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Das Schammtal verschmälert sich birnenförmig, und am Eingang dieses Trichters liegen an drei Stellen Hütten, während auf den Berghalden große Herden weiden. Eine Manimauer war 45 Meter lang bei 1½ Meter Höhe und mit Erdschollen bedeckt, welche die senkrechten Gebetsteine schützen sollten. Schließlich mündet das Schammtal in ein von Osten kommendes, mächtiges Tal, das einen höheren Rang in diesem Flußsystem einnimmt. Es wird vom Bup-tschu-tsangpo durchflossen, dem größten Flusse, den wir bisher gesehen hatten. Unmittelbar unter der Stelle, wo die beiden Täler zusammentreffen, vereinigt sich ein dritter Fluß mit den beiden; er heißt Dangbä-tschu und kommt aus Südosten. Also fließen drei bedeutende Wasserläufe in dieser kleinen Talerweiterung zusammen. Die Aufklärungen meines Führers machten mir das verwickelte Flußsystem des My-tschu-tsangpo klar. Die Quellen des Bup-tschu-tsangpo liegen zwei starke Tagereisen weiter östlich, und sind natürlich in der mächtigen Abzweigung vom Pablagebirge, das die Wasserscheide des My-tschu-tsangpo im Osten ist, zu suchen. Von dem Vereinigungspunkt, an dem wir uns jetzt befanden, fließt der Bup-tschu zwei kurze Tagereisen weit südwestlich, um sich beim Kloster Linga in den My-tschu-tsangpo, der selbst seine Quellen in der Hauptkette Pabla hat, zu ergießen.
Der Bup-tschu-tsangpo zeigte jetzt eine gewaltige Eisfläche, hatte aber eine offene Wasserrinne. An der Stelle, wo das Eis eine Brücke über sein ganzes Bett bildete, kamen wir trocknen Fußes hinüber und zogen dann in dem engen Dangbätal in südöstlicher Richtung hinauf.
Im Lager 121 ließ ich am 3. Februar Tundup Sonam und Taschi mit unseren eigenen Yaks zurück, da diese jetzt so erschöpft waren, daß sie nur ganz langsam vorwärts getrieben werden konnten. Die beiden Männer erhielten Geld zu ihrem Unterhalt und hatten Befehl, möglichst langsam nach Schigatse zu ziehen. Mit der übrigen Karawane brach ich bei gutem Wetter und einer Minimumtemperatur von bloß -11,5 Grad in aller Frühe auf.
Unsere Richtung ist jetzt Südsüdosten und schließlich Osten. Alle Täler sind voll Eis, das wir mit Sand bestreuen, wenn die Karawane darüberzieht. Der Paß dieses Tages ist der Dangbä-la, den, wie gewöhnlich, ein Steinmal mit Wimpeln ziert; seine Höhe beträgt 5250 Meter, er ist also viel niedriger als die vorhergehenden. Er ist insofern interessant, als er zu der Wasserscheide zwischen dem Bup-tschu (=My-tschu) und dem Rung-tschu gehört. Dieser letztere Fluß vereinigt sich nämlich nicht mit dem My-tschu, sondern geht seinen eigenen Weg direkt nach dem oberen Brahmaputra. Als ich fragte, weshalb man nicht das Rungtal hinabziehen könne, um die beiden uns noch bevorstehenden Pässe zu vermeiden, erhielt ich die Antwort, daß das Tal sehr eng, zwischen schroffen Bergwänden eingezwängt und mit Eis gefüllt sei. Es gibt dort jedoch einen Sommerweg, der bald auf den Gehängen, bald im Talgrund entlangführt, der aber nach Regen schwer zu passieren ist, da dann große Wassermassen in Wasserfällen und Stromschnellen mit Donnergetöse durch das Tal rauschen.
Wir lagerten in der Gegend Ngartang im Rungtal, wo zwölf Zelte das ganze Jahr hindurch stehen. Das Tal gilt für kalt, während das Schammtal eine warme Gegend sein soll. Tatsächlich hatten wir auch dort einige Wacholdersträuche gefunden, deren erster Anblick uns so erfreute, daß wir das Innere unserer Zelte mit Wacholderzweigen geschmückt hatten. Im Schammtal schneit es im Sommer nie, wohl aber im Rungtal. In manchen Jahren regnet es in beiden Tälern sehr viel.
