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Der 9. Februar brach an, der große Tag, an dem unsere jetzt in sehnsuchtsvolle Pilger verwandelte Karawane das Ziel ihrer Träume erreichen sollte! Der gestrige Tag war stürmisch gewesen, und am Abend herrschte eine seltsame, rotgelbe Beleuchtung im Tal von all dem Staub, der in der Luft umherschwebte; die Berge zeichneten sich nur undeutlich ab, und im Osten war kein Horizont zu sehen. Aber der Morgen war herrlich, und der Tag blieb windstill. Schon in aller Frühe mußten Sonam Tsering und einige Ladakis sich mit einem Teil der Bagage in zwei Booten einschiffen, während Muhamed Isa und Tsering mit der Karawane auf der Landstraße weiterzogen. Das war eine Kriegslist, die wir ersonnen hatten. Wenn im letzten Augenblick noch jemand auftrat, um uns Halt zu gebieten, so würde das Verbot nur Muhamed Isa und die Karawane treffen, während ich mich auf dem Flusse unbemerkt in Schigatse würde einschleichen können.
Alle anderen waren schon unterwegs, als Robert, Rabsang und ich in einer steilen, schluchtähnlichen Rinne die Terrasse hinunterrutschten und das vorzügliche Fahrzeug, das uns den heiligen Fluß hinabtragen sollte, bestiegen. Diese Tsangpoboote (Abb. 102) sind ebenso einfach wie praktisch. Man denke sich ein Gerippe, oder vielmehr ein Gestell von dünnen, zähen Ästen und Rippen fest zusammengeschnürt und mit vier aneinander genähten Yakhäuten überspannt, die an einem Holzring, der die Reling bildet, befestigt werden – und das Boot ist fertig! Es ist sehr plump, länglich viereckig, aber vorn etwas schmäler als hinten. Schwer ist es nicht, es bildet eine gewöhnliche Manneslast. Alle Boote, die jetzt mit Pilgern zum Neujahrsfest flußabwärts gingen, und die Boote, die landwirtschaftliche Produkte oder Brennmaterial nach Schigatse und Taschi-lunpo befördern, werden von ihren Besitzern längs des Flußufers wieder zurückgetragen. Ein großer Teil der Bevölkerung Hlindug-lings, des Teiles von Tanak, wo wir gelagert hatten, erwirbt sich seinen Unterhalt durch solchen Transport. Aber Tragkraft besitzen diese Boote; in meinem waren wir vier Mann, und es hätte eine noch viel stärkere Belastung ertragen können.
102. Fellboote aus dem Tsangpo.
Der Ruderer sitzt auf einem dünnen Brett und rudert die ganze Zeit, aber verkehrt herum, so daß das Hinterende vorangeht, denn er muß ja das Fahrwasser flußabwärts übersehen können. Die Ruder sind unten wie eine Gabel gespalten, zwischen den beiden Zinken aber ein Stück Leder festgenäht, das an die Schwimmhäute der Ente erinnert. Unser Ruderer ist ein selbstbewußtes Kerlchen und beantwortet meine Ratschläge nur durch überlegenes Lächeln, sobald ich mich mit meiner Erfahrung in der Flußnavigation mausig mache. Die Strömung tut das meiste, aber um das Boot in der Gewalt zu behalten, läßt er die Ruder nie ruhen.
