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Dreizehntes Kapitel.
Unglückstage.

Der 20. Oktober 1906 wurde ein böser Tag. Der Schnee lag drei Zoll hoch, alles war blendend weiß im Sonnenschein, nur nach Westen zu lagen blaue Schatten auf den Gehängen. Wir sollten über den Paß. In dem ewigen Weiß sah der Abstand kurz aus, aber die Karawane hatte noch nicht den halben Weg zurückgelegt, als er immer noch wie ein verschwindend kleiner schwarzer, unbeweglicher Punkt erschien. Die Erdmäuse waren noch wach und huschten zwischen ihren Löchern hin und her im Schnee, der immer tiefer wurde, je mehr die Steigung zunahm. Bald lag er fußhoch, und wir mußten sorgsam in der Spur der Karawane bleiben, um nicht kopfüber in verschneite Abgründe zu stürzen. Blutspuren zeigten sich; eines der Tiere hatte sich wohl in dem scharfkantigen Schutt den Fuß verletzt. Schritt für Schritt reiten wir aufwärts, hinter uns ballen sich drohende blauschwarze Schneewolken zusammen, und im Nu hüllt uns das wildeste Schneetreiben ein; der trockne, mehlfeine Schnee wirbelt wie Kometenschweife um uns her mit sausendem Ton. Er sammelt sich in dünenförmigen Wehen, die Spur der Karawane verschwindet, und wir sehen nicht mehr, wie weit es noch nach diesem mörderischen Paß ist.

Ein totes Pferd liegt am Wege, augenlos – die bösen Raben müssen die Augen immer haben, wenn sie noch warm und weich sind. Der Wind hat ihm den Schnee an Rücken und Hals hinaufgetrieben, wie um dem Toten ein feines, bequemes Lager zu bereiten. Es liegt wie auf einem Paradebett in allen Winden des Himmels, mit reinen, weißen Laken und den schwarzen Todesraben als Ehrenwache, der einzige Dank, den es für seine Dienste hat!

Auf dem Paß machen wir wie gewöhnlich der Messungen wegen halt; die Höhe beträgt 5611 Meter, es weht und schneit bei 10,1 Grad Kälte. Man ahnt jedoch die Schwelle im Südosten, die Robert gestern rekognosziert hat und die auf ebenes Gelände hinabführen soll. Aber Muhamed Isa ist seine eigenen Wege gegangen und ein Tal hinuntergezogen, das nach Nordosten führt, und das wurde uns verhängnisvoll. Weit voraus, wie er ist, müssen wir, wenn auch widerwillig, seiner Spur folgen, um einander nicht zu verlieren. Schon jetzt konnte man nur noch mit Schwierigkeit sehen, wo die Karawane hinmarschiert war. Verliert man einander in solchem Gelände und der Schneefall dauert fort, so ist man verloren.

Wir folgen ihm also talabwärts. Hinter uns sieht der Paß unheimlich aus, ein schneeweißer Sattel mit einem Hintergrund blauschwarzer Wolken, die erstickendem, wirbelndem Rauche gleichen. Tsering erreicht mit seinen zwei Männern und vier Pferden den Paß und ehrt ihn mit einem lauten Salam. Tückische vereiste Quellen werden überschritten, sie sind so hart wie Glas und so glatt wie Schmierseife; unsere Reitpferde stolpern und glitschen. Nur selten lugt ein kleiner Hügel schwarzen Schiefers aus dem Schnee hervor.

Da das Tal gar zu weit nach Norden führt, wittert die Karawane Unrat, schwenkt nach Osten ab und verliert sich in einem Hügellabyrinth, wo kein Grashalm wächst. Wir reiten an der Herde mit den 16 Schafen und den Ziegen vorbei; der weiße Puppy neckt sie wie gewöhnlich, bis ein tapferer Widder ihn in die Flucht jagt. Die Ziegen sind merkwürdig widerstandsfähig; es geht ihnen ausgezeichnet, und sie versorgen mich noch immer morgens und abends mit einer Tasse Milch.

Hinter einer zweiten Schwelle fanden wir die Karawane. Sie hatte sich gelagert, aber an einer außerordentlich ungünstigen Stelle; es gab hier weder Gras noch Japkak, weder Dung noch Wasser: absolut gar nichts. Die Tiere standen in einem schwarzen Knäuel, der grell gegen den weißen Schnee abstach. So mußten sie still und geduldig die ganze Nacht stehen und deutlich empfinden, wie langsam die Zeit verging, wie Hunger und Durst sich steigerten und die Kälte wieder abnahm; stehend sollten sie das Morgenrot erwarten, das vielleicht ganz ausblieb, denn noch immer bedeckten schwarze Wolkenmassen den Himmel.

