Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtzehntes Kapitel.
Zehn Tage auf dem Eise des Ngangtse-tso.

Vom »Weihnachtslager« gingen wir in südlicher Richtung über zwei Pässe, von denen der zweite Laän-la heißt und eine Wasserscheide zwischen dem Dubok-tso und dem Ngangtse-tso bildet. Den großen See sieht man noch nicht, wohl aber wie einen fernen, bläulichen Hintergrund die Bergkette, die sich am Südufer des Sees erhebt. Ein Yak ging verloren; er war nicht erschöpft, aber seine Vorderhufe waren gesprungen, so daß er sich wundgelaufen hatte. Nachdem er sich einmal mit seiner Last gelegt hatte, konnte ihn keine Macht der Erde wieder zum Aufstehen bringen; alles Ziehen an dem Strick, der durch seinen Nasenknorpel ging, nützte nichts. Wir ließen ihn daher zurück und schenkten ihn den Eingeborenen, die unsere nächsten Lagernachbarn waren. Mehrere Yaks und die noch lebenden Veteranen aus Leh bedurften aber gründlicher Ruhe, so daß ich beschloß, einen halben Monat an dem großen See zu bleiben. Allerdings war es riskant, uns so lange an einem Punkt in Naktsang, wo ich im Jahre 1901 auf so starken Widerstand gestoßen war, festzulegen, da wir ja den Behörden Zeit gaben, sich zu organisieren. Aber wir mußten ruhen, es blieb uns keine Wahl.

Nach einer Nachtkälte von -31,2 Grad zogen wir das Laäntal hinunter bis an einen Punkt unmittelbar oberhalb der Stelle, wo das Tal in die Ebene des Sees übergeht, und lagerten in der Nähe eines aus sechs Haushaltungen bestehenden Zeltdorfes. Das ganze Land ist von Mauselöchern zerfressen, man sieht sie bisweilen etagenweise übereinander liegen. Wenn man im mittelsten Tibet auch nur ein Zehntel Erdmaus auf das Quadratmeter rechnete, so würde man fabelhafte Zahlen erhalten! Im Lager Nr. 97 war es z. B. unmöglich, mein Bett so zu legen, daß es nicht mehrere Löcher zudeckte, und am Morgen wachte ich davon auf, daß die Mäuse unter dem Bett rumorten und quiekten und sich sehr darüber wunderten, daß sie nicht aus ihrer Haustür konnten.

Die Nomaden der Gegend waren uns freundlich gesinnt und verkauften uns Schafe, Butter und Milch. Sie sagten, die große Straße nach Schigatse führe an der Ostseite des Sees entlang; eine zweite im Westen des Ngangtse-tso sei viel weiter und unwegsamer. Die große Straße nach Lhasa geht ostwärts über Schansa-dsong. Bis hierher war sie von Nain Sing benutzt worden, dessen Route ich gerade jetzt kreuzte, denn von dem Marku-tso, einer kleinen Lagune am Nordufer, geht der Weg, dem er folgte, nach Westnordwest. Viele Nomadengemeinschaften überwintern auf den ausgedehnten Ebenen der Seeufer, besonders der Südseite. Die Nomaden gehen nie über den See, wobei sie durch einen Richtweg Zeit sparen würden, denn sie trauen dem Eise nicht, und unser neuester Führer wollte uns um keinen Preis über den See begleiten, sondern warnte uns vor dem dünnen Eise. Seine Angaben erschienen mir um so wahrscheinlicher, als er sagte, daß der See salzig sei, das Wasser sich nicht trinken lasse und es weder Fische, noch Pflanzen darin gebe.

Irgendwie mußte aber die lange Ruhezeit benutzt werden. Auch war eines der in meinen ursprünglichen Reiseplan aufgenommenen Ziele, das Land um die 1873 von Nain Sing entdeckten zentralen Seen zu untersuchen und auf einem oder mehreren der Seen Lotungen zur Feststellung der Tiefe vorzunehmen. Wenn das Eis hielt, konnte man ja über den See gehen und durch Waken loten. Zwei Männer wurden also ausgeschickt, um das Eis zu untersuchen; 100 Schritt vom Ufer entfernt war es 28 Zentimeter dick, 200 Schritt 26 Zentimeter und 300 Schritt noch 25½ Zentimeter. Ich beschloß daher, am nächsten Punkt vom Hauptquartier aus zu beginnen.