Die ersten Minuten gleiten wir langsam dahin, bis an das Dorf Segre, dessen weiße, reinliche und feine Häuser malerisch auf dem linken Ufer liegen, und dann noch eine Strecke weiter, bis der Fluß einen steilen Ausläufer des Gebirges bespült. Dann aber wird die Fahrgeschwindigkeit größer und beträgt durchschnittlich 1¼ Meter in der Sekunde. Ich konnte ungehindert den Fluß hinabschauen, stellte die Zeiten fest, machte meine Peilungen, maß die Geschwindigkeiten und zeichnete eine Karte des Flußlaufes, ganz wie einst auf dem Tarim. Katarakte passierten wir nicht, wohl aber in engen, eingezwängten Armen einige Stellen, wo das Wasser kleine Stromschnellen bildete und an den Biegungen brauste. Es war eine herrliche Fahrt, die schönste, die ich erlebt habe! Die letzte Tagereise hätte nicht eleganter zurückgelegt werden können; in Tibet, dessen Natur uns bisher eitel Hindernisse in den Weg gelegt hatte, wurden wir jetzt von einer Naturkraft vorwärtsgetrieben. Ein halbes Jahr lang hatten wir unter unaufhörlichen Verlusten uns diagonal durch Tschang-tang hindurch gearbeitet, jetzt standen mir die Pforten weit offen, und lautlos und gleichmäßig wie auf Öl glitt ich meinem Ziel entgegen. Eines der größten Erosionstäler der Erde breitete um uns sein großartiges Panorama aus, die Luft war so still, daß nicht einmal die schwächste Kräuselung sich auf der Wasserfläche des Tsangpo zeigte. Ungestört von den Winden des Himmels konnte das smaragdgrüne Wasser sich den lautlos spielenden Wirbeln überlassen, die an Vorsprüngen und Landspitzen entstehen, um sich dann in eiligem Tanz flußabwärts zu ringeln, immer weitere Kreise zu ziehen und schließlich ganz zu verschwinden. Sie werden geboren und sterben, kommen und gehen, und dieselbe Landspitze erweckt an Stelle der alten stets neue zum Leben, aber jeder neue Wirbel senkt seine Spirale in anderes Wasser des heiligen Flusses, der den Weg nach dem geheimnisvollen Engpaß Dihong schon seit unzähligen Jahrtausenden kennt.
Welch ein berauschender Genuß, sich vom Tsangpo ostwärts tragen zu lassen! Ob der Fluß auch zu Tibets »verbotenen Pfaden« gehört?! Ja, wenn sie jetzt kommen und mich anhalten, erwidere ich: »Ich bin nicht in Tibet, meine Füße betreten den Boden Tibets nicht, ich bin auf dem heiligen Flusse der Hindus, laßt mich in Ruhe!« Die Landschaft verändert sich in geradezu verwirrender Weise unaufhörlich vor unseren Blicken; eben haben wir eine schwarze Felswand vor uns; bei der nächsten Biegung ist sie verschwunden, und eine andere ist auf der entgegengesetzten Talseite an ihre Stelle getreten. Man fragt sich manchmal, was hier eigentlich oben und unten sei; wir scheinen stillzustehen, das Panorama aber horizontal zu schwingen und zu pendeln. Robert ist in Gedanken versunken, er sieht über die Reling und ruft, durch das Wasser und die Eisschollen, die uns Gesellschaft leisten, irregeführt, erstaunt: »Aber, Master, wir liegen ja still!«
»Sieh dir die Sandbank dort links an«, sage ich, und er ist ganz verdutzt, daß sie talaufwärts eilt. Und blickt man da, wo der Fluß seicht ist, auf den Grund hinunter, so hat es wieder den Anschein, als eilten der Kies und die rundgeschliffenen Steine und die Sandbänke unter dem Boot bergaufwärts. Ich versinke auf dieser märchenhaften Fahrt in Träumerei. Mich überschleicht ein Gedanke: soll ich bis an die Mündung des Ki-tschu weiterfahren und von dort zu Fuß nach Lhasa hinaufgehen? Wir können nachts gehen und uns den Tag über verstecken; Tibetisch ist Rabsangs Muttersprache. Aber der Gedanke zerrinnt ebenso schnell wie ein Wasserwirbel an den Seiten des Bootes. In Lhasa habe ich nichts zu gewinnen, was über die Eroberungen, die Younghusbands Expedition vor zwei Jahren gemacht hat, hinausgeht; meine Hoffnung ist auf die Freundschaft des Taschi-Lama gestellt. Auf dem Sela-la hatte ich Geschmack am Transhimalaja gewonnen, und auf der ganzen Erde erschien mir kein geographisches Problem so verlockend wie dieses. Alles, was ich noch späterhin unternehmen würde, sollte darauf ausgehen, den Transhimalaja so gründlich für die Wissenschaft zu erobern, wie es einem einzelnen Manne während einer einzigen Reise nur möglich wäre. Ja, diese Aufgabe war so überwältigend groß, daß in ihrem Schatten meine frühere Sehnsucht nach Lhasa erstarb, wie das Abendrot im Tsangpotal, in