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Als wir am 22. September über die alten Terrassen des Sees nach Osten weiter- und zur Paßschwelle hinaufzogen, die sein Becken von dem Jeschil-köl trennt, öffnete sich hinter uns die Aussicht über den Lake Lighten, je höher wir stiegen, immer weiter, und schließlich lag der ganze große blaue See in all seiner Pracht am Fuß der Schneegebirge vor uns. Der Weidegrund war überall vortrefflich, und die Pantholops-Antilopen wußten in ihrer Überraschung und Unschlüssigkeit manchmal nicht, nach welcher Seite hin sie entfliehen sollten, sondern kamen uns, von Neugier getrieben, gedankenlos gerade entgegen. Die Paßschwelle hat eine Höhe von 5301 Meter. Kaum hatten wir auf ihrer anderen Seite einige Schritte zurückgelegt, so ging in der Landschaft ein gründlicher Szenenwechsel vor sich. Es war, als wenn man in einem großen Buche ein Blatt umschlägt. Die Bilder, die eben noch unseren Blick gefesselt haben, verschwinden auf immer, und vor uns haben wir neue Berge, ein neues Becken und einen neuen türkisblauen See, den Jeschil-köl (Abb. 62). Im Süden und Südwesten des Sees dehnen sich große Flächen kreideweißen Salzes aus; konzentrische Ringe und abgeschnürte Tümpel, die ebenso blau sind wie der See, verraten, daß auch der Jeschil-köl im Einschrumpfen begriffen ist.
62. Am Westufer des Jeschil-köl.
Am nächsten Tag lagerten wir in einer Gegend, wo die Weide gut, das Trinkwasser aber schwach salzhaltig war. Auf der großen flachen Ebene, die sich im Westen des Sees ausdehnt, gewahrt man lange Reihen von Steinmalen, Erdhügeln oder Schädeln, die ein paar Meter voneinander entfernt aufgeschichtet sind. Sie sehen wie Grenzzeichen aus, wurden aber in Wirklichkeit von Antilopenjägern des Tschangpa-Stammes errichtet, tibetischen Nomaden, die wirklich »Nordmänner«, Eingeborene der nördlichen Hochebene Tschang-tang, sind und auf diese Weise das Wild in die an der Erde ausgelegten Schlingen hineintreiben. Die Antilopen haben nämlich einen ausgesprochenen Widerwillen gegen das Überspringen solcher Malreihen und ziehen es vor, an ihnen entlang zu laufen, bis sie zu Ende sind. Aber schon vorher hat gewiß eine von ihnen das Pech gehabt, in eine mit einer Schlinge versehene Grube zu treten. Nur ein Sohn der Wildnis, der wie die wilden Tiere sein Leben im Freien verbringt, kann auf eine solche Fangart verfallen. Meine Ladakis versicherten, die Tschangpas hätten die Jagd hier aufgegeben, aus Furcht vor den Ostturkestanern, die mehrmals feindlich gegen sie aufgetreten seien.
Der 24. September wurde abermals ein denkwürdiger Tag – meine Seefahrten in Tibet endeten seltsamer Weise fast immer mit Abenteuern! Von meinen Ladakis hatten fünf in Deasys oder Rawlings Dienst gestanden, und zwei von ihnen versicherten, daß ein glänzender Punkt in Ostsüdost die Quelle sei, an der Hauptmann Deasy im Juli 1896 zehn Tage lang gelagert habe und die er in seinem Reisewerk das »Fieberlager« nennt. Die Angabe stimmte auch mit seiner Karte überein; Muhamed Isa erhielt daher Befehl, mit der Karawane dorthin zu ziehen, beim Einbruch der Dunkelheit auf der nächsten Uferstelle ein großes Signalfeuer anzuzünden und zwei Pferde bereit zu halten.