Wie zur Bestätigung der Angaben der Tibeter fiel die Temperatur in dieser Nacht wieder auf -28,4 Grad. Sie hatten uns auf eine lange Tagereise und einen schwierigen Paß vorbereitet, und es war daher noch dunkel, als ich schon die Yaks in das Lager treiben hörte. Nachdem wir den Ma-lung-Fluß hinter uns gelassen haben, reiten wir Hügel hinauf, die aus fester Erde bestehen und bemoost sind, und dabei entrollt sich im Nordosten ein unentwirrbares Durcheinander von Bergen. In dem vom Paß uns entgegenkommenden schmalen Tal reiten wir auf steilem Weg aufwärts, zwischen Geröll und Steinblöcken; hier und dort stehen kleine Votivmale. Es folgt eine Strecke fast ebenen Bodens, und schließlich geht es steil nach dem Paß, der voll grauer Granitblöcke liegt, hinauf. Dies ist der Ta-la, der »Pferdepaß«; seine absolute Höhe ist 5436 Meter.
War der Aufstieg zwischen den Steinkegeln beschwerlich und akrobatenhafte Drehungen des Oberkörpers des Pferdes sowohl wie des Reiters nötig gewesen, so erhielt der Pilger aber seine Belohnung, wenn er hier oben stand am wimpelgeschmückten Steinmal auf der Höhe des Ta-la! Denn Großartigeres, Schwindelerregenderes und Überwältigenderes habe ich noch nicht gesehen, wenn nicht auf der Höhe von Tschang-lung-jogma. Man ist so fasziniert von dem Panorama im Südosten und Ostsüdosten, daß man kaum dazu kommt, vom Pferde zu steigen! Es ist ein ziemlich begrenzter Teil des Horizontes, den ich beherrsche, denn zwei Gipfel des Ta-la-Kammes fassen die vor mir liegende Landschaft ein, den Propyläen am Eingang eines ungeheuren Tempelsaals vergleichbar. Unter mir ein Gürtel von rotbraunen, domartigen Hügeln, dahinter ein beinahe schwarzer Ausläufer mit reicher Ausmeißelung an kurzen Quertälern und noch weiter hinten eine dunkelgraue Verzweigung. Alle scheinen sie nach Westen und von der Wasserscheide auszugehen, die ich seit dem Sela-la im Osten unserer Straße vermutet hatte. Dergleichen hatte ich früher schon unzählige Male gesehen. Doch hoch über dem dunkelgrauen Rücken erhob sich eine Gebirgswelt, die eher dem Himmel als der Erde anzugehören schien, so leicht und luftig schwebte sie unter einem Baldachin weißer Wölkchen über der übrigen Erde. Sie ist so weit von uns, daß alle ihre Einzelumrisse ineinander verschwimmen, und sie erhebt sich wie eine gigantische Mauer in einer einzigen, das Ganze miteinander verschmelzenden hellblauen Schattierung, die freilich immerhin noch ein wenig kräftiger ist als die Farbe des Himmels. Die Grenze zwischen den beiden hellblauen Feldern wird jedoch durch eine ungleichmäßige, blendend weiße Linie scharf bezeichnet. Denn das, was ich vor mir sehe, sind die schneebedeckten Gipfel des Himalaja, und hinter ihnen liegt Indien mit seinem ewigen Sommer! Es sind die nördlichsten Himalajaketten auf der Grenze zwischen Tibet und Bhutan, die ich hier sehe. Zwischen ihnen und dem uns ziemlich naheliegenden dunkelgrauen Kamm öffnet sich ein Abgrund, eine ungeheuere Spalte in der Erdrinde – das Tal des Brahmaputra, des Tsangpo. Der Fluß selbst ist noch nicht sichtbar, aber ich fühle, daß wir nicht mehr weit vom Ziele sind (Abb. 174).
174. Aussicht vom Ta-la (5436 m) nach Südosten.
Im Hintergrund das Brahmaputra-Tal mit dem Himalaya. Skizze des Verfassers.
Tsering und Bolu erreichen jetzt mit der kleinen Karawane den Paß. Sie fallen vor dem Steinhaufen auf die Knie und sprechen ihre Gebete, und Tsering reißt von seinem zerlumpten Rock einen Fetzen ab, um ihn als Opfergabe an eine der Schnüre zu befestigen. Bei uns allen herrscht das Gefühl, daß wir auf einer Wallfahrt begriffen sind. Die Tibeter, die uns ihre Yaks vermieten, besorgen das Auf- und Abladen, sie sammeln uns Brennmaterial und befreien die Ladakis von manchen ihrer Obliegenheiten. Die älteren unserer Leute dürfen auf Yaks reiten. Sie haben es jetzt in allem leichter, aber sie sind ja auch Pilger auf dem Wege nach einer der größten Metropolen des Lamaismus. Die Mütze in der Hand geht der alte Tsering zu Fuß über den Paß, und er kann seine Augen nicht von den traumhaft hellblauen Bergen, die in bläulicher Ferne zwischen den Wölkchen hervorglänzen, abwenden. Er sagt sich aber auch, daß sie sich weit hinter Taschi-lunpo erheben und daß wir sie nicht noch zu übersteigen brauchen, um das Ziel unserer Sehnsucht zu erreichen!