dem riesenhaften Säulengang aus festem Granit, dieser königlichen Straße Buddhas, die, das Gebirge durchbrechend und im fernen Osten undeutlich verschwimmend, direkt zum Eingang des Tales von Lhasa hinführt und auf deren Boden von flüssigem Smaragd wir jetzt in der Richtung der heiligsten Stadt des Lamaismus hinglitten. Verführerisch und verlockend wie Elfenreigen zog die Strömung meine Gedanken mit sich nach Osten, aber sie erweckte in mir auch neue Pläne zu neuen Feldzügen in Gegenden, die bisher nicht innerhalb meiner Interessensphäre gelegen hatten. In den Tälern, die dem My-tschu ihren Wassertribut gaben, hatte ich mehr als einmal von dem Raga-tsangpo Nain Sings gehört, den einige Tibeter als mindestens ebenso bedeutend wie den Tsangpo geschildert hatten. War der Raga-tsangpo vielleicht der wirkliche Hauptfluß? Hatte er vielleicht Nebenflüsse, die ihr Wasser aus dem Herzen jenes geheimnisvollen Landes im Norden erhielten? Während des ganzen Winters war kein Abend vergangen, an dem nicht Ryders und Nain Sings Karten meine Aufmerksamkeit stundenlang gefesselt hatten. Stand es denn wirklich fest, wo die Quelle des Brahmaputra lag? Hatte ich nicht noch eine Aufgabe zu lösen, unendlich viel feiner, als die, in der Fußspur »Tommy Atkins'«, des englischen Soldaten, nach Lhasa zu ziehen? Die in der Sonne glitzernden Wellen, die unser Boot auf ihrem Rücken trugen, brachten mir verständliche Botschaften aus zahllosen Talschluchten, von dem abschmelzenden Saum ewiger Firnfelder, von bläulichen Gletschern und grünen Gletschergrotten in den himmelhohen Kämmen des Himalaja, ja ein verhallendes Echo aus jenem Tal, wo die Quelle des Brahmaputra rieselnd aus dem Gestein hervorsprudelt!
Aber die Zukunftsträume dürfen uns die Anforderungen der Gegenwart nicht vergessen lassen. Taschi-lunpos goldene Götter erwarten uns zum Fest! Bald verschmälert sich der Fluß und wird tief, und sein Grund ist nicht mehr sichtbar, bald erweitert er sich, und die Fahrgeschwindigkeit nimmt ab. Unterhalb des Dorfes Pani, wo ein Tal mündet, macht der Fluß eine Biegung nach Südost, aber nur, um wieder nach Osten abzubiegen, wobei er das gewaltige Sommerbett durchschneidet, das beinahe das ganze Areal des Talgrundes unter Wasser setzt. Nur selten fahren wir an einem höheren, merklicher mit Gras bewachsenen Ufer, das nicht vom Hochwasser überschwemmt ist, vorüber. Von Zeit zu Zeit schickt der Fluß einen Seitenarm aus, der sich aber bald wieder mit dem Hauptbett vereinigt. Auf den Ufern stehen Wildgänse, die schreien, wenn wir vorbeifahren; schwarze und weiße Enten, Reiher und andere Wasservögel sind furchtlos und zutraulich, als wüßten sie ganz genau, daß es strenge verboten ist, in Taschi-lunpo einem lebenden Wesen das Lebenslicht auszublasen.
Gerade als wir Tanak verließen, fuhr ein Dutzend Boote am Dorf vorbei; einige waren paarweise zusammengebunden, wodurch sie vor dem Umschlagen gesichert werden. Die Insassen waren Pilger aus weiter aufwärts liegenden Dörfern, die sich zum Neujahrsfest begaben. Dort saßen Frauen in ihren zierlichsten Festgewändern mit Halsbändern von bunten Glasperlen, an denen Silberdöschen mit kleinen Götterbildern und Reliquien oder Silbermünzen hingen, und mit den hohen Bogengestellen im Nacken, die mit rotem Wollenstoff überzogen und mit Türkisen und Korallen besetzt sind. Da saßen Greise, Männer und Knaben, und auch ein paar Lamas hatten sich in ihren roten Togen der weltlichen Gesellschaft angeschlossen. Die meisten Boote trugen kleine Gebetswimpel an Gerten, die an der Reling festgebunden waren, und über die Reling hingen kleine Reliquiendosen herab – um der Bootreise der Pilger Segen zu bringen. In einigen Booten hatten sie Sand ausgestreut und Steinplatten hineingelegt, um Feuer anzünden und Tee kochen zu können. Uns schenkten sie wenig Aufmerksamkeit; sie plauderten und schwatzten unaufhörlich und amüsierten sich ausgezeichnet. Man sah, daß die Passagiere einiger Boote gut miteinander bekannt und aus demselben Dorfe zusammen abgefahren waren. Alle Boote, die es am Flusse gab, waren an einem solchen Tage in Anspruch genommen, eine ununterbrochene Reihe von Pilgern strömte auf dem Wasserweg nach dem heiligen Kloster hin. Wo die Ufer flach waren, sahen wir diese kleinen, schwarzen Punkte stromaufwärts und stromabwärts.