Dort sollten Robert und Muhamed Isa bleiben, um zu wachen und unsere Tiere zu pflegen. Es mochte freilich gewagt sein, die Karawane gerade jetzt in zwei Teile zu spalten, aber ich konnte nicht einen halben Monat unbeschäftigt bleiben. Beim Hauptquartier gab es alles, was wir brauchten: Nomaden, Weideland, Wasser und Brennmaterial; der Ort schien eine gewisse Bedeutung zu haben, denn im Tale stand ein runder Mani-Haufen und auf einem Bergrücken fand Robert eine »Samkang«, eine Eremitengrotte, vor der eine kleine Steinmauer errichtet war. Dort pflegte der Lama Togldan im Sommer zu wohnen und seinen Unterhalt von den benachbarten Nomaden zu beziehen dafür, daß er Formeln zur Beschwörung der bösen Geister murmelte und Gebete für das Gedeihen der Herden sprach. Nach dem Nordufer hatten wir anderthalb Stunden zu gehen, und dort zeugten unzählige Lagerplätze von Sommerbesuchen der Nomaden. Dort liegen ihre Zelte inmitten vorzüglicher Weideplätze, der Südsonne ausgesetzt, den großen See, den manchmal heftige Stürme aufwühlen, gerade vor sich.

Wir rüsteten uns mit Proviant auf zehn Tage für mich und ein halbes Dutzend Ladakis aus. Zwei lebende Schafe wurden mitgenommen; die Männer sollten Roberts kleines Zelt nehmen, ich aber wollte unter der einen Hälfte des Bootes schlafen, das mit dem ganzen Gepäck, Bett, Pelzen und Instrumenten, wie ein Schlitten über das Eis geschoben werden sollte. Das Boot sollte auch unsere Rettung sein, wenn wir uns einmal auf zu dünnes Eis wagten. Der weiße Puppy durfte uns begleiten, um mir Gesellschaft zu leisten. Während meiner Abwesenheit wohnte Robert in meinem Zelt, wo der Barograph und der Thermograph auf meinen Kisten tickten. Die Seehöhe betrug hier 4770 Meter.

Am Nachmittag des 29. Dezembers ritt ich also nach dem Ngang-tse-tso hinunter, wo das Lager 98 im Schutz eines Uferwalls an einer Lagune aufgeschlagen wurde. Nach Ostsüdosten hin ist das Land, soweit der Blick reicht, offen; das östliche Seeufer ahnt man kaum, das westliche überhaupt nicht; im Südwesten erheben sich Schneeberge, und man sagt sich, daß jenes Gebirge Nain Sings »Targot Lha Snowy Peaks« sein muß. Rabsang war mein Leibdiener, Bolu mein Koch; sie brachten meine provisorische Hütte in Ordnung; das Baumaterial bestand aus der Bootshälfte, dem Stativ meines photographischen Apparates und einer Filzdecke. Als Mittagessen erhielt ich Hammelkeule, saure Milch, Brot, Apfelsinenmarmelade und Tee, rauchte dann eine indische Cheroot und betrachtete den See, der während der folgenden Tage gründlich untersucht werden sollte.

Der 30. Dezember, ein Sonntag, brach nach einer Nacht von 25,1 Grad Kälte strahlend an. Puppy hatte meine Füße warm gehalten. Beim Waschen und Anziehen war es etwas eng, aber als ich endlich fertig war, konnte ich mich des Feuers erfreuen, des Anblicks der Sonne und der großen Seefläche. Schnell wurde das Gepäck verstaut, das Boot auf das Eis gebracht und mittels zweier Schienen im Gleichgewicht gehalten, während sechs Mann schoben. Aber das Eis machte uns viel Verdruß. Das beim Gefrieren ausgeschiedene Salz hatte sich wie trocknes Kartoffelmehl auf dem Eise angesammelt, wo es bald zusammenhängende Felder bildete, bald zu Wällen, Rücken und Wehen zusammengefegt war, in denen die Schienen und der Kiel sich festsogen. Wir arbeiteten uns aber trotzdem nach S 9º O hin vorwärts, wo ich einen kleinen schwarzen Felsenvorsprung am Südufer mir als Landmarke genommen hatte. Die erste Wake wurde gehauen; das Eis war 21,5 Zentimeter dick, und die Tiefe des Sees betrug, vom obern Eisrand gerechnet, nur 4 Meter.