Mein Plan war, in ostnordöstlicher Richtung nach dem Nordufer und von dort wieder südwärts gerade auf das Signalfeuer loszufahren. Rehim Ali erhielt diesmal einen Gehilfen an Robert (Abb. 60), der sich später zu einem trefflichen Seemann ausbildete. Der See lag fast ganz ruhig da; sein Wasser ist infolge der geringen Tiefe grünlicher, aber ebenso klar wie das seines Nachbars im Westen. Es ist so salzig, daß alles, was damit in Berührung kommt, Hände, Boot, Ruder usw., von Salzkristallen glitzert. Ufer und Grund des Sees bestehen meist aus Ton, der sich mit kristallisierendem Salz zu steinharten Fladen und Blöcken zusammengebacken hat, so daß man außerordentlich vorsichtig sein muß, wenn das Boot ins Wasser geschoben wird, denn diese Fladen haben messerscharfe Kanten und Ecken. Der See ist ein ziemlich elliptisches Salzbecken mit sehr flachen Ufern; die Berge treten nirgends bis an den Strand heran. Die Meterlinie läuft 100 Meter vom Lande; aber noch 600 Meter weit draußen ist der See nur 4,6 Meter tief.
60. Robert.
Wir legten die erste Lotungslinie diagonal über den See in schönster Ruhe zurück, und ich steuerte nach dem eingepeilten Ziel hin. Um 1 Uhr hatten wir 9,5 Grad im Wasser und 10,3 Grad in der Luft. Die Tiefe nahm sehr regelmäßig zu, ihr Maximum betrug unweit des Nordufers 16,1 Meter. Robert fand viel Vergnügen an der angenehmen Fahrt und bat, künftig immer mitkommen zu dürfen, was ich ihm um so lieber bewilligte, als er immer heiter und angeregt war und ich überdies bei allen Messungen wirkliche Hilfe an ihm hatte. Eine kleine Bucht des Nordufers diente uns als Landungsplatz. Wir betrachteten die Umgebung und verzehrten dann schnell unser Frühstück, das aus Brot, Apfelsinenmarmelade, Gänseleber und Wasser bestand. Meine Begleiter hatten Zucker, eine Teekanne und Emaillebecher mitgenommen, den Tee aber zurückgelassen; doch erhöhte diese Vergeßlichkeit nur unsere gute Laune.
Und so stießen wir denn wieder ab, um der Quelle im Südosten zuzusteuern. Vom Landungsplatz aus zog sich eine Reihe von Steinblöcken und Salzklumpen nach Ostsüdost hin, und das Wasser war hier so seicht, daß wir das Boot sehr vorsichtig vorwärtsstoßen mußten. Gerade als wir den letzten Block, von dem wir noch eine Gesteinprobe nahmen, hinter uns hatten, erhob sich westlicher Wind, der Seespiegel kräuselte sich, und schon nach ein paar Minuten zeigten sich auf den salzigen Wellen Schaumköpfe.
»Das Segel auf und die Schwerter nieder!«
Vor uns war der See rotviolett schattiert, ein Widerschein der Farbe des Tongrundes; dort mußte es sehr seicht sein, aber wir würden schon hinüberkommen.
»Seht ihr im Südwesten die kleinen weißen Windhosen? Das sind die Vorläufer des Sturmes, der den Salzstaub aufrührt«, sagte ich.
»Wird der Sturm arg, dann ist das Boot auf dem scharfkantigen Grunde zerfetzt, ehe wir das Land erreichen«, bemerkte Robert.
»Das sind keine Salzwolken,« fiel Rehim Ali ein, »das ist der Rauch von Feuern.«
»Muhamed Isa soll aber doch an Deasy Sahibs Quelle lagern; die liegt im Südwesten!«
»Da ist kein Rauch zu sehen,« erwiderte Robert, der den Fernstecher hatte, »vielleicht haben sie die Salzebene im Süden des Sees gar nicht überschreiten können.«
»Dann sind es ihre Signalfeuer, die wir sehen; aber wir können mit diesem Boot im Sturme nicht kreuzen.«
»Master,« meinte Robert, der sich dieser Anrede stets bediente, »wäre es nicht das klügste, wieder an Land zu gehen, ehe der Sturm anschwillt? Hinter den Blöcken sind wir gesichert und können noch vor Sonnenuntergang eine Masse Brennstoff sammeln.«
»Ja, das wird wohl das beste sein; der See hier ist bei Sturm viel gefährlicher als der Lake Lighten. Wir haben zwar keine Pelze, aber es wird auch so gehen. Refft das Segel und rudert hinter die Blöcke. – Wonach guckst du denn so?« fragte ich Robert.