Robert und ich suchten Schutz im Zelt der Ladakis, wo ein kleines Feuer brannte, das mit den Bruchstücken einer Kiste und Antilopendung gespeist wurde. Wasser konnten wir wenigstens durch Schmelzen des Schnees erhalten; mein Mittagessen bestand aus geröstetem Mehl, Brot und Kaffee, anderes ließ sich nicht bereiten. In der Dämmerung erschien Rabsang und bat mich, hinauszukommen. Auf dem Gipfel eines benachbarten Hügels standen verwundert zwei große wilde Yaks und starrten unser Lager an. Wir ließen sie jedoch in Ruhe, denn wir brauchten ihr Fleisch nicht und wollten unsere Lasten nicht vergrößern. Sie trollten sich langsam fort, als ihnen klar geworden, daß wir nicht zu ihrer Art gehörten. Die Nacht war pechschwarz, so daß ich unsere müden Tiere beim Schein einer Laterne inspizieren mußte.

In aller Frühe brachen wir aus diesem Unglückslager, wo noch ein Maulesel auf seinem Posten gefallen war, auf. Die abendlichen Spuren im Schnee zwischen den Zelten hatte frisch gefallener Schnee schon ausgefüllt, und ein neues Wegesystem war entstanden. Kaum zwei Minuten vom Lager lag ein totes Pferd, das noch gestern seine Last getragen hatte, die schwarze Leichenwache wieder daneben. Auch eine tote Wildente fanden wir im Schnee. Gibt es in der Nähe einen See? Nein, die Enten kommen weit her; diese hatte sich wohl verirrt.

Bald glüht die Sonne, bald umhüllt uns der Schneesturm mit seinem feinen Puder, bald wird man gebraten, bald durchfroren, echt tibetisches Wetter, unberechenbar und launenhaft. Wieder ein totes Pferd! Um seine Leiden zu verkürzen, hatten die Männer ihm den Hals abgeschnitten; den in der Kälte erstarrenden Blutstrom deckte schnell wirbelnder Schnee. Wir arbeiten uns nach einem neuen Paß hinauf und ziehen dann auf einem Kamm entlang, aber das Terrain ist greulich und mörderisch. Schließlich reiten wir in einem flachen Tale abwärts, das allmählich nach Norden umbiegt; im Süden steht ein gewaltiger Gebirgskamm. Muhamed Isa hatte Befehl, nach Möglichkeit eine südöstliche Richtung zu verfolgen, da er aber des Weges nicht sicher war, hatte er in der Biegung lagern lassen. Er selber war mit zwei Mann weiter gegangen, um zu rekognoszieren. Gegen vier Uhr kehrte er zurück und berichtete, wir würden nach kaum dreistündigem Weg in offenes Land kommen. Mein erster Gedanke war, sofort aufzubrechen, denn hier beim Lager 46 gab es wieder kein Gras, und die Tiere waren so hungrig, daß sie sich gegenseitig die Schwänze und Packsättel anzufressen versuchten. Ein Pferd hatte buchstäblich kein einziges Haar mehr im Schwanz gehabt, aber es war in der vorigen Nacht gestorben. Die alten Erprobten meiner Begleiter glaubten jedoch, daß es besser sei, erst in der Frühe aufzubrechen.

Ich erteilte daher Befehl, so viel Reis, wie wir für vierzig Tage brauchten, zurückzubehalten, den übrigen aber, mit Gerste und Mais vermengt, den Tieren zu geben. Während sie aus ihren Futterbeuteln fraßen, kamen jedoch die Leute wieder auf andere Gedanken, und Muhamed Isa fragte, ob wir nicht aufbrechen könnten.