Nachdem wir noch eine Weile gewandert waren, hielten wir Rat – ich sah ein, daß es so nicht ging. Wir machten die Schienen los und banden uns drei einfache Schlitten zurecht, auf denen je ein Drittel der Bagage festgemacht wurde. Und so arbeitete man sich eine kleine Strecke weiter, während ich zu Fuß ging. Bei der nächsten Wake betrug die Tiefe 5,7 Meter – augenscheinlich hatten wir es mit einem jener außerordentlich seichten Salzseen zu tun, die ich im nordöstlichen Tibet so oft kennen gelernt hatte. Es wurde wieder Rat gehalten; unsere Schlitten gingen so langsam, daß wir so überhaupt nicht über den See kommen, geschweige denn ihn mehrmals überschreiten konnten. Als die beiden Gepäckschlitten, die weit zurückgeblieben waren, uns erreicht hatten, schickte ich einen Mann zu Robert, mir mehr Leute und alle Holzreste alter Kisten, die es noch in der Karawane gab, zu schicken.

Inzwischen machten wir die beiden Zinkschienen los, die an der Reling festgeschraubt waren und in welche die Mastbank eingefügt wurde. Sie wurden nun als Schlittenkufen an zwei zusammengebundene Bänke befestigt; an den Seiten des sonderbaren Fuhrwerks wurden zwei lange Stangen angebracht, die eine Spitze bildeten, durch die das Zugtau geschlungen wurde. Auf den Bänken wurde, mehrfach zusammengelegt, eine kaukasische Bourkha, die ich in Trapezunt gekauft hatte, ausgebreitet. Für den Lotungsapparat, das Fernrohr und allerlei andere Sachen brachten wir zwischen den Stangen eine Hängematte an. Als der Bau fertig war, erregte er Bewunderung; denn wenn man diesen selbst erfundenen Schlitten nur antippte, lief er schon von selbst ein ganzes Stück weiter (Abb. 88). Jetzt wurde das Boot voller Verachtung kassiert, und als Rabsang allein mit dem Zugtau auf der Schulter südwärts über das Eis eilte, entschwand uns das Boot bald wie ein kleiner Punkt aus dem Gesichte. Die anderen hatten Befehl, der Spur der Kufen gemächlich zu folgen; sie würden ja bald Hilfe erhalten, wenn die neuen Leute kämen.

siehe Bildunterschrift

88. Der improvisierte Schlitten auf dem Ngangtse-tso.

Eingehüllt in meinen großen Schafpelz, saß ich mit gekreuzten Beinen auf dem Schlitten, der stundenweit lustig über das Eis glitt, ohne daß Rabsang sich anzustrengen brauchte. Der Schlitten durchschnitt die Salzrücken wie nichts und überhüpfte mit gemütlichem, dumpfem Ton die Stellen, wo das Eis höckerig war; er übersprang Spalten und Risse, in deren Rändern das Eis glashell und grünlich schillerte, und glitt auf glatten Flächen lautlos vorwärts, so daß er mit seiner Spitze Rabsangs Fersen erreichte, wenn dieser bei schlaffer Leine nicht rechtzeitig seitwärts sprang.

Gefährlich war auf dem Eise wahrhaftig nicht; an seiner dünnsten Stelle war es noch 18 Zentimeter dick! Die Angst der Tibeter vor dem Ertrinken war also übertrieben. Aber sie haben stets großen Respekt vor den in den Seen hausenden Geistern und gehen lieber um einen See herum, als daß sie ihn überschreiten, mißtrauisch gegen die stille Winterruhe der so oft wütenden, sturmgepeitschten Wellen.

Mehrere seltsame Gefriererscheinungen lassen sich beobachten, die regionenweise abwechseln. Bisweilen unzählige, vertikal stehende weiße Figuren in ganz klarem, dunkelm Eis; der Form nach gleichen sie, von welcher Seite man sie auch betrachtet, Eichenblättern, von oben gesehen aber erinnern sie an Sterne mit vier papierdünnen Armen. An anderen Stellen sieht man Schollen weißen, porösen Eises in klares Eis eingekittet, die Folgen eines Sturmes, der die erste Eisdecke des frühen Winters zertrümmert hatte, worauf die Schollen bei endgültigem Zufrieren in das neue Eis eingegossen worden sind. Durch lange schmale Spalten ist Wasser emporgepreßt worden und zu bisweilen meterhohen Schirmwänden erstarrt, die phantastische Blätter und Wölbungen bilden und oft messerscharfe Ränder und Spitzen haben. Rabsang braucht ihnen nur einen Stoß zu versetzen, um einen Torweg für den Schlitten herzustellen; aber diese dünnen Eishecken sind recht irreführend und erschweren die Beurteilung der Entfernungen.