»Master! Ich sehe zwei große Wölfe, und wir haben keine Flinte mit!«
Richtig, gingen da am Ufer zwei helle, fast weiße Isegrimme spazieren! ( Abb. 54) Sie liefen so, daß sie den Inhalt des Bootes immer wittern konnten; frisches, lebendes Fleisch stieg ihnen wohl in die Nase. Hielten wir, so blieben auch sie stehen, und setzten wir uns in Bewegung, dann gingen sie unmittelbar am Rand des Wassers weiter. Früher oder später müßt ihr an Land, und dann ist die Reihe an uns, mochten sie wohl denken! Rehim Ali hielt sie für zwei Spione eines ganzen Rudels und meinte, es sei gefährlich, uns ihren nächtlichen Angriffen auszusetzen. Er selbst hatte nur ein Klappmesser bei sich, Robert und ich sogar nur Federmesser in der Tasche; unsere Aussicht auf erfolgreiche Verteidigung war also überaus gering! Robert seinerseits zog den See in vollem Sturm den Wölfen vor. Ich hatte früher schon so oft unbewaffnet im Freien geschlafen, daß ich mich ihretwegen nicht weiter aufregte. Aber mitten im Kriegsrat sahen wir uns plötzlich gezwungen, an etwas anderes zu denken. Pfeifend kam der Sturm über den See gefahren!
Abb. 54 im Buch
Zum Glück stand das Segel noch und die Schwerter hingen aus; der Wind faßte die Leinwand, am Vordersteven begann es zu rauschen, und wir schossen vor dem Seitenwind glatt südwärts. Robert stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Alles, nur keine Wölfe«, sagte er. Ich ließ Robert und Rehim Ali rudern, um Zeit zu gewinnen, und bald waren uns die beiden Isegrimme aus dem Gesicht verschwunden. »Sie werden gewiß um den See herumlaufen, sie wissen genau, daß wir irgendwo landen müssen«, meinte Robert. Er hatte allerdings nicht unrecht, die Situation war höchst ungemütlich: uns blieb nur die Wahl zwischen dem Sturm und den Wölfen. Auf unsere Leute rechneten wir nicht mehr; wir waren offenbar durch Salzsümpfe, in die man sich nur mit Lebensgefahr hineinwagt, getrennt. Wir wollten daher versuchen, noch vor Dunkelheit einen günstigen Punkt des Südufers zu erreichen.
Aber die Stunden vergingen, und die Sonne versank brennend gelb hinter den Bergen. Zwei Stunden lang hielten wir die Richtung nach Deasys Lager ein, als aber in der zunehmenden Dämmerung die Signalfeuer immer deutlicher wurden, änderten wir den Kurs und steuerten nach Süden, um den Unseren näher zu kommen. Es war jedoch hoffnungslos weit bis zu ihnen; von dort her kam ja gerade der Sturm und in dem gebrochenen, launischen Licht der Mondstraße traten die Wellenkämme unheimlich wie sich tummelnde Delphine hervor. Einigemal konnte ich noch schnell Lotungen vornehmen; sie ergaben 10 und 11 Meter Tiefe. Unser Schicksal war jetzt ebenso ungewiß wie das vorige Mal auf dem Lake Lighten; wir steuerten auf ein Ufer zu, wußten aber nicht, wie groß die Entfernung war. Rehim Ali schloß aus der Länge der Mondstraße, daß es sehr weit sei. Wieder vergingen zwei Stunden! Jetzt hatten wir die Wellen gerade von der Seite; wenn ich die heranrollenden Schaumkämme nicht parierte, mußten sie das Boot füllen und zum Sinken bringen; wir mußten ihnen also direkt entgegensegeln.
Die Situation war nicht wenig aufregend, aber noch ging alles glücklich. Das Boot zerteilte die Wellen gut, nur dann und wann erhielten wir kleine Spritzer. Die Duschen tropften uns am Halse herab, waren angenehm kühl und schmeckten salzig. Wieder machte ich einige Lotungen. Robert las die Leine ab; zehn Meter, dann acht und schließlich sechs.
»Jetzt kann das Südufer nicht mehr weit sein«, sagte ich, aber meine Begleiter blieben still und horchten. »Was gibt's?« fragte ich.