»Ja gern, aber in einer Stunde ist es stockfinster.«

»Ich finde den Weg, wir brauchen nur der Spur im Schnee zu folgen.«

So begann denn das Aufbruchsgewimmel und das knarrende Stapfen im Schnee, aber die gewöhnlichen Lieder waren erfroren. Es waren 15 Grad Kälte und wehte heftig aus Westen. Alles wurde mitgenommen außer meinen und Roberts Sachen und der Küche. Ein Maulesel, der sich sträubte mitzugehen, durfte bei uns bleiben. Keine Feuer leuchteten dem dunkeln Zug, an dessen Spitze die Pferde marschierten und den die Schafe beschlossen. Er entfernte sich langsam, und die Mahnrufe der Männer tönten immer schwächer zu uns herüber, bis die Karawane dann in dem bleichen Mondlicht verschwand. Steifgefroren ging ich wieder ins Zelt. Nach einer Viertelstunde kam ein Mann und brachte noch einen Maulesel zurück, der nicht weiter gekonnt hatte. Wir hatten also zwei Todeskandidaten bei uns.

Und nun kam die Nacht. Die Luft war klar und still, die Sterne funkelten wie Diamanten im Schein elektrischen Lichtes, und die Kältewellen legten sich schneidend um unser Zelt. Draußen hatten sich Tsering, Rabsang, Rehim Ali und Bolu unter ihrer ganzen Habe in einen Klumpen zusammengeballt. Solange ich wach war, hörte ich den unverwüstlichen Tsering aus der Tiefe ihrer Pelzhöhle Räubergeschichten erzählen, und die anderen ließen dann und wann ein unterirdisches Kichern hören. Merkwürdige Kerle, diese Ladakis! Keine Kälte scheint ihnen etwas anhaben zu können, während ich in meinem Zelt nur minutenlang schlafen kann.

Unheimliche, grimmige Nacht in Tibets einsamen Gebirgen! Die Kälte sank auf -27,4 Grad, und das war den beiden Mauleseln, die man uns zurückgelassen hatte, zuviel. Der eine verendete schon um Mitternacht; es war das Tier, das Sonam Tsering schon am ersten Tag als unbrauchbar nach Leh hatte zurückschicken wollen. Wir versuchten damals, den Maulesel gegen ein Pferd zu vertauschen, aber da ihn niemand haben wollte, durfte er schließlich mitkommen. Er war daher gewöhnt, mit den Pferden zu marschieren und blieb später immer mit ihnen zusammen. Zur allgemeinen Verwunderung erholte er sich aber und ging stets an der Spitze, ein gutes Beispiel für die Pferde. Jetzt lag er kalt und hart wie Holz da, mit von sich gestreckten Beinen; hätte man ihn aufgerichtet, er wäre so stehen geblieben (Abb. 80). Sonam Tsering weinte, als er erfuhr, daß das Tier uns verlassen habe.

siehe Bildunterschrift

80. Rettungslos verloren.

Den anderen Maulesel hatte man noch in der Nacht umhergehen und am Yakgrase knabbern hören, das jedoch für andere Tiere als die Yaks zu kurz ist; die Yakzunge ist mit hörnernen Widerhaken versehen, mit denen sie das feine, samtartige Gras abraufen. Frühmorgens hörte ich den Esel schreien, und war froh, daß wenigstens einer noch lebte. Als aber die Sonne aufging, war auch seine Kraft zu Ende, und als Tsering mich weckte, sagte er, das Tier sei dem Tode nahe. Es sah freilich gesund und wohlgenährt aus, aber als wir vergeblich versucht hatten, es aufzurichten und ihm Mais zu geben, wurde es den Göttern dieses Todestales geopfert. Es rührte kein Glied, zuckte nicht einmal mit den Wimpern, als der rote Blutstrahl über den Schnee spritzte; es schien nur ein wohliges Gefühl unendlicher Ruhe und Ergebung zu empfinden, während sein Blick klar auf die Sonne gerichtet war.

Als wir gerade aus diesem scheußlichen Lager aufbrechen wollten, kam eine neue Hiobspost. Tundup Sonam erschien, um uns den Weg zu zeigen, und berichtete, daß die Pferdekarawane sich zu weit nach links verirrt habe, während die Maulesel unter Muhamed Isa nach der entgegengesetzten Richtung geraten seien; Muhamed Isa sei aber, sobald er seinen Irrtum bemerkt habe, in das erste beste Tal hinabgestiegen, um dort die Morgendämmerung zu erwarten. Von der Schafherde wußte Tundup Sonam nur, daß sie anfangs der Pferdespur gefolgt sei, nachher aber sich verlaufen habe. Überall herrschte größter Wirrwarr, aber mit dem Schlimmsten rückte Sonam Tsering erst zuletzt heraus: über Nacht waren noch vier Maulesel verendet!