In acht Waken loteten wir, und die größte Tiefe betrug armselige 9,8 Meter. Der Seegrund besteht aus schwarzem Tonschlamm. Das Aufhauen einer Wake mit Beilen und Spießen dauerte eine gute Viertelstunde. Sobald der letzte Stoß ein Loch in den Boden des Eises schlägt, quillt dunkelgrünes klares, kaltes Wasser heraus und füllt die Eisgrube, und dann wird das Lot an seiner Leine hinabgelassen.

Die erste Lotungslinie hatte uns ungebührlich viel Zeit geraubt, hauptsächlich infolge all der Unterbrechungen und des beständigen Umpackens im Anfang, und es war noch ein langer Weg bis ans nächste Ufer, als die Sonne in roten und brandgelben Wolken unterging. Aber der Vollmond stand am Himmel, der Felsenvorsprung war scharf und deutlich zu erkennen, und wir beeilten uns nach Kräften. Das Eis war ungemütlich höckerig, so daß ich weite Strecken zu Fuß zurücklegen mußte. Kalt, weiß und öde dehnte sich die Eisdecke des Sees nach allen Seiten hin; alles war stumm und still, nur das sausende Geräusch unserer eigenen Schritte hörten wir. Wenn etwa Nomaden ihre Zelte am Ufer, dem wir uns näherten, aufgeschlagen hatten, mußten sie über die schwarzen Punkte, die sich draußen auf dem See bewegten, sehr verdutzt sein. Aber keine Feuer erhellten die Nacht, und es heulten keine Wölfe. In der Dunkelheit konnten wir uns freilich keinen Begriff davon machen, wie weit wir noch zu gehen haben würden. Noch bei der letzten Wake hatte sich der Felsenvorsprung nicht sehr vergrößert. Und so marschierten wir denn drauflos, bis Rabsang plötzlich mit der Mitteilung Halt machte, daß wir nur noch einige hundert Schritt vom trocknen Ufer entfernt seien!

Dort ließen wir den Schlitten stehen und zogen weiter nach dem Vorgebirge, an dessen Fuß mehrere abgestürzte Blöcke verstreut lagen. Unter einen von ihnen setzten wir uns wartend. Darauf sammelte Rabsang im Dunkeln so viel Brennmaterial, als er nur finden konnte – wir mußten ja ein Signalfeuer für die anderen haben. Endlich kamen auch sie angetrabt, Taschi, Ische, Bolu und Islam Ahun, alle schwer beladen, da sie es vorgezogen hatten, die Schlitten zu kassieren und das Gepäck zu tragen. Zwei Stunden später wurden einige schwarze Punkte draußen auf dem Eis signalisiert; es war die ankommende Verstärkung, und ich hatte jetzt zehn Mann bei mir. Vom See aus hatten sie an vier Stellen Feuer gesehen; wir waren also auf allen Seiten von Nomaden umgeben, aber wir bedurften ihrer nicht und kümmerten uns nicht um sie.

Durch die Erfahrung klug geworden, richteten wir uns auf die Wanderung des nächsten Tages so praktisch als möglich ein. Islam Ahun sollte ins Hauptquartier zurückkehren, alle Sachen, die wir unterwegs hatten liegen lassen, aufsammeln und dafür sorgen, daß man das Boot hole. Rabsang und Taschi zogen meinen Schlitten, die sieben Anderen trugen das Gepäck (Abb. 89). Sie folgten erst einem Uferweg, ehe sie sich auf das Eis begaben und auf das heutige Ziel im Nordwesten lossteuerten. Wir behielten sie den ganzen Tag über im Gesicht. Sie gingen im Gänsemarsch, trottend, wiegend und singend, manchmal aber setzten sie sich, um sich zu verschnaufen. Dabei benutzten sie die festgeschnürte Last als Rückenlehne (Abb. 90). Aber ohne Hilfe können sie nicht wieder aufstehen; bei sechsen geht es zwar ganz leicht, aber der siebente, d. h. derjenige, der zuerst aufstehen soll, hat es schwerer. Er rollt auf dem Bauche umher und windet sich an einem Stab in die Höhe, und wenn ihm dies endlich gelungen ist, hilft er den anderen auf die Beine.

