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Am 13. Januar! Da hatten wir denn wieder diese kritische Zahl, die so viele Leute als unheilbringend ansehen und die mit einer Atmosphäre von Aberglauben umgeben ist! Ob der dreizehnte auch uns ein Unglückstag wurde?
Die Sonne war kaum aufgegangen, als Hladsche Tsering seinen Besuch melden ließ. In Begleitung seines Privatsekretärs, des Lamas Lobsang Schuntän, und aller der anderen kamen Seine Exzellenz der Statthalter von Naktsang zu Fuß nach meinem Zelt gegangen. Sie nahmen wieder auf denselben Kissen Platz, Hladsche Tsering tat den Mund auf und sprach folgende denkwürdigen Worte:
»Hedin Sahib, wir beide, ihr und ich, haben keine Zeit, hier Wochen und Monate zu liegen und auf eine Antwort aus Gyangtse zu warten. Bei eurer Postverbindung mit Gyangtse kann ich euch nicht helfen. Ich habe die Lage gründlich erwogen und sie mit meinen Sekretären, die wie ich dem Devaschung gegenüber verantwortlich sind, beraten. Wir sind der Ansicht, daß das Einzige, was ihr tun könnt, das ist: ihr zieht südwärts nach dem Gebiet des Labrang, nach Taschi-lunpo, weiter. Ich bitte euch, schon übermorgen aufzubrechen.«
Was hatte dieser höchst unerwartete Umschlag zu bedeuten? Gestern sollte ich keinen Schritt südwärts machen dürfen, und heute bat man mich, so schnell wie möglich nach dem verbotenen Lande aufzubrechen. Hatte Hladsche Tsering geheimen Befehl aus Lhasa erhalten? War er benachrichtigt worden, daß der Taschi-Lama mich wirklich erwarte? Darüber sprach er sich nicht aus, und ich war zu klug, um zu fragen. Oder waren wir das Opfer einer Kriegslist, die darauf ausging, uns möglichst schnell nach Gyangtse zu bringen, wo man mich dann zwingen würde, über Dardschiling nach Indien zurückzukehren? Denn dort konnte der Devaschung sich auf den Vertrag berufen, in dem ausdrücklich gesagt ist, daß nur diejenigen, die einen Paß aus Lhasa besitzen, berechtigt sind, im Lande umherzureisen. So würde meine Reise ein schnelles Ende nehmen. Vielleicht war es besser, mich in das unbekannte Land im Westen des Dangra-jum-tso, das ja das Hauptziel meiner Reise war, hineinzubegeben? Hladsche Tserings Frontveränderung war allem, was ich früher in Tibet gesehen und erfahren hatte, so absolut unähnlich, daß mir die Sache nicht recht geheuer schien und ich mich fragte, ob ich mich den englischen, chinesischen und tibetischen Behörden wirklich gerade in den Rachen stürzen solle, um ihnen binnen kurzer Frist auf Gnade und Ungnade überliefert zu sein.
Doch nein, diese Gelegenheit durfte unter keiner Bedingung versäumt werden! Zwischen dem Ngangtse-tso und Schigatse dehnt sich gerade der östliche Teil des großen, weißen Fleckes im Norden des Tsangpo, den kein Europäer, kein Pundit je betreten hat, das Land, von dem nicht einmal dämmerhafte, dunkle Berichte aus zweiter Hand bis in die geographischen Handbücher gedrungen sind! Selbst wenn ich nur Gelegenheit hatte, diese einzige Linie zu erobern, wäre doch meine Aufopferung nicht vergeblich gewesen. Nain Sing hat auf seiner Karte zwei Flüsse, die nach Osten und Nordosten hin dem Kjaring-tso zuströmen; ihren Oberlauf verlegt er in das Land im Süden des Ngangtse-tso. Von ihnen wußte ich noch nichts, mußte aber alles erfahren, wenn ich Hladsche Tserings Anerbieten annahm. Doch daß die Bergketten, die Nain Sing auf der Südseite des Sees in die Karte eingetragen hatte, vollkommen phantastisch und willkürlich waren, das hatte ich schon sehen können. Jedenfalls durfte ich jetzt aber kein Entzücken verraten, und daher erwiderte ich sehr ruhig und bedächtig:
»Gut, ich werde übermorgen südwärts ziehen, wenn ihr mir bis dahin Pferde besorgen könnt.«
»Ich habe in alle Täler der Gegend Leute geschickt und befohlen, alle vorhandenen Pferde hierherzubringen. Von hier führen zwei Straßen nach Schigatse. Geht ihr um die Westseite des Sees, so seid ihr in vier Tagen auf dem Gebiet des Labrang; zieht ihr aber an der Ostseite des Sees entlang, so erreicht ihr es schon in zweien. Ihr könnt den Weg, den ihr einschlagen wollt, selber wählen, aber mir wäre es lieber, daß ihr euch zu dem östlichen entschlösset. Denn für mich ist es die Hauptsache, daß ihr möglichst schnell aus meiner Provinz hinauskommt!«
»Nein, ich werde mich für die westliche Straße entscheiden, um einen Abstecher nach dem Dangra-jum-tso machen zu können. Denn ich will diesen See selber sehen und muß schon hin, weil ich ihn als Postadresse angegeben habe und mich der Eilbote des Taschi-Lama dort erwartet.«
Diese Äußerung war recht undiplomatisch, und ich hätte es wohl vermeiden können, meine Pläne zu enthüllen! Hladsche Tsering brauste denn auch sofort auf und erklärte: »Nach dem Dangra-jum-tso? Niemals! Der See ist heilig; der Berg Targo-gangri auf seinem Südufer ist heilig, dort liegt das große Kloster Serschik-gumpa, in dem mächtige, intrigante Mönche leben; euer Besuch am See würde zu Verwicklungen führen. Nein, wenn ihr solche Absichten habt, dann lasse ich euch nur einen einzigen Weg offen, nämlich die Straße, die auf der Ostseite des Ngangtse-tso entlangführt. Ich kann und will euch nicht zwingen, aber ich bitte euch, gebt mir euer Ehrenwort, nicht nach dem Dangra-jum-tso zu gehen!«
So verlor ich den Heiligen See zum zweitenmal. Doch um nicht auch noch den wichtigen Weg zu verlieren, der mir offen stand, gab ich mein Ehrenwort. Meine übereilte Offenherzigkeit verdroß mich dann sehr, aber ich sollte bald Veranlassung erhalten, mich darüber zu freuen; denn hätte ich Gelegenheit gefunden, jetzt den Heiligen See zu besuchen, so wäre ich an seinem Ufer unfehlbar festgenommen worden – aber das ist eine andere Geschichte, die in ein späteres Kapitel gehört.