Meine Lage war verzweifelt. Lange konnte es so nicht weitergehen; wir näherten uns einer Krisis. Terrain, Wetter und Kälte waren unsere Gegner, die Tiere starben massenweise, und bis zu den nächsten Nomaden konnte es noch trostlos weit sein. Was lag mir jetzt daran, ob die Tibeter feindlich oder freundlich sein würden; jetzt hieß es nur: werden wir überhaupt imstande sein, uns nach bewohnten Gegenden hinzuschleppen? Denn wenn es mit diesen Verlusten noch einige Tage weiterging, waren wir bald gezwungen, das ganze Gepäck im Stich zu lassen und zu Fuß weiterzuziehen. Konnten wir selbst aber soviel Proviant tragen, wie wir in diesen unbewohnten Gegenden gebrauchten? Sollten wir der Reihe nach in dieser eisigen Bergwüste des tibetischen Hochlandes zusammenbrechen? Und wenn wir schließlich in elendem, halbtotem Zustand mit Tibetern zusammentrafen, konnten sie mit uns machen was sie wollten. Jedenfalls würden wir uns freien Durchzug nach Schigatse und dem unbekannten Land im Norden des Tsangpo, dem Ziel aller meiner sehnsüchtigen Träume, nicht erzwingen können!

Eine Reise in der Diagonale durch ganz Tibet sieht auf der Karte elegant und bequem aus. In Wirklichkeit aber ist sie ernst und schwierig, sie kostet Leiden, Aufregung und Tränen. Die sich schlängelnde Linie ist auf der Karte rot angegeben, weil sie in Wirklichkeit mit Blut gezeichnet ist! –

Von Tundup Sonam geleitet, brachen wir auf, und es stellte sich bald heraus, daß wir ohne ihn nie den Weg gefunden hätten. Aufwärts und abwärts, über Hügel und durch Täler ging es in diesem tückischen Labyrinth, wo die hohe Schneedecke alles nivellierte und in der Schätzung der steilen Abhänge völlig irreführte. Die Spur der Pferde hatten wir links liegen lassen; dort stand eine zurückgelassene Maislast, aber Tundup Sonam versicherte, sie solle noch geholt werden! Rechts zeigte sich das hohe Terrain, auf dem sich die Maulesel in der Nacht verirrt und unnötigerweise ruiniert hatten. Auch jetzt noch fuhr eisiger Südwestwind über die nachtkalten Schneefelder. Von Zeit zu Zeit richtete Tundup Sonam eine Schieferplatte auf, die Tsering, der ohne Wegweiser als letzter kam, als Wegzeichen dienen sollte.

Jetzt kreuzten wir die Spur der Maulesel und sahen das Tal, wo sie die Nacht zugebracht hatten. »Da am Abhang liegt ein Maulesel,« sagte Tundup Sonam, »und hinter dem Hügel zwei, noch weiter weg dann der vierte.« Von unserem Weg aus konnten wir sie nicht sehen, aber die Raben, die, schläfrig und satt, hier Rast hielten, bestätigten seine Angaben.

Endlich erreichten wir den Paß, von dem aus wir die Ebene und einen kleinen See im Südosten erblickten. Die Höhe betrug 5501 Meter! Um ein Uhr hatten wir 10 Grad Kälte; es wehte heftig und schneite so dicht, daß die Aussicht wieder verschwand. Wir blieben keine Minute länger oben, als zu den Messungen erforderlich war, und ritten nun steil abwärts. Bei dem ersten Grase rasteten wir, die Pferde waren wie toll, als sie es sahen; ihr Magen war ja auch ganz leer.

Auf einer Anhöhe sahen wir jetzt fünf Männer. Es waren Muhamed Isa und vier Begleiter, die sich aufgemacht hatten, um die Vermißten: 14 Pferde, 8 Mann, 16 Schafe und 2 Hunde, zu suchen! Wir konnten ihnen mitteilen, daß die Spur nordöstlicher führe, und nachdem sie uns über den Lagerplatz der Maulesel Bescheid gesagt hatten, verschwanden sie wieder im Schneetreiben. Nachdem wir lange vergeblich nach Spuren gesucht und nach dem Rauch des Lagerfeuers ausgespäht hatten, machten wir auf dem ebenen Plateau halt, da die Weide dort gut war, und sammelten Dung zu einem Feuer – es war hohe Zeit, denn Robert und ich waren vor Kälte halbtot.