siehe Bildunterschrift

89. Transport über den See.

siehe Bildunterschrift

90. Rast auf dem Eise.

Das Eis war jetzt vortrefflich, viel besser als auf der ersten Linie. Die Salzmenge war auch geringer, was daran lag, daß die westlichen Stürme das Salz nach Osten hin fegen. Lange Strecken lag das Eis rein und blank vor mir und hatte beinahe schwarzgrüne Farbe. Ich wußte erst nicht, was ich dazu sagen sollte, als wir über die dunkeln Flächen sausten. Ob es auf dem Grunde warme Quellen gibt, die den See stellenweise nicht zufrieren lassen? Aber man gewöhnt sich bald an den Anblick, das Eis hält und ist mindestens 17 Zentimeter dick, während die größte Tiefe 9,68 Meter beträgt. Ich sitze wie eine Buddhastatue mit gekreuzten Beinen auf meinem minimalen Schlitten, rauche, observiere, mache Notizen und freue mich, den Sylvesterabend auf dem Eise des Ngangtse-tso feiern zu können! Um die Mittagszeit erhob sich südwestlicher Wind, so daß ich rückwärts sitzen mußte, um nicht zu erfrieren.

Eine von Norden nach Süden laufende Spalte machte uns aber dann viel Kopfzerbrechen. Sie war anderthalb Meter breit und zog sich nach beiden Seiten hin, soweit der Blick reichte; zwischen den beiden Eisrändern plätscherte offenes Wasser. Wahrscheinlich war sie während eines Sturmes entstanden, als die ganze Eisfläche sich ein wenig nach Osten hin in Bewegung gesetzt und dabei eine gähnende Rinne hinter sich zurückgelassen hatte. Nach langem Suchen fanden wir eine Stelle, wo sich unten neues Eis gebildet hatte. Den Schlitten als Brücke benutzend, kamen wir trocknen Fußes hinüber. Wie die anderen sich aus der Verlegenheit geholfen haben, weiß ich nicht, aber sie fürchteten sich vor einem kleinen Fußbad nicht.

Verhältnismäßig früh gingen wir an einer Stelle an Land, wo 19 Pferde auf der weiten Uferebene grasten und ein Junge etwa 500 Schafe hütete. Er flüchtete eilig, als er uns kommen sah, und ich wundere mich nicht, daß ihm bange wurde, als er zehn große Kerle wie Gespenster über den noch nie von einem menschlichen Fuß betretenen See schleichen sah! Um ein großes Feuer saßen die Ladakis, sangen und bliesen Flöte, und das Mondlicht überflutete kalt und friedlich den unbekannten Strand, wo eine Schar wandernder Fremdlinge eine einzige Nacht ihres Lebens zubrachte. Es war die letzte Nacht des Jahres 1906, und das Lager war unser hundertstes!

Ein herrlicher Neujahrsmorgen 1907! Mit fröhlichen Hoffnungen für das neue Jahr und seine Arbeit begann ich die dritte Lotungslinie in der Richtung S 19º O nach einem schwarzen Bergvorsprung, der zwischen Zwei Tälern lag, in denen Eisschollen in der Sonne glänzten. Es sah aus, als falle der Vorsprung schroff in den See ab und als sei die Entfernung kolossal, aber es war eine Täuschung; die flache Uferebene, die sich zwischen dem Fuß des Gebirges und dem See ausbreitet, war vom Eise aus nicht zu sehen. Wieder mußten wir über die gestrige Spalte, aber sie war über Nacht zugefroren. Doch in mehreren anderen kleineren Spalten stand Wasser, das hoch aufspritzte, als wir sie überschritten. Heute hielten unsere Träger mit uns Schritt, und ihre Lieder pflanzten sich in weiten Schallringen über die Eisfelder fort. Bei jeder neuen Wake lagerten sie mit uns und beobachteten das Ergebnis der Lotung mit wirklichem Interesse. Seltsame Menschen, immer heiter und zufrieden, niemals mutlos oder murrend, alles nehmend wie es kommt, und bei jedem Wetter und Wind gleichmütig und gelassen!