»Schwerer Sturm aus Westen«, antwortete Rehim Ali, sein Ruder senkend.
Man hörte entferntes, gleichmäßiges Sausen, das immer näher kam. Es war der Sturm, der mit verdoppelter Heftigkeit über den See fuhr und Schaum von den Wellen aufpeitschte.
»Wir erreichen das Ufer nicht mehr, bevor er uns einholt! In der Minute ist er hier! Hört nur, wie es tobt! Master, wir kentern, wenn die Wellen doppelt so hoch werden wie jetzt.«
Mit fabelhafter Schnelligkeit schwollen die Wogen an, die Serpentinen der Mondstraße wurden immer größer, wir schaukelten wie in einer ungeheuren Hängematte. Eben hatte die Lotleine nur sechs Meter ergeben! Wie lange noch und das Boot muß auf dem harten Salzboden aufrennen, wenn es sich in einem Tal zwischen zwei Wellenbergen befindet. Da fällt eine greuliche Welle wie ein alles verschlingendes Ungeheuer über uns her, aber das Boot fährt glatt über sie hinweg, und im nächsten Augenblick schaukeln wir wieder in einem so tiefen Wellental, daß der ganze Horizont durch den nächsten Kamm verdeckt wird (Abb. 65). Diese neue Welle rechtzeitig abzufassen, war ich aber nicht schnell genug; sie lief längs der Reling hin und gab uns ein tüchtiges Fußbad.
65. Nächtlicher Sturm auf dem Jeschil-köl.
»Master, es sieht gefährlich aus.«
»Ja, angenehm ist es nicht, aber nur ruhig! Wir können bei solchem Seegang unmöglich landen. Wir müssen wenden und auf den offenen See hinaus. Um Mitternacht wird der Sturm sich wohl legen; dann können wir landen.«
»Wenn wir es nur aushalten, so lange zu rudern.«
»Wir behelfen uns mit dem Segel.«
»Noch bin ich nicht müde.«
»Das Landen am Südufer ist sicherer Schiffbruch; wir werden alle bis auf die Haut durchnäßt, und das ist heute Nacht, wo wir nicht auf die geringste Hilfe von der Karawane rechnen können, lebensgefährlich. Wir erfrieren noch vor Morgengrauen! Brennstoff zu finden, ehe der Mond untergeht, ist undenkbar, denn die Salzebenen im Süden sind absolut vegetationslos. Nein, wir wenden!«
In demselben Augenblick fühlten wir einen heftigen Stoß, unter dem das Boot bebte. Das Backbordruder, das Rehim Ali führte, war auf Grund gestoßen und sprang klingend aus der Schraube, mit der es in der Reling befestigt war. Rehim Ali konnte es noch in der letzten Sekunde fassen; dabei rief er: »Es ist nur ein Steinwurf bis zum Land.«
»Was heißt denn das – hier ist ja der See fast ruhig?«
»Hier geht ein Vorsprung in den See hinein, Master, wir erhalten Schutz!«
»Schön, dann sind wir gerettet; rudert langsam, bis das Boot festsitzt!« Das geschah bald genug, das Segel wurde gerefft, der Mast niedergelegt. Wir zogen Stiefel und Strümpfe aus, stiegen ins Wasser und zogen das Boot aufs Trockne. In dem salzigen und bis auf 5 Grad abgekühlten Wasser erstarrten mir aber die Füße derart, daß ich nicht mehr stehen konnte, mich setzen und sie in den Ulster wickeln mußte. Wir hatten ein relativ trocknes Fleckchen von Salzklumpen gefunden, zwar durch und durch feucht, aber immer noch das beste, was vorhanden war. Denn um uns herum stand Wasser, und das Ufer war ungeheuer flach. Wie weit es bis zu wirklich trocknem Boden war, ließ sich nicht entscheiden; noch weit landeinwärts schimmerte die matt erhellte Bahn des Mondlichtes.