Unsere Lage war gar zu traurig. Wir wußten nicht, wo die Maulesel lagerten, und hatten keine Ahnung, wo die Pferde geblieben waren. Die Schafe waren in dieser an Wölfen so reichen Gegend wahrscheinlich verloren. Tsering war hinter uns zurückgeblieben und konnte meine Spur in dem Schneetreiben leicht verlieren. Wir selber konnten nichts weiter tun, als unsere Glieder auftauen. Nachdem wir eine Stunde dagesessen und uns am Feuer einigermaßen erholt hatten, kam der »Lama« über die Ebene und führte uns zu Sonam Tsering, der sich mit den Mauleseln hinter einigen Hügeln gelagert hatte. Der gute Mann weinte verzweifelt über unsere Verluste: Muhamed Isa sei diesmal ein schlechter Lotse gewesen! Neun Maulesel waren verendet innerhalb weniger Stunden in diesen schrecklichen Bergen, die wahrscheinlich die westliche Fortsetzung des Systems bilden, das die weiter östlich wohnenden Mongolen Buka-magna, den »Kopf des wilden Yaks«, nennen. Zwanzig Maulesel waren noch da, aber zwei von ihnen waren schon zum Tode verurteilt. Von den 23 vorhandenen Pferden war eines mit Packsattel in einem Hohlweg zurückgelassen worden und jetzt wahrscheinlich schon tot. Als es schon spät am Abend war, hatte erst eine der vermißten Abteilungen, nämlich Tsering, etwas von sich hören lassen.

Daher war es selbstverständlich, daß wir im Lager Nr. 47 einen Ruhetag haben mußten. Als der Tag anbrach, weckten mich blökende Schafe! Ihr Hirte war zwar anfangs der Spur der Pferde gefolgt, hatte sie aber bald verlassen, als er merkte, daß die Maulesel fehlten, und angefangen, auf eigenes Risiko nach der Spur der letzteren zu suchen. In der Dunkelheit hatte er sich total verirrt, und in einem Paß hatte eines der Schafe sich geweigert, weiterzugehen. Er hatte es nun eine Strecke weit getragen, aber da er bald gefunden, daß es steif und kalt wurde, hatte er es als tot fortgeworfen. Bange vor dem nächtlichen Dunkel und den Wölfen hatte er sich in eine Schlucht geflüchtet, die Schafe und die Ziegen im Kreis aneinandergebunden und sich in die Mitte gesetzt, um warm zu bleiben und nach Wölfen Ausschau zu halten. Diese hatten es jedoch nicht gewagt, ihn anzugreifen. In der Morgendämmerung hatte er eine der vielen Spuren, die nach dem Lager Nr. 47 führten, gefunden.

Am Vormittag tauchten dann noch zwei der vermißten Männer, Kisten tragend, im Lager auf. Ein Pferd war also zurückgelassen worden. Islam Ahun, der die Pferdekarawane geführt hatte, war jedoch so klug gewesen, auf dem kürzesten Weg nach dem kleinen See hinunterzuziehen, und hatte dort bei guter Weide gelagert. Muhamed Isa und seine Begleiter hatten sich in der Nacht verirrt, an einem Feuer geschlafen und nichts weiter zu essen und zu trinken gehabt als Schnee. Aber auch sie fanden sich wieder zu uns hin, und so waren denn die Trümmer der Karawane wieder an einer Stelle vereinigt.

Hier wurde nun alles ausgesondert, was sich entbehren ließ: Säcke, Beutel, Stricke, Hufeisen, Werkzeuge und Küchengeschirr; Kisten wurden verbrannt, nachdem wir ihren Inhalt in andere verstaut hatten, niemand durfte die Karawane mit unnötigen Dingen beschweren. Das Kassierte bildete einen großen Haufen, und wir befreiten uns dadurch von zwei Pferdelasten. Dann machten wir einen Überschlag und fanden, daß wir mit dem Boot noch 32 Lasten hatten. Wir besaßen 20 Maulesel, von denen es mit zweien zu Ende ging, und 21 Pferde mit ebenfalls zwei Todeskandidaten, also 37 gebrauchsfähige Tiere; nur Robert und ich durften noch reiten; wir hatten also noch drei ledige Pferde, aber die Lasten wurden am Abend so verteilt, daß alle Tiere, außer den vier kümmerlichen, etwas zu tragen bekamen. Vier Tiere sollten mit Mais und Gerste beladen werden, der Reis machte noch sieben Lasten aus, das Mehl fünf, das Brot eine, aber die Butter, die die Ladakis zu ihrem Tee gebrauchten, nur noch eine halbe. Wir glaubten, daß wir mit dem Mehl noch einen Monat auskommen würden; vom Reisvorrat sollten fünf Lasten den Tieren geopfert werden, und ich ermahnte alle Leute, die Veteranen mit der größten Sorgfalt zu pflegen. Tundup Sonam schoß drei Antilopen, als der Fleischvorrat gerade zu Ende ging. Einige Ladakis mußten sie zerlegen, und abends, als sie mit der Beute heimkehrten, hörte man ihren Wechselgesang – dasselbe Lied, das sie singen, wenn sie daheim in Ladak ein »Dandy«, eine gewöhnliche Last, tragen. Eine der Antilopen war jedoch, ehe sie hatte geholt werden können, ganz und gar von Wölfen aufgefressen worden.

