holzrolle der Lotleine und den Rahmen, worin die Rolle befestigt ist. Hol sie sofort her.«
Unbarmherzig zerbrechen wir dies Meisterstück der Schreinerkunst Muhamed Isas und zerstückeln dann mit unseren Messern den Rahmen; die nassen Späne legen wir beiseite, die inneren trocknen Rippen benutzen wir als Brennholz. Sie bilden ein ganz winziges Häuflein. Nur ein paar auf einmal dürfen geopfert werden, und mit Hilfe einiger weißen Blätter aus meinem Notizbuche bringe ich sie zum Brennen. Unser Feuer ist klein und unansehnlich, wärmt aber herrlich, und unsere Hände tauen wieder auf. Dicht über das Feuer gebeugt sitzen wir da und unterhalten es mit der größten Sparsamkeit, nur dann und wann einen Span auflegend. Ich ziehe mich aus, um mein Zeug auszuwringen und notdürftig zu trocknen; Rehim Ali trocknet meinen Ulster, der meine Hoffnung für die Nacht ist; der Pelz wird preisgegeben. Wie lange ist es noch bis zum Morgengrauen? Ach, noch mehrere Stunden! Die Rolle und die Kurbel haben wir noch in Reserve, aber lange kann dieser kleine Holzvorrat nicht vorhalten, und ich sehe mit Beben dem Augenblick entgegen, da die Kälte uns zwingen wird, auch den Mast und die Bänke zu opfern. Die Minuten verstreichen so langsam; wir reden nicht viel miteinander, wir sehnen uns nur nach der Sonne. Wenn nur erst unser Zeug notdürftig trocken ist, können wir in der Schöpfkelle Wasser kochen, um etwas Warmes in den Leib zu bekommen.
Und doch hatten wir allen Grund, uns darüber zu freuen, daß wir noch so gut davongekommen waren. Nie werde ich den Lake Lighten, Wellbys und Deasys See vergessen! Er hatte uns mehrere Tage Gesellschaft geleistet, sein Strand hatte uns sieben Pferde genommen und unsere Freunde mit der letzten Post heimziehen sehen. Strahlend schön war dieser See vor uns erschienen, in hellen, leichten Farbentönen, aber auch pechschwarz wie ein Grab in den Armen der Nacht, spiegelnd und blank hatte er in glühendem Sommersonnenschein dagelegen; aber er hatte uns auch die Zähne gezeigt, blendend weiße Schaum- und Spritzwasserzähne; vor kurzem waren wir auf seinen unbekannten Tiefen von kristallhellem, lenzgrünem Wasser in der Sonnenhitze fast gebraten worden; jetzt waren wir an seinem Ufer drauf und dran in schneidender Winterkälte zu erfrieren; vorhin hatte er so still dagelegen, daß man kaum zu sprechen gewagt, um die friedliche Ruhe nicht zu stören, jetzt tobte er in ungezügelter Wut! Seine Ufer hatten uns Gras, Quellwasser und Feuerungsmaterial gespendet, aber den nächtlichen Seglern war der See fast grenzenlos erschienen; das Ostufer hatte sich den ganzen Tag hindurch vor uns zurückgezogen, wir hatten die Sonne aufsteigen, sinken und in einem Meer von Purpur und Flammen untergehen, sogar den Mond seine kurze Bahn durchmessen sehen, ehe wir unser Ziel erreichten, wo die Brandung donnerte und uns in ihre naßkalten Arme schloß. Eine großartige Segelfahrt hatten wir in dem kleinen Zeugboot gemacht, abwechslungsreich und aufregend; dreimal hatte unser Leben an einem Haar gehangen, als wir an den sandigen Landzungen beinahe auf Grund gelaufen waren; denn wären wir da gekentert, so hätten wir das Land wohl kaum erreicht, ehe unsere Hände an den Rettungsringen in dem eiskalten Wasser erlahmten. Wunderbarer See! Nur die Yaks, die Wildesel und die Antilopen finden eine Freistatt an deinen Ufern; nur Gletscher, Firnfelder und die ewigen Sterne spiegeln sich in deiner Wasserfläche, und deine Stille unterbrechen nur deine eigenen Wellenlieder und die siegesfrohen Kriegshymnen, die der Weststurm auf deinen Saiten von smaragdgrünem Wasser spielt!