Aber wir mußten schließlich auch diesen herrlichen Paß, den unvergeßlichen Ta-la, verlassen! Hals über Kopf geht es zwischen Felsblöcken durch schroffe Wände hinunter, auf Erdrücken und Ausläufern abwärts, und mehr und mehr vom Himalaja entschwindet unseren Blicken. Jetzt sehen wir nur noch die mit ewigem Schnee gekrönte Kammlinie; nachdem wir noch ein paar Halden hinter uns haben, wird auch sie von dem dunkelgrauen Bergrücken verdeckt, und nun bilden dessen scharfe Umrisse unseren Horizont. Kabbalo ist ein Dorf mit zwei recht kleinen Steinhäusern in dem Tal Pernanakbo-tang, wo wir lagerten. Verschiedene Tibeter hielten sich im Freien auf und gafften uns an; zu Mittag erhielt ich aber Butter und Rettich und sah das ewige Schaffleisch nicht mehr an.
Am 5. Februar machten wir einen ganz kurzen Marsch im selben Tal abwärts, das da, wo wir das Lager 124 aufschlugen, Dokang hieß. Am Lagerfeuer standen 40 Tibeter! Als ich an sie heranritt, streckten sie alle auf einmal die Zunge so weit heraus, wie es nur irgend ging; sie hebt sich feuerrot gegen ihr schmutziges Gesicht ab. Diejenigen, welche Mützen tragen, nehmen sie mit der linken Hand ab und kratzen sich mit der rechten den Kopf, auch eine Zeremonie, die zur Begrüßung gehört. Spricht man mit ihnen, so schnellen die Zungen unaufhörlich heraus, aber nur aus Höflichkeit und Freundlichkeit; sie wissen gar nicht, was sie uns alles zu Liebe tun sollten. In der Nähe des Lagers liegt die Ruine eines »Dsong«, einer Burg, die Dokang-pe heißt, und ein verlassenes Dorf namens Arung-kampa legt Zeugnis davon ab, daß das Tal früher bewohnter gewesen ist als jetzt.
Der Tagesmarsch am 6. gehört zu denen, die ich nie vergessen werde. Denn nun schritten wir die riesenhafte Treppenstufe, den Rand von Tschang-tang, hinab und in das Ginungagap, das wir vom Ta-la-Paß aus gesehen hatten und in dessen Tiefe der obere Brahmaputra fließt. Es geht vom Lager nach Südsüdost, unser Fluß bleibt rechts liegen und durchschneidet das Gebirge in einem tiefen Hohlweg, um dem Rung-tschu zuzuströmen. Am Eingang des engen Tales zeigte sich ein kleiner Tempel, der Tschega-gumpa hieß. In einer Schlucht heulte ein Rudel Wölfe jämmerlich. Der Anstieg nach dem Paß La-rock (4440 Meter) hinauf ist ebenso leicht wie kurz; ehe man sich dessen versieht, ist man oben bei einem großen Denkmal inmitten kleinerer Steinhaufen, wo sich eine »Tarpotsche« (Votivstange) erhebt, die schon grau, geborsten und von Wind und Wetter arg mitgenommen ist (Abb. 96). Verschiedene Steinblöcke, die auf der Ostseite des Passes haufenweise umherliegen, waren an den senkrechten Seiten weiß getüncht. Man muß indessen noch über zwei kleinere Schwellen, ehe die Aussicht ganz frei und offen wird. Sie ist großartig und erinnert an die Landschaft, die man in Leh vom Palast aus sieht. Man erblickte ganz deutlich die nördlichen Kämme des Himalaja, aber schwere Wolken ruhten einem Dache gleich über ihren Gipfeln. Daher sah man auch den Mount Everest nicht, den höchsten Berg der Erde. Der Tsangpo zeichnete sich als ein sehr schmales, helles Band ab, von dem uns noch eine bedeutende Entfernung trennt. Unter uns fließt der Rung-tschu, den wir von der Stelle an, wo er aus den Bergen heraustritt, sehen können. Am imposantesten sind jedoch die kolossalen Ausläufer und Verzweigungen der Berge, die östlich und westlich von uns liegen und die wie eine endlose Reihe vorgestreckter Tigertatzen jäh nach dem Tal des Brahmaputra abfallen.