Im nächsten Lager beschlossen wir, ein paar Tage zu ruhen, und Tundup Sonam übernahm es, uns zu einem im Osten liegenden kleinen See zu führen, an dem außergewöhnlich gutes Gras wuchs.

In der Nacht zum 24. Oktober starben noch ein Pferd und zwei Maulesel; wir hatten also jetzt nur noch 38 Tiere. »Die kräftigsten sind noch am Leben«, sagte Muhamed Isa wie gewöhnlich!

Im Norden zog sich das hohe Gebirgssystem hin, das uns so viele Leiden verursacht hatte; man sah seine Kämme sich nach Osten weiterziehen. Über ebenen Boden hinweg erreichten wir nach kurzem Marsch den kleinen runden See, der fest zugefroren und von gelbglänzenden Weideplätzen umgeben war. Wasser lieferte uns eine Quelle, die ein kleines zugefrorenes Bassin bildete; aus einem in das Eis gehauenen Loch konnten die Tiere saufen, soviel sie wollten; seit drei Tagen hatten sie kein Wasser erhalten. Der sandige Boden war jetzt so hart gefroren, daß die eisernen Zeltpflöcke sich krümmten, als sie in die Erde geschlagen wurden! Der Himmel war bewölkt und es wehte heftig, aber nach Ostsüdost hin sah das Terrain vorteilhaft aus. Die vier Zelte standen in einer Reihe, meins aber auf der Windseite, so daß ich nicht unter dem Rauch der anderen Feuer zu leiden hatte.