»Sagt mir, Hladsche Tsering, glaubt ihr, daß man mir im Gebiet des Labrang Halt gebieten wird?«
»Da ihr hier in Naktsang nicht festgenommen seid, werdet ihr es dort wohl auch nicht werden. Wie es mir gehen wird, weiß ich nicht, aber ich bin sieben Jahre Statthalter gewesen und meine Dienstzeit ist doch in fünf Monaten abgelaufen; da macht es mir nichts aus, wenn ich meine Stelle verliere. Der Devaschung hat mich bereits so gründlich ausgeplündert, daß an Besitztümern und Vieh bei mir wenig zu holen ist. Jetzt z. B. reise ich in meiner Provinz auf Kosten des Volkes; die Nomaden müssen mir und meinen Begleitern die ganze Zeit über Lasttiere und Proviant stellen.«
»Der Devaschung muß ja eine saubere Institution sein. Ihr solltet euch freuen, daß eure Dienstzeit bald zu Ende ist.«
»Ja, aber ich muß mich an einem Ort niederlassen, wo man billig leben kann.«
»Weiß der Devaschung, daß ich hier bin?«
»Noch habe ich nichts von dort gehört, aber ich habe über eure Angelegenheiten gestern wieder eine Meldung durch Eilboten abgeschickt. Wie man euch behandeln wird, weiß ich nicht; ich selber bin um unserer alten Freundschaft willen soweit gegangen, wie es mir möglich war.«
Darauf machte ich ihm wieder einen Gegenbesuch. Einige der Leute Hladsche Tserings hatten gesehen, daß wir mit dem Umpacken des Gepäcks beschäftigt waren, und daran anknüpfend, fragte er mich nun, ob er wohl eine leere Kiste erhalten könne. Er bekam vier der besten und allerlei andere entbehrliche Sachen.
War schon der 13. Januar ein Gedenktag in meiner Chronik geworden, so sollte der vierzehnte noch wunderbarere Ereignisse bringen! Mein Leben war während der vergangenen Monate ziemlich eintönig dahingeflossen, nun aber erlebte ich täglich Dinge, wie in einem Roman!
Einen so schönen Tag hatten wir den ganzen Winter hindurch noch nicht gehabt. In der Nähe meines Zeltes war das Universalinstrument auf seinem Dreifuß aufgestellt, und ich hatte die Chronometer, einen Aneroid und einen Thermometer zur Hand. Dort stand ich wohl drei Stunden und beobachtete den Verlauf einer Sonnenfinsternis! Sie umfaßte ungefähr neun Zehntel der Sonnenscheibe. Kurz vor ihrem Maximum betrug die Lufttemperatur -8,5 Grad und bald nach dem Maximum -11,4 Grad. Die violette Linie des Thermographen sank schnell, und eine schwache Brise sauste längs der Erdoberfläche hin. Einige Tibeter hatten sich nach Muhamed Isas Zelt begeben, um uns Pferde zu verkaufen, aber als es so seltsam dunkel wurde, hatten sie den Kopf geschüttelt und waren wieder in ihre Zelte gegangen. Die Ladakis sind draußen, sitzen an ihren Feuern und murmeln Gebete. Die Raben sind still und rühren sich nicht. Ein Adler kreist auf schweren Flügeln dicht über dem Erdboden. Unsere Schafe kommen aus eigenem Antrieb von der Weide heim, wie sie es abends zu tun pflegen – und doch steht die erlöschende Sonne auf ihrer Mittagshöhe. Die jungen Hunde unterbrechen ihr Spiel, kriechen verzagt ins Zelt und legen sich auf mein Bett. Nur die Pferde grasen weiter und zeigen keine Verwunderung darüber, daß der Tag so kurz ist. Alles ist unheimlich still und ruhig.