Wir treiben an einer Sandbank vorbei, auf der sich einige Eisschollen festgefahren haben, um uns als Warnung zu dienen. Nur ein paarmal schrammt das Boot auf den Grund; unser Ruderer ist aufmerksam und steuert sicher. Er kennt auch den Weg – und hier ist es nicht so leicht, als man glauben sollte, den Weg zu finden. Denn der Fluß teilt sich in Arme, und nur ein mit ihnen allen vertrauter Ruderer weiß, welcher der beste und der kürzeste ist. Es kommt auch vor, daß er uns in einen engen Kanal hineinführt, wo wir in sausender Fahrt dahingleiten.
Jetzt wendet sich der Fluß der rechten, südlichen Talseite zu, wo das Gebirge jäh nach dem Wasser abstürzt und nur soviel Platz am Ufer läßt, daß sich ein gemauerter, durch Steinblöcke befestigter Weg am Ufer entlangziehen kann. Dort gingen wohl ein Dutzend Ruderer, die ihre Fellboote auf dem Rücken trugen, von hinten gesehen einer Reihe riesiger Käfer gleichend. Und nach der anderen Seite wurden Eselkarawanen getrieben, die Brennholz nach Schigatse brachten. Hier beginnt nun eine Reihe der großartigsten und malerisch wildesten Szenerien, die man sich nur denken kann. Ein Felsvorgebirge nach dem anderen fällt steil nach dem Flusse ab, der leise rauschend seinen Fuß bespült. Manchmal richtet sich eine Scholle in einem Strudel quer auf, erhebt sich über die Wasserfläche und glitzert blendend in der Sonne, bevor sie ihre frühere Lage wieder einnimmt.
Wir warteten auf eine Gelegenheit, um einmal zu landen, aber die Strömung war zu stark. Schließlich gelang es dem Schiffer, uns in eine Gegenströmung hineinzubringen, und ich stieg auf einer Landspitze aus, an der gerade eine Pilgergesellschaft vorbeitrieb, eben zur rechten Zeit, um sie in meiner Kamera festzuhalten (Abb. 103). Sie zerbrachen sich den Kopf über mein Vorhaben, und ihre Unterhaltung verstummte; sie schienen erleichtert aufzuatmen, als sie mit heiler Haut davongekommen waren und sich überzeugt hatten, daß meine Kamera keine Feuerwaffe war! Wohin man sich auch wendet, überall rollen sich neue Motive auf, die so zum Festhalten verlocken, daß man tagelang davorsitzen und zeichnen möchte. Aber jetzt habe ich keine Zeit; es ist mein letzter Tag und ich habe ein viel zu hohes Spiel gewagt, um im letzten Augenblick alles auf eine Karte zu setzen. »Es ist noch weit«, sagt der Schiffer, der uns schon bei der Abfahrt die Spitze gezeigt hat, hinter der das Schigatsetal liegt, von dem wir noch immer weit entfernt sind.
103. Pilger auf der Reise nach Taschi-lunpo.
Nachdem wir wieder in die Mitte des Tales gekommen sind, wird der Fluß breit wie ein See, ist spiegelblank, vornehm und majestätisch, gleitet langsam wie Öl dahin und wirft die Bilder der Berge und der Boote zurück. Die Ausläufer und Vorsprünge des Gebirges auf dem nördlichen Ufer schillern rosig, das sonst grüne Wasser erscheint durch den Widerschein des Himmels blau, alles ist so feierlich still und ruhig! Robert und Rabsang schlafen beide in ihrer Ecke, aber ich kann keine Minute von dieser Pilgerfahrt verlieren. Hier und dort steht ein Steinmal mit wimpelgeschmückten Gerten – es sind die Stellen, wo Wege den Fluß kreuzen. An einer Fähre hatte gerade eine große Yakkarawane haltgemacht, und ihre Lasten Schafwolle wurden am Ufer zu einer Mauer aufgestapelt. Die schwarzen Männer hoben sich vom Hintergrund der gelben Sanddünen scharf ab. Weiter abwärts war Tsering gerade beschäftigt, seine Abteilung in einem Boote unterzubringen, während seine Pferde durch Bitten und Drohungen gezwungen wurden, an Bord eines zweiten zu gehen. Hier überschreitet die große Straße von Tanak den Fluß, und Tsering teilt uns im Vorbeifahren schnell noch mit, daß Muhamed Isa schon weit voraus sei. In einer großen Bucht des Flusses waren zwei Fischerboote mit ihrem Netz bei der Arbeit; die Männer versuchten die Fische durch Steinwürfe in das Netz hineinzujagen; sie hatten einen schlechten Fang gemacht, versprachen uns aber, morgen Fische zum Verkauf nach Schigatse zu bringen. Wieder machen wir eine Biegung nach Südost und nähern uns den Bergen der Südseite, an deren Fuß wir die hübsch zwischen Gärten liegenden Dörfer Tschang-dang, Taschi-gang und Tang-gang passieren. Der Fluß ist jetzt in einer einzigen Rinne gesammelt und fließt sehr langsam, als ob er an der Mündung des Tales, das nach einem Kloster führt, nur vorsichtig vorbeizuströmen wage.