Während ich durch Reiben wieder Leben in meine Füße zu bringen versuchte, schleppten die anderen unsere Habseligkeiten auf unsere armselige Salzinsel. Dann wurde das Boot auseinandergenommen und die beiden Hälften als Schutzschirme aufgestellt. Um neun Uhr hatten wir -0,5 Grad und um Mitternacht -8 Grad; doch hier war es wärmer als an den vorhergehenden Tagen, denn das Seewasser behält noch etwas von der Wärme der Sommerluft. Muhamed Isa hatte aus einer leeren Kiste eine neue Rolle für die Lotleine mit Gestell und Kurbel angefertigt; sie wurde nun natürlich sofort als Brennholz benutzt.
Wieder holten wir die Proviantbeutel und die Wasserkannen hervor, tranken einen Becher siedendheißen Zuckerwassers nach dem anderen und versuchten uns einzubilden, es sei Tee. Solange das Feuer vorhielt, fror uns nicht – dann aber, welch eine Nacht! Gegen zehn Uhr hatte der Wind ausgetobt – jetzt kam der Nachtfrost. Wir legten uns auf die Rettungsringe, um nicht direkt mit dem Salzboden in Berührung zu kommen; Robert hatte den Pelz, ich den Ulster, und Rehim Ali durfte sich in das Segel hüllen. Er schlief hockend, die Stirn auf die Knie gestemmt, wie es bei den Mohammedanern Brauch ist, und er schlief wirklich! Robert und ich rollten uns wie Knäuel zusammen, aber was nützte das? Dicht vor dem Erfrieren kann man nicht schlafen! Meine Füße waren zwar gefühllos, aber dieser Trost war doch mehr Galgenhumor. Ich stand auf, stampfte auf die Salzfladen und versuchte »auf der Stelle« zu marschieren, denn der Raum war mir sehr sparsam zugemessen. Ich sang, ich pfiff, ich summte ein Liedchen und ahmte das Geheul der Wölfe nach, um zu sehen, ob sie antworten würden. Aber die Gegend blieb stumm. Ich erzählte Robert Anekdoten, aber er fand sie durchaus nicht lustig. Ich erzählte Abenteuer, die ich früher mit Wölfen und Stürmen bestanden, aber in unserer jetzigen Lage trugen sie wenig zur Ermutigung bei. Vergebens spähten wir nach einem Feuer; nirgends war etwas zu sehen. Der Mond näherte sich langsam dem Horizont. Der Wind hatte sich vollständig gelegt. Nach und nach verhallten auch die zur Ruhe gehenden Salzwellen melodisch am Ufer – eine verzweifelte Stille umgab uns. Uns fror zu sehr, als daß wir viel an die Wölfe hätten denken können. Ein paarmal erhoben wir gemeinsam ein wildes Geschrei, aber der Klang unserer Stimmen erstarb sofort, ohne jede Spur von Widerhall; wie hätte er da bis zur Lagerstätte der Karawane dringen können!
»Jetzt ist es Mitternacht, Robert, in vier Stunden wird's Tag.«
»Master, so hab' ich noch nie im Leben gefroren! Wenn ich lebend nach Indien zurückkomme, werde ich diese unheimliche Mondnacht auf dem Jeschil-köl und die hungrigen Wölfe am Ufer nicht vergessen, sollte ich auch hundert Jahre alt werden!«
»Ach was! Du wirst mit Sehnsucht daran denken und dich freuen, dabei gewesen zu sein!«
»Hinterdrein ist alles hübsch, aber jetzt wäre es angenehm, wenn man sein warmes Bett im Zelt und Feuer hätte.«
»Ohne Abenteuer ist das Leben in Tibet zu eintönig. Das nächste Mal aber nehmen wir Tee und Brennholz mit!«
»Habt ihr noch viel solche Seefahrten vor, Master?«
»Gewiß, wenn sich Gelegenheit findet, aber ich fürchte, die Winterkälte wird sie bald unmöglich machen.«
»Wird es denn noch kälter als jetzt?«
»Ja, das ist nichts gegen die Kälte in zwei Monaten!«
»Zwei Uhr; bald liegen wir sechs Stunden im Sumpf.«
Wir nicken wieder ein bißchen ein, aber ohne eine Minute zu schlafen; von Zeit zu Zeit teilt mir Robert mit, wieviel seiner Zehen erfroren sind. Um drei Uhr ruft er nach längerem Schweigen: »Jetzt habe ich in keiner einzigen Zehe mehr Gefühl.«
»Bald kommt die Sonne!« – Ein Viertel nach vier beginnt es schwach zu dämmern. Wir sind so durchfroren, daß wir kaum mehr aufstehen können. Aber wir richten uns doch nach und nach auf und stampfen auf den Boden. Dann hocken wir wieder über der eisigen Asche unseres Abendfeuers. Unaufhörlich schauen wir nach Osten und beobachten den neuen Tag, der langsam über die Berge guckt, als ob er sich erst einmal umsehen wolle. Um fünf Uhr beginnen die höchsten Schneegipfel purpurn zu glänzen, wir werfen schon einen leichten Schatten auf den Boden des Bootes, und dann steigt die Sonne kalt, hell und blendend gelb über den Kamm im Osten herauf. Nun werden die Lebensgeister langsam wieder frisch. Rehim Ali ist seit einer Stunde verschwunden, aber jetzt sehen wir ihn mit einem großen Haufen Holz durch den Salzsumpf stapfen, und bald haben wir ein sprühendes, knisterndes Feuer angefacht. Wir ziehen uns aus, um die naßkalten Kleider los zu sein, erwärmen den Leib direkt über den Flammen, und bald sind unsere Glieder wieder geschmeidig.