Dann aber vergrößert die kleine Sonnensichel, die in der Nacht des Weltenraumes nicht erloschen war, sich wieder. Es wird heller, und die matten Schatten, die eben noch doppelte Ränder hatten, werden wieder scharf. Die Schafe stehen noch unschlüssig da, gehen dann aber langsam nach der Weide zurück. Die Hunde beginnen ihr Spiel von neuem, und die Tibeter lugen, einer nach dem anderen, aus ihren Zelttüren. Die Raben schütteln sich und fliegen krächzend nach einem der Hügel. Die Gebete der Ladakis verstummen, und mit sausenden Flügelschlägen schwingt sich der Adler zur Sonne empor, die wieder in all ihrem glühenden Glanze hervortritt.
Da kam der alte Karpun, um uns zu besuchen, und erhielt Tee, Tabak und ein Stück Zeug.
»Erinnert der Bombo Tschimbo sich noch,« fragte er, »wie ich euch vor 5½ Jahren mit dem großen Aufgebot festzuhalten suchte?« Siehe »Im Herzen von Asien«, II, 377 ff.
»Ja, am Nordufer des Selling-tso. Ich machte dir damals viele Not, und du konntest mich nicht zum Bleiben bewegen.«
»Der Ärger ist jetzt vergessen, und ich freue mich sehr, euch gesund und munter wiederzusehen.«
»Damals ahnten wir nicht, daß wir uns wieder treffen würden! Du selber siehst sehr wohl aus, aber sage mir, weshalb du gerade jetzt kommst?«
»Ich bringe dem Gouverneur aus Schansa-dsong Meldung. Die dort zurückgebliebenen Beamten haben mir befohlen, das Volk aufzubieten. Jetzt muß die ganze Miliz unter Waffen treten, um …«
»Du wirst doch nicht wieder die Absicht haben, mich festzuhalten?«
»Oh bewahre! Aber von den schwarzen Zelten am mittelsten Bogtsang-tsangpo ist Nachricht gekommen, daß eine große Räuberbande zehn Zelte ausgeplündert und sämtliches Vieh der Besitzer nebst allen Schafherden fortgetrieben hat.«
»Wann?«
»Vor einigen Tagen.«
»Dann können wir von Glück sagen, daß wir ihnen nicht in die Hände gefallen sind, da wir ja fünf Tage am mittelsten Bogtsang-tsangpo entlanggezogen sind und sehr viel Silbergeld in unseren Kisten haben.«
»Der Bombo Tschimbo ist der Freund der Götter. Euch kann nichts Böses treffen.«
»In welcher Richtung hat die Räuberbande sich mit ihrer Beute zurückgezogen?«
»Sie sind noch auf dem Gebiet von Naktsang; wir werden sie verfolgen, sie fangen und ihnen den Hals abschneiden.«
Nun machte ich mit den beiden Eckpfeilern meiner Karawane Exzellenz Hladsche Tsering einen Besuch. Er saß an seinem lackierten Tisch, trank Tee und hatte seine lange chinesische Pfeife im Munde.
»Wißt ihr, warum es eben so dunkel wurde?« fragte ich. »Die Götter des Dangra-jum-tso zürnen darüber, daß ihr mir nicht erlaubt, ihren See zu besuchen!«
»Nein, bewahre. Am Himmel geht ein großer Hund umher, der manchmal die Sonne verdeckt. Aber ich und der Lama Lobsang haben die ganze Zeit über vor dem Altar gebetet und Räucherspäne vor den Götterbildern brennen lassen. Ihr habt nichts zu fürchten, der Hund ist weiter gezogen.«
»Schön!« rief ich aus und machte nun einen verzweifelten Versuch, das Phänomen zu erklären. Robert mußte seine Untertasse, welche die Sonne vorstellte, in die Höhe halten; ich nahm zwei Rupien, die Erde und Mond in ihren Bahnen kreisend darstellten. Hladsche Tsering hörte Muhamed Isas Übersetzung meiner Erklärung aufmerksam an, lächelte, nickte beifällig mit dem Kopf und meinte schließlich – alles das möge ja für uns ganz gut sein, aber für Tibet treffe es durchaus nicht zu!
In demselben Augenblick wurde der Zeltzipfel zurückgeschlagen, Rabsang trat atemlos ein und rief mir zu:
» Die Post ist da!«
Muhamed Isa und Robert sprangen auf, als hätten sie Feuer unter den Sohlen und riefen: »Wir müssen hinaus!« Ich saß ganz still und stemmte die Füße fest auf den Boden, um nicht zu zeigen, daß ich vor Aufregung bebte. War es möglich? Briefe aus der Heimat, aus Indien, aus Gyangtse und vielleicht vom Taschi-Lama!
»Wer hat die Post gebracht?« fragte ich, als ob nichts vorgefallen sei.
»Ein Mann aus Schigatse, den zwei andere begleiten«, antwortete Rabsang.