Am Fuß des nächsten Bergvorsprunges herrschte Leben und Bewegung; viele mit Gerste, Stroh, Brennholz und Dung beladene Boote wollten gerade landen, und von andern wurden die Lasten unter Geschrei und Singen gelöscht. Ganze Reihen Boote waren aufs Land gezogen worden und lagen dort mit dem Boden nach oben gekehrt, großen Kröten mit Pelzen vergleichbar. Der Schiffer, der uns nach der Mündung des Njangtales befördert hatte, erhielt das Vierfache der gewöhnlichen Bezahlung und traute kaum seinen Augen – jetzt war er in der Lage, sich morgen einen Ruhetag gönnen zu können.
An dieser eigentümlichen »Landungsbrücke« wartete Guffaru mit unseren Pferden; ich bestieg wieder meinen kleinen weißen Ladaki und Robert seinen rotbraunen Tibeter, und während die Sonne unterging, ritten wir mit Rabsang als Vorläufer das Njangtal hinauf. Bald verliert man sich in eine Landschaft, die aus lauter Hohlwegen und Rinnen in gelbem Lehm besteht. Eines Führers bedürfen wir jedoch nicht, denn verschiedene Wanderer und Eseltreiber sind noch unterwegs; sie geben uns die nötige Auskunft, und keiner ist unhöflich. Ein wenig links von unserem Wege fließt der Njang-tschu, der Fluß von Gyangtse, einer der größeren Nebenflüsse des Tsangpo von Süden her, an dessen Ufern sich mehrere Dörfer zeigen. Es wird dämmerig; ich fühle, wie mein Herz klopft; sollte es wirklich gelingen? Es wird dunkel; ein großer weißer Tschorten erhebt sich wie ein Gespenst unmittelbar rechts von unserer Straße. Rabsang fragt einen nächtlichen Wanderer, wie weit es noch sei, und erhält die Antwort: »Folgt nur dem Weg, dann kommt ihr gleich in eine Gasse.« Zur Rechten erhebt sich ein Hügel, und auf seinem Gipfel zeichnen sich die Umrisse des Schigatse-dsong, des Rathauses, schwach gegen den Himmel ab! Jetzt sind wir zwischen weißen Häusern und folgen einer schmalen Gasse, in der es noch dunkler ist. Auf einem offenen Platz stehen einige Chinesen, die uns angucken. Bissige Hunde kommen aus den Höfen und bellen uns an. Sonst aber liegt die Stadt im Schlaf, und keine Volksversammlung ist Zeuge unseres Einzuges! Wo sind aber die Unseren? Wir wissen nicht, wo sie sich einquartiert haben. Aber da steht auch schon Namgjal, um uns den Weg zu zeigen, und führt uns zum Tor der Mauer, hinter der Kung Guschuks Garten liegt.
Hier kommen uns Muhamed Isa und alle die anderen entgegen und begrüßen uns, als ob sie mir zu dem großen Triumph gratulieren wollten. Wir steigen ab und gehen über den Hof nach dem Hause, das mir Kung Guschuk zur Verfügung gestellt hat. Aber es ist kalt und unfreundlich wie ein Gefängnis, und ich ziehe mein unter den Pappeln des Gartens aufgeschlagenes Zelt vor. Während wir auf Tsering warten, setzen wir uns um ein großes Reisigfeuer, an dem sich nach und nach auch mehrere Tibeter einfinden. Ich schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit, ich war zu sehr von meinen Gedanken in Anspruch genommen. Es war geglückt, und ich hatte nach einer sechsmonatigen Reise durch ganz Tibet mein erstes Ziel erreicht! In später Nacht wurde mein Mittagessen fertig – es war mir sehr willkommen, denn wir hatten auf der Flußreise keinen Proviant gehabt. Und dann hatte ich noch zwei gute Stunden an den während des Tages gemachten Aufzeichnungen zu arbeiten.