Puppy ist des Laufens auf dem Eis schon überdrüssig, hat kalte Füße und springt, sobald wir rasten auf den Schlitten, hat aber gegen das Fahren einen ausgesprochenen Widerwillen.

Ein konischer Gipfel im Süden des Lagers 99 beherrscht wie ein Leuchtturm den ganzen See. Nain Sing, der das nördliche Ufer des Ngangtse-tso berührt hat, zeichnet die Seekontur im großen und ganzen richtig, hat aber den südwestlichen Teil des Sees zu plump wiedergegeben. Auch dort verschmälert sich nämlich die Wasseransammlung wie im Osten zu einer Spitze und hat die Gestalt eines Halbmondes. Das Gebirge, das der Pundit auf der Südseite des Sees in die Karte eingezeichnet hat, ist dagegen sehr fehlerhaft ausgeführt, was ja auch kein Wunder ist, da er es nur aus weiter Ferne gesehen hat und es unter diesen Umständen unmöglich war, sich einen richtigen Begriff von seiner Anordnung zu machen. Ebenso schwer ist es, sich eine Vorstellung von einem See zu bilden, den man nur von der Uferebene aus sieht; nur von einem Paß oder einem Kamm herab ist dies möglich.

Wir fragten uns, ob wir das Südufer noch vor der Dämmerung erreichen könnten, denn der Abstand sah noch immer unendlich groß aus. Um die Mittagszeit begann es heftig zu wehen, das trockne Salz wirbelte in weißen Wolken auf, jagte auf dem Eise hin und trübte uns die Aussicht. Auf dem Schlitten sitzend (Abb. 91), war ich seinem Ansturm ohne Deckung ausgesetzt und mußte mich hüten, den Mund zu öffnen. Hier und dort bildet das Eis kleine Wellenlinien, als habe es sich mitten im Seegang gebildet; die Eiswogen fallen auch steil nach Ostnordosten, dem Weg der Winde, ab. In den Einsenkungen zwischen ihnen sammelt sich der vor dem Wind treibende Salzstaub, durch den das Eisfeld ein eigentümliches, moireeartiges Aussehen erhält. Die ganze Osthälfte des Sees wird durch die Felsenvorsprünge, in deren Nähe wir das Lager 99 aufgeschlagen hatten, verdeckt. Wir gingen immer tiefer in die Südbucht hinein. Auf den Abhängen weideten Yaks, die gegen Abend von einem Mann zu Tal getrieben wurden. Auch im Süden erblickten wir Zelte, Yaks und Massen von Kiangs. Von unserem niedrigen Gesichtspunkt aus hatte es den Anschein, als gingen sie mitten auf dem See umher; der kleine Sehwinkel täuschte uns stets. Am letzten Lotungsloch bohrten Axt und Spieß sich immer tiefer in das Eis, ohne die Decke zu zertrümmern. Erst als eine Tiefe von 44 Zentimeter erreicht war, preßte das Wasser sich heftig hervor und war voll der gewöhnlichen kleinen roten Krustentiere – es ist also nicht so arg mit dem Salzgehalt des Sees. Etwas weiter konnte man sehen, wie das Eis ohne Wasserschicht auf dem Tongrund ruhte; dann langten wir an dem unfruchtbaren Ufer an und freuten uns, heute ganz unabhängig von der Vegetation zu sein. Brennmaterial fanden wir und Wasser erhielten wir durch Auftauen einiger Eisklumpen. Die größte Tiefe betrug auf dieser Linie 9,4 Meter, war also ein wenig geringer als die der anderen.

siehe Bildunterschrift

91. Rabsang und Taschi ziehen mich im Schneesturm über das Eis des Ngangtse-tso.

Gegen Abend hatten wir wieder einmal heftigen Sturm. Der See, der nur ein paar Meter von uns entfernt lag, entschwand spurlos aus dem Gesicht, und die Dungsammler tauchten wie Nebelbilder aus den Staubwolken erst auf, wenn sie nur noch einige Schritt bis an das Feuer hatten. Mir war es unbegreiflich, daß sie den Weg in so dicker Luft fanden. Vermittelst des Schlittens und dreier Säcke Brennstoff bauten sie sich eine Schutzmauer gegen den Wind, und dahinter saßen sie dann an ihrem Feuer, dessen flackernde Flammen ihnen fast das Gesicht versengten. Die Gruppe war in der schwarzen Nacht und den spärlichen Mondstrahlen ungewöhnlich malerisch. Und wie wehte es! Ich konnte kaum aufrecht stehen, als ich die Thermometer ablas, und meine Mütze flog in alle Winde. In der Nacht schliefen die Leute in einen Klumpen zusammengeballt im Schutz des Zeltes.