»Wo ist er? Laßt ihn mit der Posttasche herkommen!«
»Das haben wir ihm auch schon gesagt, aber er antwortet, daß er strengen Befehl habe, die Post dem Sahib selber in seinem eigenen Zelt zu übergeben. Er weigert sich, es im Zelt des Gouverneurs zu tun.«
»Was ist denn los?« fragte Hladsche Tsering, der sich über den allgemeinen Aufstand wunderte.
»Ich habe Nachricht vom Taschi-Lama«, erwiderte ich sehr ruhig. Jetzt war die Reihe, verdutzt auszusehen, an Hladsche Tsering. Die Neuigkeit machte auf ihn einen sehr tiefen Eindruck. Er gab schnell einen Befehl, zwei seiner Männer eilten hinaus und kamen mit der Bestätigung meiner Behauptung wieder. Da klopfte er mir freundlich auf die Schulter und sagte lächelnd:
»Hedin Sahib, dies ist für mich eine viel größere und wichtigere Neuigkeit als für euch! Mich kümmert's nicht, was ihr für Nachrichten erhaltet, aber die Ankunft der Post vom Taschi-Lama ist mir schon an und für sich ein Beweis, daß Seine Heiligkeit euch wirklich erwartet, daß das Gebiet des Labrang euch offensteht und daß ich recht gehandelt habe, als ich sagte, daß ihr eure Reise fortsetzen könntet. Wenn ich euch die Erlaubnis dazu nicht schon gestern erteilt hätte, heute würde ich sie euch sicher gegeben haben.«
»Ich habe es ja immer gesagt, daß ich meine Post vom Taschi-Lama erhalten würde!«
»Das ist wahr, aber erst jetzt habe ich einen greifbaren Beweis, jetzt bin ich völlig beruhigt und gedenke nicht einmal euern Aufbruch noch abzuwarten. Ich reise übermorgen nach Schansa-dsong zurück.«
Nun konnte ich aber meine Ungeduld nicht länger zügeln. Ich verabschiedete mich und eilte in mein Zelt, wohin der Postbote gerufen wurde. Es war ein junger, kräftiger Tibeter namens Ngurbu Tundup (Abb. 95), ein Diener des Kung Guschuk, eines sehr vornehmen Beamten in Schigatse und jüngeren Bruders des Taschi-Lama. Auf Befehl aus Indien hatte Leutnant Bailey, der den beurlaubten Major O'Connor in Gyangtse vertrat, die sehr sorgfältig eingewickelte Postkiste dem Taschi-Lama mit der Bitte geschickt, sie mir zustellen zu lassen. Die tibetische Adresse war sogar auf den verbotenen Dangra-jum-tso ausgestellt! Auf Befehl des Taschi-Lama war der Mann mit einem offenen Paß vom Labrang, dem Vatikan von Taschi-lunpo, versehen worden, der ihn berechtigte, sich auf dem ganzen Weg dorthin Pferde stellen und Proviant verabreichen zu lassen. Die Männer, die ihn begleiteten, waren die letzten Nomaden, die ihm am Dangra-jum-tso Pferde zur Verfügung gestellt hatten und ihn jetzt, da es sicher Trinkgelder geben würde, nicht hatten verlassen wollen. Er hatte 18 Tage zu der Reise nach dem Heiligen See gebraucht und mich dort drei Tage lang gesucht, bis er zufällig erfahren hatte, daß wir am Ngangtse-tso lagerten. Dann war er zu mir geeilt, um sich seines Auftrags zu entledigen. Aber weshalb hatte er sich so verspätet? Ich hatte doch den 25. November verabredet? Jawohl, aber Kung Guschuk hatte die Kiste 40 Tage liegen lassen, und Kung Guschuk ist ein Schafskopf! Doch auch dies war ein Glück. Hätte Kung Guschuk seine Schuldigkeit getan, so wäre die Post rechtzeitig angekommen – aber ich selber kam ja erst Ende Dezember nach der verabredeten Stelle. Eine höhere Leitung hatte das Ganze geordnet, alles paßte ganz vorzüglich zusammen.
95. Der Eilbote Ngurbu Tundup mit den letzten Briefen in die Heimat.
Nun wurde die Kiste aufgemacht! Welche Spannung! Sie enthielt Pakete von Briefen aus meinem Elternhause, vom Government House in Kalkutta, von Oberst Dunlop Smith und vielen anderen Freunden. Ich überzeugte mich zuerst durch den letzten Brief, daß zu Haus alles gesund war, und las dann alle chronologisch und mit gespanntestem Interesse. Die Briefe waren mir um so willkommener, als sie lauter gute Nachrichten enthielten. Und schwedische Zeitungen erhielt ich in Menge – sie waren zwar so alt wie der Böhmerwald, aber an Lektüre litt ich nun auf dem Weg nach Schigatse keinen Mangel!