Da wurde ich plötzlich durch einen Herrn gestört, der dem weltlichen Stabe des Taschi-Lama angehörte. Er sagte, daß er keinerlei Auftrag habe, doch da ihm eben erzählt worden, daß ein ungewöhnlicher Fremder angelangt sei, bitte er mich um Aufklärung. Und dann schrieb er sämtliche Namen, die Nationalität und die Größe der Karawane auf und erkundigte sich, auf welchem Weg wir gekommen seien, wohin wir zu reisen gedächten und welche Absichten ich mit meinem Besuch in Schigatse verfolge. Er war eitel Artigkeit und hoffte, daß wir unter der Kälte in Tschang-tang nicht gar zu sehr hätten leiden müssen. Er selber sei ein viel zu untergeordneter Beamter, um mit dem Taschi-Lama sprechen zu dürfen, aber er werde das, was er erfahren habe, seinen Vorgesetzten mitteilen. Er ließ jedoch nie wieder etwas von sich hören. Selten habe ich so gut geschlafen wie in dieser Nacht – ja, doch vielleicht, als ich mein Abiturium glücklich hinter mir hatte!
Als der nächste Tag verging, ohne daß jemand, Geistlicher oder Laie, sich auch nur im geringsten um uns kümmerte, schickte ich Muhamed Isa nach Taschi-lunpo hinauf, dessen goldene Dächer im Glanz der Abendsonne auf einem Bergabhang im Westen dicht bei unserem Garten, der in der südlichen Vorstadt Schigatses lag, wie Feuerschein leuchteten. Mein prächtiger Karawanenführer suchte einen hochgestellten Lama auf, der antworten ließ, daß er morgen jemand schicken werde, um über mich und meine Absichten Genaueres zu erfahren, und daß er mir dann weiteren Bescheid zukommen lassen werde. In demselben Augenblick kam Besuch, ein vornehmer Chinese namens Ma. Er stellte sich mir als Chef der »Lansa« oder Truppenmacht von 140 Chinesen vor, die, wie es hieß, in Schigatse in Garnison liegen. Ma, der ein Dungane war und sich zum Islam bekannte, wurde vom ersten Augenblick an mein ganz besonderer Freund, der vor Gemütlichkeit und guter Laune schmunzelte. Vor fünf Tagen war er aus Lhasa hierhergekommen und sollte so lange bleiben, bis der Amban, der Generalgouverneur Lien Darin, ihn wieder abrufen würde.
»Es ist unbegreiflich,« sagte Ma, »wie es Ihnen geglückt ist, nach Schigatse vorzudringen, ohne daß man es verhindert hat.«
»Ja, offen gesagt, hatte auch ich allerlei Scherereien erwartet, und wenn nicht eher, so doch, als ich nur noch einen oder ein paar Tage von hier entfernt war.«
»Ich habe kein Wort von Ihrem Kommen gehört; wenn ich aber gewußt hätte, daß Sie sich der Stadt nähern, so wäre es meine Amtspflicht gewesen, Sie anzuhalten.«
»Dann ist es ja für mich ein Glück, daß Sie hier noch fremd sind.«
»Ja, aber das schlimmste ist, daß es mir schlimm ergehen wird, sowie der Amban hört, daß Sie hier einfach in Schigatse wohnen! Jetzt aber ist es zu spät, jetzt ist nichts mehr zu ändern.«
»Sagen Sie mir, Ma Daloi, glauben Sie, daß der Taschi-Lama mich empfangen wird?«
»Das möchte ich bezweifeln. Gleich nach meiner Ankunft bat ich um eine Audienz beim Großlama, er hat mich aber nicht einmal einer Antwort gewürdigt. Und doch bin ich chinesischer Beamter.«
Das sah nun für mich, einen Fremdling, der ohne Erlaubnis von Norden her gekommen war und von dem niemand wußte, wes Geistes Kind er war, wenig ermutigend aus. Und dabei ist morgen das Neujahrsfest, zu dem ich um so weniger ohne weiteres gehen kann, als der Taschi-Lama selber bei der Feier zugegen ist. Aber etwas mußte er doch von mir wissen, wie sollte ich mir sonst Ngurbu Tundups Ankunft mit der Post am Ngangtse-tso erklären?