Am 2. Januar -22,2 Grad. Heute sollte die vierte Linie abgegangen werden – bei Sturm; kurz war sie freilich, kaum fünf Stunden, aber – aber! Wir mußten nach Südwest, also dem Wind gerade entgegen. Dazu kam, daß das Eis überall schwer zu passieren war, wohl eine Folge der hier sehr geringen Tiefe des Sees. Die Maximaltiefe war 3,23 Meter. In meinem Tagebuch steht, daß dies einer der schlimmsten, wenn nicht gar der allerschlimmste Tag der ganzen Reise gewesen ist. Aber man denkt immer, das Gegenwärtige sei das schlimmste und vergißt, was man vorher schrecklich gefunden hat. Der Sturm trieb das Salz in dicken Wolken, die sich mit sausendem Ton auf dem Eise rieben, vor sich her und jagte es mir gerade ins Gesicht. Wenn ich rief, daß meine beiden »Zugpferde« die Richtung einhalten sollten, flog mir eine Portion Salz in den Mund, und ich konnte den unangenehmen Geschmack um so weniger wieder loswerden, als das Salzpulver auch durch die Nase eindrang! Die Augen röten sich, tränen, schmerzen. Von der Berührung mit der Lotleine während mehrerer Tage belegen sich auch die Hände mit Salz, und wenn man sie dann nach jedem Loten abtrocknet, springt die Haut, und zwar so gründlich, daß Blut fließt. Bald aber werden die Hände blau, steif und gefühllos, und nur mit größter Schwierigkeit kann ich, indem ich die Feder wie einen Meißel mit der ganzen Hand halte, das Ergebnis der Lotungen, die Zeiten und die Abstände aufzeichnen; andere Notizen sind undenkbar. Rabsang und Taschi halten sich wenigstens warm, denn heute müssen sie ihre Kraft bis aufs äußerste aufbieten, um den Schlitten gegen den Sturm vorwärtszuziehen. Wo das Eis blank ist, können sie nicht festen Fuß fassen, sie gleiten und fallen, einmal setzte Taschi sich mir auf den Schoß – er wurde buchstäblich umgeweht. Oft ist der Winddruck so stark, daß Gespann und Schlitten rückwärts sausen und nur halten können, wenn die beiden Männer sich setzen und die Füße gegen einen Salzhaufen stemmen. Ich bin so steif gefroren und so lahm, daß ich nicht imstande bin, mich zu erheben, sondern sitzen bleibe, während die Waken aufgehauen werden. Bei einer Wake, die mitten in einem spiegelblanken Felde eingeschlagen wurde, faßte der Sturm aber den Schlitten und mich und trieb uns in schwindelnder Fahrt wie eine Eisjacht über den See! Ich versuchte mit den Füßen zu bremsen, aber ich hatte keine Kraft in ihnen, und meine Stiefel, die aus weichem Filz bestanden, liefen leicht und lustig über die Eisscheibe hin, ohne die Geschwindigkeit der Fahrt auch nur im geringsten zu vermindern. Die Kufen waren zwar zu kurz, der Schlitten drehte sich also im Kreise, aber vorwärts ging es dennoch, und wäre das Eis überall blank gewesen, so hätte mich der Sturm in wenigen Minuten über den ganzen See nach dem Lager 98 zurückgeweht! Da kenterte mein Fuhrwerk aber zum Glück in einer Spalte, ich wurde herausgeschleudert, trieb noch eine Strecke auf dem Eise weiter und landete auf einem Salzhaufen. Rabsang kam mir glitschend nachgeeilt, brachte den Schlitten und mich wieder auf die Beine und zog uns nun mit heiler Haut wieder nach der Wake zurück.