Diesen Abend sah die Karawane von mir nicht viel; ich lag, ausschließlich mit Lesen beschäftigt, auf meinem Bett und ließ meine Leute tüchtig mit Kohlenbecken heizen. Auch die Ladakis waren lustig, zündeten sich ein großes Feuer an, tanzten und sangen. Ich wurde gebeten, einen Augenblick hinauszukommen und mir das Fest anzusehen, und benutzte die Gelegenheit, um eine kleine Rede »An mein Volk« zu halten. Sie hätten mir gut und treu gedient, und bisher sei uns alles geglückt. Jetzt liege die Straße nach Taschi-lunpo offen vor uns, und ihr Wunsch, nach der heiligen Stadt zu wallfahren, werde sich erfüllen! Dort würden sie von ihren Anstrengungen ausruhen. Und dann ging ich wieder zu meinen Briefen hinein und las noch, als im Osten der Tag graute und ich, nachdem das letzte Kohlenbecken längst erkaltet war, 25 Grad Kälte im Zelt hatte! Aber ich war gut in Pelze eingehüllt und fror nicht. In der Nähe meines Zeltes machte ein Rudel Wölfe derartigen Lärm, das Tsering hinaus mußte, um ihnen durch einige scharfe Schüsse Ruhe zu gebieten.
Den fünfzehnten hindurch lag und las ich noch immer. Am sechzehnten machte Hladsche Tsering mir seinen Abschiedsbesuch. Wir plauderten in aller Gemütlichkeit miteinander, scherzten und fragten uns, ob sich unsere Schicksalswege wohl noch einmal im Leben kreuzen würden? Dann begleitete ich ihn hinaus nach seinem wartenden Pferd, das schneeweiß war, eine karminrote Satteldecke hatte und mit blitzenden Messingverzierungen und einem Vorderzeug, woran Glöckchen klingelten, geschmückt war. Er stieg in den Sattel, reichte mir zum letzten Lebewohl beide Hände und verschwand mit seiner kleinen Reiterschar hinter den Hügeln (Abb. 93). Dann kehrte ich wieder zu meinen Briefen zurück, fand es aber nun, da der liebenswürdige Statthalter von Naktsang fort war, hier doch recht öde und leer!
93. Hladsche Tsering beim Aufbruch.
17. Januar. Was machte ich mir daraus, daß der Tag sehr trübe war, daß frischgefallener Schnee die uns umgebenden Berge bedeckte und schwere, graublaue Wolkenmassen über den See hinrollten, wie um ihn im Augenblick des Abschiedes meinen Blicken zu entziehen! Mir erschien alles hell, heiter und freundlich! Ein mächtiger Gouverneur war gekommen, um mich am Weiterreisen zu hindern, und doch stand uns nun der Weg nach Süden ebenso offen, wie vor kurzem das unbewohnte Tschang-tang. Jetzt aber hatte ich es weit besser als dort oben. Täglich würden wir an schwarzen Zelten vorbeiziehen, alles, dessen wir bedurften, kaufen können und keine Veranlassung haben, uns darüber zu beunruhigen, daß wir nur noch für fünf Tage Proviant besaßen. Wir erfreuten uns unbeschränkter Freiheit und hatten nicht einen einzigen Mann als Eskorte oder Wächter bei uns. Vor mir lag ein Land, von dem sich in geographischer Hinsicht sagen ließ, daß es eines der interessantesten auf der ganzen Erde sei, und in dem jede Tagereise zu Entdeckungen von außerordentlicher Bedeutung führen konnte. Was machte ich mir daraus, daß die Luft rauh und kalt war – einmal mußte der Frühling ja kommen! Aus drei Gründen durften wir jetzt auf mehr Wärme rechnen: wir gingen südlicheren Strichen entgegen, wir konnten bald tiefer liegende Gegenden erreichen und jeder Tag führte uns dem Frühling einen Schritt näher. Und aus drei Gründen sollte der Ngangtse-tso stets als ein Glanzpunkt im Tagebuch meiner Erinnerungen verzeichnet sein: dort war mir unerwartet die Freiheit gegeben worden, dort hatte sich die Verbindung mit der Außenwelt wieder angeknüpft und dort hatte ich Gelegenheit gehabt, durch vollständige Lotungen erstmalig die Tiefe des Sees festzustellen und seinen Umriß in die Karte einzuzeichnen!
Wir hatten ziemlich wohlfeil drei neue Pferde erstanden, auf die Robert, Muhamed Isa und Tsering stiegen, während ich meinen kleinen Ladakischimmel behielt. In Begleitung des Postboten und seiner beiden Kameraden ritten wir in südöstlicher Richtung nach dem See hinunter und zogen an seinem Ostufer entlang, an dessen südlichstem Teil wir in der Nähe zweier schwarzen Zelte lagerten. Kiangs und Wölfe zeigten sich häufig. Ein Kiang war von Wölfen zerrissen worden; bei dem Kadaver blieben der weiße Puppy und der schwarze Pobranghund, um einen schönen Schmaus zu halten. Wir hatten während des 21,2 Kilometer langen Marsches ganz erbärmlich gefroren, und in der Nacht sank die Temperatur sogar auf 34,4 Grad Kälte, die schlimmste, die wir im ganzen Winter gehabt hatten!