Wir warteten indessen den Gang der Ereignisse ab und gingen mit einer Papierlaterne hinaus, um eines unserer Pferde anzusehen, das in seinem Stand verendet war und nun fortgeschafft werden sollte. Warum konnte es jetzt nicht am Leben bleiben, da die Krippen so voller Gerste, Stroh und Häcksel waren wie noch nie und die Tiere an einer Mauer standen, die sie gegen Kälte und Wind schützte, und nun ihre Ruhezeit vor sich hatten? Fünf der Veteranen und der letzte Maulesel aus Poonch waren noch am Leben! Die letzten sechs Tiere der stattlichen Karawane, die vor sechs Monaten aus Leh aufgebrochen war! Alle die anderen lagen in Tschang-tang, und die Stürme sausten über sie hin. Diese sechs sollten nun wie unser Augapfel gehegt und gepflegt werden. Ihre wunden Rücken sollten gewaschen und eingerieben, ihre Seiten gestriegelt werden, bei Nacht sollten sie unter Filzdecken schlafen, und an Gerste und Häcksel durfte nicht gespart werden. Der Boden unter ihnen sollte mit Stroh bedeckt werden, damit sie weich lägen, wenn sie sich ausruhen wollten, und zu regelmäßigen Zeiten sollten sie ans nächste Wasser zur Tränke geführt werden. Ich streichelte meinen kleinen Schimmel, aber wie gewöhnlich biß er nur und schlug aus. Er befand sich am besten von allen Veteranen, und Guffaru versicherte, daß er, wenn es sein müsse, noch einmal durch Tschang-tang gehen könne.
In unserem Garten hatten wir es in jeder Weise gut. Rechts und links von meinem Zelt standen die Zelte Roberts und Muhamed Isas, ein wenig weiter das der Ladakis, und vor den beiden zuletztgenannten brannten, wie gewöhnlich, die großen Lagerfeuer. Ein Mann und eine Frau von Kung Guschuks Leuten wohnten in einer jämmerlichen Hütte unmittelbar im Eingangstor und besorgten uns alles, was wir bedurften. Die Frau war alt und gebrechlich, schwarzgeschminkt, aber über alle Maßen freundlich. Unaufhörlich kam sie an mein Zelt, verbeugte sich und kicherte und grinste aus purem Wohlwollen.
Am 11. Februar wurde ich früh um halb sieben mit der Nachricht geweckt, daß zwei Herren mich sofort zu sprechen wünschten. Das Kohlenbecken und warmes Wasser wurde gebracht, ich kleidete mich in größter Eile an, im Zelt wurde aufgeräumt und gefegt, und dann ließ ich die Gäste bitten, näher zu treten. Der eine war ein hochgewachsener Lama von hohem Rang, er hieß Lobsang Tsering und war einer der Sekretäre des Taschi-Lama; der andere, Duan Suän, war ein junger Chinese mit feinen, edlen Gesichtszügen. Beide waren außerordentlich höflich und von feinen Manieren. Wir plauderten zwei Stunden lang über alles mögliche; seltsamerweise schien meine Ankunft in Schigatse beiden Herren eine vollkommene Überraschung zu sein. Sie fragten wieder nach meinem Namen, nach dem Weg, auf dem ich gekommen sei, und nach meiner Absicht; von dem armen, kleinen Schwedenland hatten sie natürlich noch nie gehört, schrieben sich aber seinen Namen schwedisch, englisch und chinesisch auf.