Wir sahen aus, daß wir uns voreinander hätten fürchten können. Wie aufgeschwollene, ausgegrabene, an der Sonne getrocknete und mit weißer Ölfarbe angestrichene Choleraleichen! Gesicht, Hände und Kleider waren weiß von Salz. Ich konnte meinen Schafpelz auch nie wieder gebrauchen; er wurde steif, platzte in den Nähten und mußte mit anderen Kleidungsstücken einfach weggeworfen werden.

Noch hatten wir jedoch nicht den halben Weg zurückgelegt. Die Männer strengten sich an, als müßten sie sich durch metertiefes Wasser hindurcharbeiten. Manchmal konnte ich sie kaum durch die Salzwolken hindurch erblicken, auch von dem Eis unter dem Schlitten war nichts zu sehen; mir war, als ständen wir still und eine schäumende, kreideweiße Flutwelle stürme über uns hinweg, um uns zu verschlingen. Ich fragte mich, ob wir das Ufer überhaupt lebendig erreichen würden. Viel Leben hatte ich auch nicht mehr im Leibe, als wir endlich landeten! Der Schlitten wurde verankert, damit der Sturm ihn nicht fortwehe, und dann überkletterten wir fünf Uferterrassen hintereinander, um schließlich hinter der Mauer einer Schafhürde, die oben auf der sechsten errichtet war, Schutz zu suchen. Glücklicherweise fanden wir dort trocknen Yakdung in großen Mengen und hatten bald ein qualmendes Feuer, in dessen Wärme ich jedoch eine gute Stunde sitzen mußte, ehe ich nur anfing, wieder einigermaßen gelenkig zu werden.

Vom Lager 102 waren es 3260 Schritt bis zur südlichsten Spitze des Sees. Dort weideten große Herden, und in der Talmündung waren sechs Zelte aufgeschlagen. Um fünf Uhr hörte der Sturm ebenso plötzlich auf, wie er gekommen war, und es wurde unheimlich still. Als ich um neun Uhr die meteorologischen Beobachtungen ausführte, lagen alle meine Leute schon in einer Reihe mit dem Kopf an der Mauer, die Stirn auf die Erde gedrückt, die Beine angezogen und so dicht nebeneinander wie Sardinen. Aber sie schliefen gut, das hörte ich an den Balken, die sie sägten!

Am Ufer gab es Schalen von Süßwassermollusken und in einem schwarzen Wall, der aus faulenden Algen bestand, viele Gänsefedern. Heutzutage ist das Wasser des Sees untrinkbar, aber früher ist der Ngangtse-tso ein Süßwassersee gewesen, nämlich als er noch nach einem seiner Nachbarn hin Abfluß hatte.

Angegriffen von den Anstrengungen des gestrigen Tages schliefen wir lange und brachen dann in nordöstlicher Richtung auf, nach dem roten Porphyrvorgebirge, das im Westen des Lagers 99 in den See hineinragte. Sturm hatten wir nicht, aber starken Wind, und da er uns in den Rücken blies, glitten wir wie Öl über das Eis.

Jenseits des Vorgebirges lagerten wir in einer tiefen Schlucht, um vor dem Winde Schutz zu finden. Ein Hirte weidete seine Schafe auf einem Abhang und versuchte sich aus dem Staube zu machen, aber Rabsang holte ihn ein. Er glaubte, daß wir Räuber seien, und zu verkaufen hatte er nichts, da er im Dienst eines anderen stand. Rabsang aber forderte ihn auf, uns seinen Herrn zu bringen. Inzwischen waren auch die anderen angelangt, aber ohne Ische, der krank geworden und mitten auf dem See liegen geblieben war. Zwei seiner Kameraden holten ihn abends. Alle waren erschöpft und baten, am 4. Januar nur eine kurze Wanderung zu machen. Das paßte auch ganz gut, denn der Herr des Hirten kam und verkaufte ein Schaf, Butter, saure Milch und einen Beutel Tabak. Es war hohe Zeit, denn der Proviant war schon beinahe aufgezehrt. Der Tabak war den Leuten das willkommenste, denn in der letzten Zeit hatten sie schon Yakdung geraucht! Der Alte gab mir viele interessante Aufklärungen über den Ngangtse-tso und erzählte uns, daß in den Tälern des Südufers jetzt 50 bis 60 Zelte aufgeschlagen seien. Soweit war alles gut gegangen – aber der Tag war noch nicht zu Ende!


 << zurück weiter >>