Die nächste Tagereise führte uns in einem Quertal des Gebirges, das sich am Südufer des Ngangtse-tso erhebt, aufwärts. Es ist ziemlich eng, und ein kleiner Quellbach sprudelt dort unter seiner Eisdecke. Wir folgen einem deutlich erkennbaren Pfad, lassen ein paar Zelte hinter uns und kommen an Schafhürden, Rasenplätzen und schwarzen Stellen, wo zahme Yaks im Liegen das Gras abgescheuert haben, vorüber; alles ist schwarz: die Zelte, die Tibeter, die halbnackten Kinder und die Hunde. Schließlich führt uns die Talrinne nach Westen; gerade in der Biegung sehen wir einen zu milchweißem Eis erstarrten Wasserfall. Hoch oben im Tal lagerten wir in einer plateauartigen Erweiterung, von wo aus ich eine sehr interessante Aussicht nach Nordosten hatte. Man sah beinahe ganz jenen See, den Nam Sing im Süden in einiger Entfernung liegen ließ und den er Daru-tso nennt. Ich kann die Richtigkeit dieses Namens nicht bestreiten, aber keiner der Tibeter, die ich danach fragte, hatte den See je so nennen hören; sie nannten ihn Martschar-tso, und unter diesem Namen figuriert er nun auf meiner Karte. Es kommt indessen manchmal vor, daß ein See bei verschiedenen Nomadenstämmen auch verschiedene Namen hat. Im Lager 109 (5189 Meter) lag er unmittelbar unter uns wie auf einer Karte; seine Gestalt ist nicht so einfach wie auf Nain Sings Karte, sondern reich an Halbinseln und Buchten, und in der Mitte ist er außerordentlich schmal. Die Landenge zwischen dem Ngangtse-tso und dem Martschar-tso ist nur wenige Kilometer breit; an der höchsten Stelle berühren sich die alten Uferterrassen der beiden Seen. In der Zeit, als der Wasserstand noch höher war, hingen die beiden Seen also zusammen. Der Martschar-tso soll ebenso salzig sein wie sein Nachbar, sein Eis war aber blank und blau, und auf seiner Oberfläche sahen wir keine Felder ausgeschiedenen Salzes.
Von dem Augenblick an, da wir den weißen Puppy und den schwarzen Pobranghund hinter uns zurückließen, hatten wir sie nicht wieder gesehen; ich schickte deshalb den Hadschi nach dem See zurück. Aber er kam wieder, ohne eine Spur von den Hunden gesehen zu haben. Wir sahen sie nie wieder, und ich vermißte den weißen Puppy, der mir ein treuer Zelt- und Reisekamerad gewesen war, sehr. Entweder waren sie mit den Wölfen in Streit geraten und hatten dabei den kürzeren gezogen, oder sie hatten unsere Fährte verloren und waren von Nomaden adoptiert worden. Das erstere war das Wahrscheinlichere, denn der Hadschi hatte, als er am See ankam, ein Rudel Wölfe auf das Eis hinaustrotten sehen.
Am 19. Januar zogen wir über den benachbarten Paß Tschapka-la (5326 Meter), auf dem eine Steinpyramide zur Ehre der Götter thront. Als Wasserscheide ist er nur von sekundärer Bedeutung, denn auf beiden Seiten geht das Wasser zum Ngangtse-tso. Unser abwärts führendes Tal bildet einen nach Süden gerichteten Bogen; im Tal Lamblung hatten wir elf Zelte zu Nachbarn und konnten uns gleich auf mehrere Tage mit allem, was wir brauchten, versehen. Das Gebiet gehört noch zu Naktsang, aber die Nomaden waren Untertanen des Labrang und bezahlten ihre Steuern nach Taschi-lunpo. Die Höhe betrug 4895 Meter.
Hier blieben wir zwei Tage, was wir nicht hätten tun sollen und auch nicht getan hätten, wenn ich mir die Sache ordentlich überlegt hätte. Nicht der wütende Schneesturm war es, der uns dazu trieb, 48 Stunden zu opfern, sondern Ngurbu Tundup, der Postbote. Ich hatte die Absicht gehabt, ihn möglichst lange bei mir zu behalten, denn es war ja klar, daß es uns nur nützlich sein und unser Ansehen heben konnte, wenn sich der Diener eines der vornehmsten Beamten in Schigatse bei unserer Karawane befand. Er galt uns als lebendiger Paß; hatten wir ihn nicht mehr bei uns, so konnte man uns vielleicht wieder als Freibeuter betrachten und irgendein herrschsüchtiger Häuptling uns Halt gebieten. Aber Ngurbu Tundup ließ sich nicht erbitten und erklärte, daß er strengen Befehl erhalten habe, sofort nach Ausführung seines Auftrags zurückzukehren und Meldung abzustatten. Jetzt war er dem Befehl schon ungehorsam gewesen und hatte mehrere Tage verloren, ging aber darauf ein, bei uns zu bleiben, wenn wir im Tal Lamblung rasten würden. Ich bedurfte der Zeit nur zu sehr, um meine gewaltige Post fertigstellen zu können. Am 20. Januar schrieb ich sechzehn Stunden, und am Nachmittag des einundzwanzigsten war die Postsendung fertig und eingepackt! Ngurbu erhielt für seinen vortrefflichen Dienst ein Geschenk von 82 Rupien, und wenn er das Postpaket dem britischen Handelsagenten in Gyangtse ordentlich überlieferte, sollte er, wenn wir uns in Schigatse wiedersahen, noch eine besondere Belohnung erhalten. Aber er sollte sich sputen und mehrmals täglich das Pferd wechseln. Wenn er trödelte und nur 30 Kilometer den Tag zurücklegte, hatte er nicht mehr als 10 Rupien zu erwarten. Machte er die Reise in neun Tagen, so sollte er 20 erhalten, und führte er seinen Auftrag gar schon in acht Tagen aus, so wollte ich ihm 30 Rupien geben, usw., also 10 Rupien mehr für jeden gewonnenen Tag. Tatsächlich kam er nach acht Tagen dort an. Eigentlich beging ich auch hierdurch wieder eine Unvorsichtigkeit, denn ich gab Nachricht von unserem Herannahen nach Süden, und hätte das Unglück es gewollt, so hätten die Tibeter auf böse Gedanken kommen können. Ja, hätten die Chinesen von unserem Anmarsch Kunde erhalten, so wäre ich ganz gewiß sehr bald angehalten worden!