Um zehn Uhr abends flog in herrlichem, silberweißem Mondschein eine Schar Wildgänse über unser Lager. Sie strichen ganz tief und schnatterten die ganze Zeit über. Wahrscheinlich hatten sie an der Quelle Rast halten wollen, zogen nun aber, als sie den Platz besetzt sahen, weiter. »Die Erde ist hell beleuchtet, wir werden in kurzer Zeit daher die nächste Quelle erreichen.« Man konnte sich denken, daß dies der Inhalt der Unterhaltung war, die die Leitgans mit den anderen führte. Gewiß hatte sie schon bei Sonnenuntergang ihre Befehle ausgeteilt und gesagt: »Heute Nacht bleiben wir an der Quelle am Ufer des kleinen Sees, wo wir im letzten Frühling gerastet haben.« Alle waren einverstanden gewesen, und die im Keil fliegende Schar hatte sich allmählich immer tiefer auf die Erde herabgesenkt. Als sie aber über die Hügel, welche die Stelle noch verdeckten, hinübergekommen waren und den zugefrorenen See im Mondschein wie einen Spiegel hatten blinken sehen, hatte die Leitgans gerufen: »Menschen! So nahe bei Zelten und Feuern können wir nicht bleiben! Heben wir uns wieder und fliegen weiter!« und alle aus der Schar hatten geantwortet: »Wir können an der nächsten Quelle rasten, in dem Tal hinter den Hügeln im Süden.« Das war die Unterhaltung, die ich über meinem Zelte hörte, als im Lager schon alles still war. Vielleicht drehte sich das lebhafte Geschnatter auch um etwas anderes, aber ich glaube doch, daß ich die Wildgänse richtig verstanden habe. Denn daß sie auf ihren langen Reisen Beratungen halten und ihre Pläne diskutieren, ist ganz sicher. Und warum sollten nicht auch sie mit Intelligenz ausgerüstet sein? Warum sollten sie nur wie seelenlose Flugmaschinen aufs Geratewohl drauflosfliegen? Sie sind in ebenso hohem Grade wie wir von der Erde und den Winden abhängig. Legen sie an einem klaren, windstillen Tag 200 Kilometer zurück, so müssen sie zu derselben Entfernung längere Zeit gebrauchen, wenn Sturm und Gegenwind herrschen. Daher können sie nicht jedes Jahr die Nächte an denselben Quellen auf ihrem Strich zubringen, sondern müssen ihre Entschlüsse von den Umständen abhängen lassen. Aber auf der Linie, welche diese selben Wildgänse alljährlich zweimal zurücklegen, kennen sie jede einzelne Quelle, und wenn sie müde sind, lassen sie sich an der nieder, die sie gerade vor sich sehen. Auf meinen Reisen in verschiedenen Teilen Tibets bin ich zu der Überzeugung gelangt, daß dieselben Gesellschaften oder Nationen der Wildgänse, die seit Generationen an denselben Wasserläufen Turkestans gebrütet haben, auch stets denselben Flugbahnen durch Tibet folgen. Die Gänse, die wir jetzt sahen, kamen, sagen wir, von einem der Uferseen des Tarim unterhalb Schah-jar und beabsichtigten, den Winter vielleicht in der Gegend von Katmandu, der Hauptstadt von Nepal, zuzubringen. Im Frühling kehren sie wieder nach den Tarimseen zurück und folgen dann genau derselben Bahn wie jetzt im Herbst, und so Jahr für Jahr. Die Jungen, die am Tarim geboren sind, machen im Herbst die Reise über das Gebirge zum erstenmal; im darauffolgenden Herbst erinnern sie sich des Weges, und später kommt die Zeit, da sie selber ihre Jungen über die Lage der Quellen unterrichten. Die Kenntnis des Weges verliert sich daher nie bei dem Geschlecht, und die Leitgänse würden nie auf den seltsamen Gedanken verfallen, es einmal auf einer anderen Bahn zu versuchen. Wir hatten bereits bei mehreren Gelegenheiten Wildgänse südwärts fliegen sehen, aber sie waren sicher anderen Straßen gefolgt, kamen von anderen Brutplätzen und hatten andere Ziele. Sie gehörten anderen Nationen an. Wenn es überhaupt möglich wäre, in eine Karte von Tibet alle die Striche der verschiedenen Gänsenationen einzuzeichnen, so würde sie ein ganzes System mehr oder weniger meridionaler Linien aufweisen. Vielleicht verschmelzen manche dieser Linien teilweise miteinander, wie man es an der feinen Kräuselung auf der Oberfläche einer Sanddüne sieht. Vielleicht geht hin und wieder eine Linie stark im Zickzack. Man kann dann annehmen, daß sie so in grauester Vorzeit gezogen worden ist, als die Stammväter jener Nation sich den Weg von einer Quelle zur anderen erst gesucht haben. Jede Nation zerfällt in eine Menge Genossenschaften und jede Genossenschaft in Familien. Wahrscheinlich sind alle Gänse einer Genossenschaft nahe miteinander verwandt. Jede Genossenschaft bleibt auf der Reise zusammen; aber wie wählt sie ihren Führer? Vermutlich fliegt die älteste Gans der Schar an der Spitze, denn sie muß ja die reichste Erfahrung haben, und wenn sie stirbt, wird die zweitälteste selbstverständlich ihre Nachfolgerin. Ich liebe die Wildgänse und bewundere ihre Klugheit und ihren ungeheuer feinen Ortssinn.

Im Lager Nr. 48 lagen wir drei ganze Tage still, und der Südwestwind heulte unablässig: »Geduld, Geduld!« Mir vergingen die Tage recht langsam, aber den Tieren war die Ruhe nötig. Am ersten Morgen lag das Pferd Nr. 39 tot auf der Weide und wurde mit derselben Nummer in die Totenliste eingetragen!

Die Wölfe waren zudringlich und heulten unmittelbar außerhalb des Lagers, aber sie wurden höflicher, nachdem Tundup einen Isegrimm geschossen hatte, der aufs Eis lief und sich dann mitten auf dem See zum Sterben hinlegte. Der Schurke erhielt bald Gesellschaft an einem Raben, der schon darauf verfallen war, die lebenden Pferde an den Mähnen zu zupfen und sie im Grasen zu stören. Schon abends um 9 Uhr hatten wir – 21,1 Grad und nachts – 28,1 Grad!