Da erscheint in der Ferne Muhamed Isas stattliche Gestalt zu Pferde! Er bindet seinem Gaul einen Strick um die Vorderbeine, läßt ihn am Anfang des Sumpfes stehen und geht zu Fuß weiter. Als mich am ärgsten fror, hatte ich mir eine tüchtige Gardinenpredigt für ihn ausgedacht, sobald wir wieder zusammenträfen. Doch als ich jetzt meinen prächtigen Karawanenführer vor mir hatte, vergaß ich alles, denn seine Gründe für die Verzögerung mußte ich gelten lassen. Die Karawane war durch unsicheren Boden so lange aufgehalten worden, die Männer hatten alle Sachen tragen müssen. Wir gingen nun zusammen nach Deasys Lager, wo auch die Karawane anlangte. Als die Sonne mittags ihren höchsten Stand erreichte, fand sie mich noch in den Armen des Traumgottes.
Am Morgen des 26. Septembers ging es mit zwei weiteren Pferden zu Ende, sie konnten nicht mehr aufstehen und mußten erstochen werden; eins war im vorigen Lager gestorben, und eins fiel auf dem Marsche. Wir hatten von 58 Pferden nun 15 verloren, von 36 Mauleseln aber nur einen einzigen; diese Zahlen sprachen deutlich zugunsten der Maulesel.
Wir ritten nun in dem gewaltigen Längstal weiter, das uns schon seit dem Lager Nr. 7 durch sein günstiges Terrain vorwärtsgeholfen hatte, und passierten ein Salzbecken mit einem Tümpel in der Mitte, den konzentrische Austrocknungsringe so regelmäßig wie die Bankreihen eines Amphitheaters umgaben. Am Fuß eines Hügels zeigten sich Wölfe; vielleicht waren es unsere gestrigen Bekannten! Wir mußten ihnen wider Willen im letzten Lager, wo sich gleich sechs Raben über die gefallenen Pferde hergemacht hatten, einen gehörigen Schmaus zurücklassen.
Eine der obersten »Bankreihen«, die etwa 50 Meter über dem Spiegel des Tümpels lag, gab einen vortrefflichen Weg. Ringsumher war der Boden kreideweiß von Salz. Zur Rechten hatten wir einen niedrigen, braunvioletten Kamm. Bald überholte ich mit meinen gewöhnlichen Begleitern, Robert und Rehim Ali, ein erschöpftes Pferd. Es sah keineswegs mager aus, war aber schon mehrere Tage dienstfrei gewesen; wir hofften, es noch retten zu können. Doch sein Führer erschien abends allein im Lager und meldete, sein Schützling sei unterwegs zusammengebrochen und verendet. Das Gelände ist etwas hügelig, aber nur selten tritt anstehendes Gestein auf, und dann besteht es aus Kalkstein und hellgrünem Tonschiefer.