Doch jetzt waren wir noch am Leben und mit unversehrten Gliedern am Lande, sehnten uns nur nach dem Morgengrauen, knappten mit dem Feuer und speisten es nur dann und wann mit einem neuen Span, um sein Erlöschen zu verhindern. Von Schlaf durfte keine Rede sein, dann wären wir erfroren. Manchmal nickten wir einen Augenblick ein, während wir so vor der flackernden Flamme niedergehockt dasaßen, und Rehim Ali summte gelegentlich ein Liedchen, damit die Zeit schneller vergehen sollte.
Eben denke ich gerade darüber nach, wie mir jetzt wohl ein Glas heißen Tees schmecken würde, als Rehim Ali zusammenfährt und ausruft:
»Ein Feuer in der Ferne!«
»Wo?« frage ich ein wenig ungläubig.
»Dort, im Norden, am Ufer«, antwortet er und zeigt auf einen schwach leuchtenden Punkt.
»Das ist ein Stern«, sage ich, nachdem ich das nächtliche Dunkel eine Weile mit dem Fernglase durchsucht habe.
»Nein, es ist diesseit des Bergkammes.«
»Warum hätten wir dann das Feuer nicht eher gesehen? Mitten in der Nacht werden sie keine Signalfeuer anzünden.«
»Es ist auch kein Feuer, es ist eine Laterne; ich sehe, wie sie sich hin und her bewegt.«
»Ja wirklich, es ist ein Lichtschein, der seine Stelle wechselt.«
»Jetzt ist er fort.«
»Und er zeigt sich nicht wieder; vielleicht war es nur eine Gesichtstäuschung.«
»Nein, jetzt ist er wieder da.«
»Und nun ist er wieder fort.«
Und fort blieb er so lange, daß wir die Hoffnung wieder verloren und uns über der Glut der letzten Späne der Rolle zusammenkauerten.
»Hört der Sahib nichts?« fragt Rehim Ali plötzlich.
»Ja, es klingt wie Pferdegetrappel!«
»Ja, und wie Menschenstimmen!«
Im nächsten Augenblick zeichnen sich die Schattenrisse fünf großer Pferde und dreier Reiter am Himmel ab. Die Reiter steigen ab und nähern sich uns mit fröhlichem, freundlichem Gruß. Es sind Muhamed Isa, Rabsang und Adul! Sie setzen sich zu uns und berichten, daß das Lager 18 eine Wegstunde weiter nördlich ein wenig vom Ufer entfernt liege. Sobald sie das Lager aufgeschlagen, hätten sie Leute ausgeschickt, um nach uns auszuspähen, hätten aber das Suchen aufgegeben, als diese weder unsere Spur gefunden, noch ein Feuer erblickt hätten. In später Nacht sei jedoch Robert, den der Sturm beunruhigt habe, aus einen Hügel gestiegen und habe von dort aus unser kleines Feuer gesehen! Sofort habe er uns die drei Männer nachgeschickt. Sie selbst hatten, wie sie sagten, den ganzen Abend ein großes Signalfeuer brennen lassen, aber augenscheinlich hatten die Unebenheiten des Geländes es verdeckt; jedenfalls hatten wir es vom See aus nicht sehen können.
Ich lieh mir von den Männern zwei Gürtel, um sie mir um die Füße zu wickeln. Dann stiegen wir in den Sattel und, mit der Laterne voran, begab sich die kleine Kavalkade nordwärts nach dem Lager, während die Wellen ihren unermüdlichen Sturmlauf gegen das Ufer fortsetzten.