Am Morgen meldete Muhamed Isa, daß unsere Dungsammler etwas entdeckt hätten, das sie als die Ruinen einiger Steinhäuser bezeichneten. Ich begab mich mit Robert sogleich dorthin. Es stellte sich heraus, daß es wirklich drei viereckige, aus Schieferplatten aufgeführte Steinmauern waren, vielleicht uralt. Denn sie guckten kaum noch über den Erdboden, und beim Nachgraben fanden wir, daß sie einen guten Meter tief begannen. Wahrscheinlich hatten sie nur Grundmauer und Windschirm für dauernd aufgeschlagene Zelte gebildet, denn solche Mauern sollten wir später bei mehreren Gelegenheiten sehen. Von einer Feuerstelle keine Spur. Die Ladakis, die viel in Westtibet umhergereist waren, glaubten, der Platz sei früher einmal der ständige Aufenthalt einiger Tschangpas gewesen, die sich ihren Steuerpflichten gegen den Devaschung, die Regierung in Lhasa, hätten entziehen wollen.

Jedenfalls hatte dieser Fund eine sehr aufmunternde Wirkung auf uns! Seit 65 Tagen hatten wir keine Menschen gesehen, und jetzt fanden wir das erste Zeichen, das auf ihre Nähe deutete. Wir fühlten uns neubelebt, und der Märchenerzähler in Muhamed Isas Zelt war am Abend unermüdlicher als je zuvor. Er sang ein Lied, in dessen Refrain alle einstimmten. Jetzt galt es, das vor uns liegende Land mit gespannter Aufmerksamkeit zu beobachten, denn dieser ersten Menschenspur mußten sicherlich andere folgen.

Bei heftigstem Südweststurm zog die Karawane am 28. Oktober nach Ostsüdost weiter. Ein Maulesel war über Nacht gestorben; wir besaßen also noch 36 Lasttiere, aber seit der letzten Musterung war der Proviant um beinahe drei Lasten zusammengeschrumpft. Auch in diesem Lager wurden wieder überflüssige Sachen zurückgelassen. Ich selber warf den Roman »Sonja« von Bücher-Clausen fort. Robert und ich saßen am Morgenfeuer, während die Männer unsere Pferde sattelten, und ich amüsierte mich damit, ein Blatt nach dem anderen aus dem Buche zu reißen und so den ganzen Schmöker in die Luft zu werfen, wo der Wind die fliegenden Blätter mit verzweifelter Schnelligkeit nach Nordosten jagte. Die zehn Raben zerbrachen sich den Kopf darüber, was dies wohl für eine neue Art fliegendes Vieh sei, zogen sich aber nur wenig davor zurück, auch die Hunde gaben den Versuch, die Blätter zu verfolgen, bald wieder auf. Nur eines der Packpferde Tserings war so verdutzt, daß es scheu wurde, durchging und die Hügel hinaufjagte, wo es erst nach einer guten halben Stunde wieder eingefangen wurde. Unterdessen fuhr »Sonja« fort, über Berg und Tal zu flattern, und das gönnte ich ihr, denn ich hatte mich am letzten Abend darüber geärgert, daß sie ihren gutmütigen Gatten verließ. Wann und wo mochten diese gejagten Blätter wohl Ruhe finden, nachdem sie über endlose Strecken unbekannten Landes hingeflogen? Sicherlich hat selten ein Buch »eine so weite Verbreitung gefunden!«

Zwischen niedrigen Bergen folgten wir in einem offenen flachen Tal der Spur der Karawane. Nachdem wir einige Stunden geritten, waren wir so durchkältet, daß wir in einem Hohlweg haltmachen und Feuer anzünden mußten. Mein kleines, weißes Ladakipferd war in vorzüglichem Zustand; es nahm die Kälte, wie die anderen Widerwärtigkeiten mit erhabener Ruhe hin. Der große Apfelschimmel, den ich seit Leh ritt, war gewöhnlich dienstfrei, weil er Anzeichen von Erschöpfung zeigte. Beim heutigen Lager gab es kein Wasser, nur Schnee in einer Schlucht. Trotzdem waren wir in heiterster Stimmung, denn die Leute hatten an zwei Plätzen Feuerstellen gesehen aus drei quergestellten Steinen, die zum Tragen eines Kessels bestimmt waren. Es mußte aber schon lange her sein, seit sie benutzt worden waren, denn man hatte weder Asche noch Ruß zwischen ihnen entdeckt. Auch eine eiserne Kelle wurde gefunden, von der Art, wie die Tibeter sie benutzen, aus Blei Kugeln zu gießen. Also hatten sich entweder Räuber oder Jäger hier früher einmal aufgehalten!


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