Der heutige Lagerplatz Nr. 22 war von besonderem Interesse. Auf seiner denkwürdigen Expedition durch Westtibet und Ostturkestan während der Jahre 1896–1899 hatte Hauptmann H. H. P. Deasy große Schwierigkeiten zu überwinden gehabt und so viele seiner Tiere verloren, daß er um die Expedition und ihre Resultate zu retten, einen großen Teil des Gepäcks und Proviantes, kurz alles irgend Entbehrliche zurücklassen mußte. Im Jahre 1903 machte Hauptmann Cecil Rawling eine ebenso verdienstvolle Forschungsreise durch dieselben Teile Tibets, und da auch er infolge Proviantmangels in eine sehr kritische Lage geriet, beschloß er Deasys Depot, das sich der Karte nach in der Nähe befinden mußte, aufzusuchen. Zwei der Leute Rawlings, Ram Sing und Sonam Tsering, hatten auch Deasy begleitet, und Sonam Tsering hatte auch den Ort zeigen können, wo Gepäck und Vorräte eingegraben worden waren. Dank den Reis-, Mehl- und Gerstevorräten, die man dort mitten in der Wildnis fand, konnte Rawling seine Pferde, die sonst verloren gewesen wären, retten, und ein kleiner Sack mit Hufeisen und Nägeln kam auch ihren Hufen sehr zugute.
Derselbe Sonam Tsering begleitete nun auch mich auf meinem Zuge; ich hatte ihm am Morgen befohlen, erst bei Deasys und Rawlings Lager haltzumachen, und wir marschierten deshalb heute mit den Mauleseln voran. Es war natürlich für meine Route von großem Wert, einen so genau bestimmten Punkt zu berühren.
Das Finden des Platzes bot nicht die geringste Schwierigkeit, und als wir das Lager erreichten, das auf einem kleinen ebenen Fleck zwischen weich gerundeten Hügeln lag, hatte Muhamed Isa schon sieben Kisten ausgraben lassen (Abb. 66). Eine davon war mit Mehl gefüllt, das in der langen Zeit völlig verdorben war; jedenfalls war es schon unbrauchbar gewesen, als Rawling vor drei Jahren hier war. Nur eine der Kisten war tibetische Arbeit, denn Rawling hatte, wie mir Sonam Tsering mitteilte, einige seiner abgenutzten Kisten aus Kaschmir mit Deasys turkestanischen vertauscht, die weit besser waren. Aber auch Rawlings Kisten waren besser als meine leichtzerbrechlichen Holzkasten aus Leh, in denen wir Lichte und Konserven aufbewahrten. Daher annektierten wir einige von ihnen und benutzten die unseren als Brennholz. Im übrigen hatte Rawling das Depot so gründlich ausgeplündert, daß für mich nicht mehr viel übrig geblieben war – aber ich brauchte die Sachen ja auch nicht so notwendig wie er. Einige Konservendosen mit amerikanischem Rindfleisch waren den Hunden sehr willkommen, wurden aber von den Männern verschmäht, solange wir noch frisches Schaffleisch hatten. Würfelförmige Blechkasten, in denen indisches Mehl gewesen war, lagen überall umher. Eine der Kisten enthielt eine Menge leerer Patronenhülsen; sie zeigten aber keine Spur von Gebrauch; Sonam Tsering glaubte daher, daß ein paar Jahre nach Rawling Tschangpas hier gewesen seien und das Pulver herausgekratzt hätten; er zeigte mir auch ein paar Feuerstellen, die viel jünger aussahen. In einer anderen Kiste fanden wir einen Schiffskalender und einige Kartenblätter über Oberbirma – Deasy hatte den Plan gehabt, nach jenem Lande zu ziehen, war aber durch Krankheiten und Todesfälle in seiner Karawane daran verhindert worden. Ein Paket Löschpapier kam uns sehr gelegen, da Robert für mich ein Herbarium angelegt hatte, und Muhamed Isa entdeckte einige unbeschädigte Stricke. Sonst nahm ich nur noch ein paar Romane und Bowers Beschreibung seiner Tibetreise im Jahre 1891 als willkommene Ergänzung meiner gar zu dürftigen Bibliothek mit.