Als Ngurbu über die Hügel fortgeritten war, waren wir wieder von jeglicher Verbindung mit der Außenwelt ab geschnitten und uns allein überlassen.
Am folgenden Morgen ging es bergauf nach Osten weiter durch dasselbe Tal, in dem wir gelagert hatten und wo wieder einmal einige Manimauern stehen, deren längste 10 Meter lang und mit Sandsteinplatten bedeckt ist, die in eingemeißelter Schrift die heilige Formel tragen. Beständige Stürme und ungeheure Wolkenmassen mit Schnee oder ohne Schnee – das war das charakteristische Wetter im Januar.
Der Pongtschen-la (5371 Meter) ist eine flache Paßschwelle und wie die vorige von sekundärer Bedeutung. Auf seiner Höhe erhebt sich ein Opfersteinhaufen mit einem Bündel Gerten, an denen Wimpel, Zeuglappen und Bänder flattern. Von ihm als Mittelpunkt gehen Radien kleinerer Steinmale aus. Von hier aus hat man noch einen letzten Blick auf meinen lieben alten Ngangtse-tso, und nach Nordosten hin zieht sich ein Tal nach dem Martschar-tso hinunter. Im Südosten erhebt sich eine dunkle Bergkette mit mehreren Schneegipfeln, die Pabla heißt. Das Tal, in dem wir hinziehen, ist breit und offen und wird von niedrigen Bergen eingefaßt. Den ganzen Tag über sahen wir keine Zelte, dagegen zahlreiche Spuren von Sommerlagern. Namgjal, der ein lebhafter, aufgeweckter Mensch war, spürte indessen in der Nähe unseres Lagers 111, das in einer Gegend namens Namatschang aufgeschlagen wurde, zwei Zelte auf und kaufte dort einige Schafe, geröstetes Mehl, Gerste, süße und saure Milch. Er brachte auch einen jungen Tibeter mit, der hübsch, ehrlich und sanftmütig war und freundlich und willig alles tat, was wir von ihm verlangten. Sein Tonfall war so weich und fein, daß es ein Vergnügen war, ihn sprechen zu hören. Er gab mir eine Menge glaubwürdiger Aufklärungen und versprach auch, uns eine Tagereise weit zu begleiten.
Es schneite die ganze Nacht und den ganzen folgenden Tag so dicht, daß ich Rabsang, der mit dem tibetischen Führer unmittelbar vor meinem Pferd herschritt, manchmal nicht sehen konnte. Der Schnee hüllte uns ein, umwirbelte uns und häufte sich auf der geschützten Seite aller Steinblöcke, Grashügel und Rinnen zu kleinen Schneewehen an. Das Tal fällt langsam nach Südosten ab, und sein zugefrorener Fluß heißt Buser-tsangpo, ein Nebenfluß des Tagrak-tsangpo, der in die südwestliche Spitze des Ngangtse-tso mündet. Wir befinden uns also noch immer in dem flachen Becken, dessen niedrigsten Teil jener See einnimmt und dessen Grenze im Norden, Westen und Osten ganz nahe am See liegt, im Süden aber mehrere Tagereisen weit von ihm entfernt ist. Der heutige Lagerplatz heißt Kaptschor; nach Osten hin zieht sich ein offenes Längstal, durch das eine Straße nach Schansa-dsong führt; auch auf der Nordseite des Ngangtse-tso und des Martschar-tso geht ein Weg dorthin, und auf diesem war Hladsche Tsering in zwölf Tagereisen nach meinem Lager gekommen. Diese Straße ist durch Nain Sings Reise in den Jahren 1873–74 bekannt.