»Ich habe die Absicht, heute dem Neujahrsfest beizuwohnen«, sagte ich. »Ich kann Schigatse nicht verlassen, ohne bei einem der größten kirchlichen Feste zugegen gewesen zu sein.«
»Ein Europäer hat unseren Festen, die nur für Tibeter und Pilger unseres Glaubens sind, noch nie beigewohnt und wird auch nie die Erlaubnis erhalten, sie sich anzusehen.«
»Der Pantschen Rinpotsche (›der heilige Lehrer‹, der Taschi-Lama) muß doch seit zwei Monaten von meinem Kommen unterrichtet sein? Seine Heiligkeit hat auch gewußt, von welcher Seite ich kommen würde, sonst hätte er mir nicht meine Post nach dem Dangra-jum-tso schicken können.«
»Der Pantschen Rinpotsche befaßt sich nie mit weltlichen Angelegenheiten; alles das besorgt sein Bruder, der Herzog (Kung Guschuk).«
»Dennoch muß ich Seine Heiligkeit selber sehen; ich weiß, daß er mich erwartet.«
»Nur einer kleinen Anzahl Sterblicher ist es vergönnt, sich vor dem Angesicht des Heiligen zeigen zu dürfen.«
Nun stieg mir der Gedanke an den Brief des Radscha von Stogh und den chinesischen Paß auf. Der Brief machte jedoch auf sie keinen Eindruck. Als aber der Paß mit seiner blauen Einfassung und seinen roten Stempeln vor dem jungen Chinesen ausgewickelt wurde, machte er ein sehr interessiertes Gesicht, und je weiter er las, desto größer wurden seine Augen. Er las ihn noch einmal durch und übersetzte ihn dann langsam Herrn Lobsang Tsering.
»Weshalb,« fragten sie dann beide, »haben Sie uns dieses Papier nicht sofort gezeigt? Es würde uns alles Überlegen erspart haben!«
»Weil der Paß auf Ostturkestan und nicht auf Tibet ausgestellt ist«, antwortete ich der Wahrheit gemäß.
»Das ist jetzt, da Sie einmal hier sind, ganz einerlei. Sie haben einen sehr feinen chinesischen Paß und stehen daher sofort unter chinesischem Schutz!«
Der junge Chinese nahm den Paß und verschwand damit, während Herr Lobsang Tsering mir noch mehr Fragen stellte und sich unsere Waffen und anderen Sachen ansah. Schließlich aber fragte ich ihn, ob er sich nicht auch meinen Garten besehen wolle, und aß dann in seiner Abwesenheit schnell mein Frühstück. Darauf kam der Chinese wieder und erklärte kurz, daß ich das Fest besuchen dürfe, daß für mich und zwei meiner Leute besondere Plätze bereit gehalten würden und daß ein Kammerherr vom Hof des Taschi-Lama uns, wenn es an der Zeit sei, abholen werde! Und nun segnete ich den chinesischen Paß, der mir seinerzeit so viel Verdruß bereitet hatte, und ich segnete » The Government of India«, das auf seine Besorgung gedrungen hatte, ich segnete den Grafen Wrangel, der ihn mir in aller Eile verschafft hatte, und ich segnete den chinesischen Gesandten in London, der ihn mit Erlaubnis seiner Regierung ausgefertigt hatte! Aber nie hätte ich geglaubt, daß er für mich die geringste Bedeutung haben werde, da er ja auf ein ganz anderes Land als Tibet ausgestellt war!
Dies war mein Einzug in Schigatse, und dies meine ersten Erfahrungen dort. Keine Katze hatte mich gehindert, keine Neugierigen hatten sich auf den Straßen gedrängt, um uns anzugaffen. Nun aber, da wir uns in der Stadt schon häuslich eingerichtet hatten, erregte unsere Anwesenheit im Orte so allgemeine Verwunderung, als ob wir direkt vom Himmel heruntergepurzelt seien! Daß dieser Streich ganz ohne mein Zutun oder Verdienst so gut geglückt war, das beruhte auf gewissen »Umständen«. Hladsche Tsering hatte mich aus uns unerklärlichen Gründen durchgelassen und uns selber den Sack, in dem er uns gefangen gehabt, wieder geöffnet. Die Häuptlinge aber, die südlich vom Ngangtse-tso wohnten, hatten wohl gedacht: »Wenn der Statthalter von Naktsang sie passieren läßt, können wir sie nicht anhalten.« Ein Glück für mich war es auch, daß einige dieser Häuptlinge sich zum Neujahrsfest nach Taschi-lunpo begeben hatten, und daß wir selber, als wir auf die große Landstraße kamen, unter den übrigen Pilgern verschwanden. Denn während der Neujahrstage gleichen die Tibeter balzenden Auerhähnen, die weder hören, noch sehen! Und schließlich war ich, der einzige Europäer der Karawane, erst in die Stadt eingeschlichen, als die Nacht schon ihren dunkeln Schleier über der Erde ausgebreitet hatte (Abb. 104).
104. Schigatse, Hauptstadt der Provinz Tsang, 3871 m.