66. Ausgrabungen im Lager von Deasy.
Wir befanden uns also jetzt in einer Gegend, die mehrere Reisende vor mir besucht hatten. Wellby und Malcolm, die den Lake Lighten, den schon von Crosby 1903 berührten See, entdeckten, habe ich schon genannt. Am Jeschil-köl sind Dutreuil de Rhins, Wellby und Malcolm, Deasy, Rawling und der österreichische Naturforscher Zugmayer gewesen. Die Route des letztgenannten kreuzte ich schon ein paar Monate nach seiner Reise; er hat ebenso wie der Franzose und die englischen Forscher ein sehr verdienstvolles Buch über seine Beobachtungen geschrieben. Von seinen Wegen konnte ich damals noch nichts wissen, finde aber jetzt, daß ich seine Route nur an einem Punkt gekreuzt habe. Auch Wellbys und Dutreuil de Rhins' Weg habe ich nur einmal, Deasys Weg aber an zwei Stellen gekreuzt. In der nächsten Zeit war es schwerer, die Gegenden zu vermeiden, wo Wellby und Rawling gewesen waren und wo besonders der letztere mit Hilfe seiner » Native surveyors«, eingeborenen Topographen, eine so genaue und zuverlässige Karte aufgenommen hatte, daß für mich keine Aussicht war, sie noch verbessern zu können.
Ich sehnte mich infolgedessen nach Gegenden, die nie von anderen Reisenden berührt worden waren. Mein Lager 22 war mit Rawlings Lager Nr. 27 identisch gewesen, seine Expedition hatte aber den Pul-tso, der jetzt eine Tagereise weit vor uns lag, sowohl nördlich als südlich umgangen. Um auch hier seine Route zu vermeiden, ging ich auf die Mitte des sich ungewöhnlicherweise von Norden nach Süden ziehenden Sees zu.
Wenn bei Sonnenaufgang die große Karawane beladen wird und aufbricht, ist das Lager gewöhnlich voll Lärm und Getreibe. Infolge unserer täglichen Verluste an tragfähigen Tieren müssen die Lasten beständig anders gepackt werden; ist aber der Troß endlich abgezogen, dann wird es wieder still, das eiserne Kohlenbecken und das heiße Badewasser werden gebracht, und bald wird es in meinem Zelt, dessen Öffnung des vorherrschenden Westwindes wegen stets nach Osten geht, so heiß wie in einem Dampfbad. Durch diese Wärme wird man verführt, sich leichter als sonst zu kleiden, bereut es aber bald, denn im Freien ist es immer kalt. Und so geht es denn wieder in die öde Gegend hinaus, wo drei Expeditionen auf demselben Punkt zusammengetroffen sind.
Der Erdboden ist ziegelrot, die Weide überall gut, im Süden beugen niedrige Hügel ihre gewölbten Rücken, im Norden haben wir das mächtige Gebirgssystem des Kven-lun mit mehreren imposanten Bergmassiven, die ewiger Schnee bedeckt, im Ostsüdosten, gerade vor uns, taucht der kolossale, kuppelförmige, mit ewigem Schnee bedeckte Komplex auf, den Rawling » Deasy Group« getauft hat; schon vom Jeschil-köl aus hatten wir diesen Bergriesen gesehen; er sollte uns jetzt mehrere Tage lang als Landmarke dienen.
Am Ufer des Pul-tso (Seehöhe 5076 Meter), in der Nähe eines kleinen Kalksteinfelsens, lagerte die Karawane (Abb. 63). Tundup Sonam, der »Oberhofjägermeister« der Karawane, bat, auf Jagd gehen zu dürfen und erhielt vier Patronen. Nach einigen Stunden kam er mit drei Patronen zurück und zeigte uns einen Yakschwanz als Beweis, daß er einen gewaltigen Stier erlegt hatte, den er einsam und friedlich grasend hinter den Hügeln im Süden angetroffen. Nun hatte die Karawane auf etwa zehn Tage frisches Fleisch, »und wenn das verzehrt ist, schießt Tundup uns wieder einen Yak«, versicherte Muhamed Isa, der immer sehr befriedigt war, wenn die von ihm ausgesuchten Leute ihre Sache gut machten. Als Mittagessen erhielt ich Mark aus den Yakknochen, ein geradezu lukullisches Gericht.
63. Süßwassersee Pul-tso von Westen.