Am Morgen des 24. Januars wurde man beim Austreten aus dem Zelt beinahe geblendet, so scharfe Reflexe brachen sich in den Milliarden feiner Facetten der Schneekristalle, die ihre weiße Decke in einer dicken, zusammenhängenden Schicht über Berg und Tal ausgebreitet hatten. Der Himmel war klar und blau wie der reinste Türkis aus Nischapur, aber schneidend kalt strich der Wind über die nur eine Nacht alten Schneefelder hin. Unser Weg führte uns südostwärts nach dem Ausgang des schmalen Tales, wo der Tagrak-tsangpo, jetzt bis auf den Grund gefroren, stumm und gefesselt in den Armen des Winters ruhte. Wir folgten dem Fluß – dem größten fließenden Gewässer, das wir seit dem Tschang-tschenmo gesehen hatten – bergauf. An zwei Stellen hatten kleinere Nomadengemeinschaften ihre Winterweideplätze, und dort bewegten sich auf den Halden große Jak- und Schafherden umher. Der Name des Tales ist Kaji-rung, das Lager 113 hieß Kaji-pangbuk, der Distrikt Tova-tova. Nain Sings »Dobo Dobá Cho«, von wo aus er den Fluß Párá-sangpo nach dem Kjaring-tso gehen läßt, kannten die Einwohner nicht. Der Pundit läßt das Wasser nach Osten abfließen, tatsächlich aber strömt es westlich und nordwestlich nach dem Ngangtsetso hin. Dies läßt sich dadurch erklären, daß er nicht selber hier gewesen ist und daß die Angaben der Eingeborenen gewöhnlich recht unzuverlässig sind.
Unmittelbar hinter dem Lager überschreiten wir am 25. Januar eine kleine Schwelle, auf der wir eine orientierende, lehrreiche Aussicht haben. Der Blick schweift ungehindert über die ganze weite Ebene, deren flachen Boden die drei Flüsse, die den Tagrak-tsangpo bilden, wie Silberbänder in dem braungrauen Gelände mit tollen Kurven und Krümmungen durchschlängeln. Ganz in unserer Nähe sehen wir im Südosten den Kesar-tsangpo, der am Nordfuß unserer kleinen Schwelle den Naong-tsangpo aufnimmt, um dann durch ein scharfes Durchbruchstal unseres Gebirges seinen Lauf im Kaji-rung-Tal zu beginnen. Weiter entfernt im Nordosten hat der Naong-tsangpo bereits die Fluten des Kung-tsangpo in sein Bett aufgenommen und läßt sich nun von ihnen auf dem Weg nach dem Kaji-rung-Tal und dem Ngangtse-tso Gesellschaft leisten. Die große Ebene ist von mäßig hohen, abgerundeten Bergen und Hügeln umschlossen.
Nachdem wir den Kesar-tsangpo überschritten haben, ziehen wir an seinem rechten Ufer aufwärts bis nach Toa-nadsum, wo wir lagern. Eine viereckige Mauer von Erdschollen gibt die Stelle an, wo der Bombo oder Häuptling der Gegend sonst sein Zelt hat; jetzt ist er in Taschilunpo, um die Steuer zu bezahlen. In benachbarten Tälern standen augenblicklich 22 Zelte, bei unserem Lager aber nur vier; in ihnen überwinterten Bettler in großem Elend. Die Gegend soll sich auch im Sommer durch ihr kaltes, rauhes Klima auszeichnen. Im Juni und Juli regnet es, aber die Regenmenge ist in den verschiedenen Jahren sehr verschieden. Regnet es aber eine Zeitlang tüchtig, so schwellen alle die Flüsse, die das Wasser von wohl tausend Tälern aufnehmen, an, und der Tagrak-tsangpo läßt sich dann zeitweise nicht durchwaten.
Als wir am folgenden Tag in wolkenschwerer Dämmerungsbeleuchtung aufbrachen, kamen die armen Eingeborenen herbei, streckten ihre welken Hände nach Tsamba oder Geld aus und erhielten jeder ein Geldstück. Unser Weg führte uns nach Ostsüdosten hin, nach dem Tal Naong-rung, das der jetzt bis auf den Grund zugefrorene Naongtsangpo durchströmt. Wir stiegen jetzt allmählich und befanden uns im Lager 115 in 5134 Meter Höhe.
Zwei große, schwarze Nomadenhunde hatten sich in die braune Puppy verliebt und begleiteten uns mit einer Miene, als gehörten sie zur Familie. Der eine hinkte, da er sich einmal sein rechtes Hinterbein verletzt hatte; er war alt und zottig und wurde mit Steinwürfen und Schimpfreden empfangen. Trotzdem blieb er unser treuer Begleiter und nahm sowohl mit den harten Worten der Leute, wie mit den weggeworfenen Eingeweiden der geschlachteten Schafe vorlieb. Er wurde schließlich ein Inventarium unserer wandernden Gesellschaft, humpelte mit gesenktem Kopf und langheraushängender Zunge mit uns über hohe Pässe und durch tiefe Täler und hörte auf den Namen »der Lahme«. Da er schon alt war, blieb er oft zurück, fand sich aber trotz seiner Langsamkeit immer wieder bei uns ein und bekam seinen Platz vor Muhamed Isas Zelt. Er wurde der Wächter unseres Zelthofes und war sehr um uns besorgt, wenn Gefahr drohte. Natürlich wurde er schließlich unser aller Freund, durfte fressen, soviel er mochte und nahm in der Karawane eine besondere Stellung ein. Da vergaßen wir gern, daß wir es je hatten übers Herz bringen können, ihn zu schlagen und ihn mit Steinen und Reitpeitschen zu begrüßen, ihn, unseren »Lahmen«, der doch von selbst zu uns gekommen war, um uns zu verteidigen und unsere Zelte zu bewachen, und dafür nichts begehrte als freie Beköstigung. Denn freie Wohnung hatte er sowieso unter den ewigen Sternen in dem großen, öden, winterkalten Tibet.