96. Der Paß von La-rock. Manis mit flatternden Gebeten.
Die Ebene, die sich unter uns ausbreitet und die eine sehr ausgedehnte Erweiterung des Brahmaputratales ist, heißt Je oder Je-schung, während der Fluß hier den Namen Jere-tsangpo trägt. Sie ist dicht bewohnt; die große Anzahl dunkler Flecke sind lauter Dörfer. Rechts, am Fuß eines Ausläufers, erhebt sich das große Kloster Taschi-gembe, das mit seinen vielen weißgetünchten Häusern an eine italienische Küstenstadt erinnert. Von dort führt eine Straße nach dem berühmten Kloster Sekja. Eine feine, sich nach Südosten hinschlängelnde Linie ist die große Landstraße nach Schigatse, Taschi-lunpo und Lhasa.
Von der letzten Plattform geht es halsbrechend steil abwärts; man geht daher diese schroffen Abhänge von grauem Granit, die Wind und Wetter rund geschliffen haben, hübsch zu Fuß hinunter. Wo loses Material die Zwischenräume ausfüllt, ist der Pfad metertief eingeschnitten. Viele Pilger, Pferde und Yaks sind hier gewandert, ehe er so klein geworden ist. Bald haben wir Abgründe auf den Seiten, bald rutschen wir auf den Granitplatten abwärts, bald steigen wir wie auf einer Treppe hinab, aber abwärts geht es, immerfort abwärts, und wir freuen uns in dem Gedanken, daß uns jeder Schritt endlich in wärmere und dichtere Luftschichten, in denen man leichter atmet, hineinführt. Hier und dort thronen große runde Granitblöcke auf einem Piedestal von losem Material, Gletschertischen ähnlich; Regen und Wind haben diese eigentümlichen Bildungen ausmodelliert.
Endlich sind wir unten auf der großen Ebene, in die alle Täler münden. Wir reiten an Gerstenfeldern, Pappelhainen, Höfen und Dörfern mit weißen Häusern, die blaue und rote Streifen und Fahnen auf ihren Dächern haben, vorüber! Das Kloster Tugdän lassen wir zur Linken; ein wenig weiter, am Fuß eines Bergausläufers, hatte Muhamed Isa haltgemacht. Wohl an die hundert Tibeter jeden Alters und Geschlechtes umringten die Zelte, unglaublich schmutzig und schwarz, aber sehr freundlich; man verkaufte uns Schafe, Hühner, Milch, Rettiche und Malzbier (Tschang), auch unsere müden Tiere wurden reichlich mit Heu und Gerste versehen. Frauen, mit einem runden Bogen als Schmuck im Nacken, trugen in Weidenkörben Dung zu unseren Feuern herbei und wurden nicht müde, bei uns zu sitzen und uns selber und unsere wunderlichen Beschäftigungen anzustaunen. Hier fand sich auch Ngurbu Tundup wieder bei uns ein und teilte mir die erfreuliche Nachricht mit, daß Kung Guschuk, sein Herr, meine Post weiterbefördern lasse! Er erhielt auch jetzt nur einen Teil seiner Belohnung, der Rest sollte ihm erst ausgezahlt werden, sobald ich Nachricht erhielte, daß die Post wirklich in Gyangtse angelangt sei. Von seinem Herrn händigte er mir ein »Kadach«, ein Willkommentuch, ein und sagte dabei, ihm sei befohlen, uns zu begleiten und uns auf der Reise nach Schigatse behilflich zu sein! Und das war mir das Allerwichtigste. Es bedeutete, daß wir keinen Hindernissen begegnen würden.
Hier war die absolute Höhe nur 3949 Meter, die Luft war warm und schön; um neun Uhr hatten wir bloß noch drei Grad Kälte, und die Zelttür durfte daher offen stehen. Mit Robert und Muhamed Isa hielt ich lange Rat. Sollten wir, statt eines einzigen, nicht lieber zehn Tage in dieser herrlichen Gegend bleiben, wo es alles gab, dessen wir bedurften, und wo die Tiere sich erholen konnten, während ich die seltsamen Klöster besuchte, die Storchnestern gleich auf den Felsvorsprüngen thronten oder glänzend weiß an den Eingängen der Täler lagen? Nein, über den Empfang, der meiner wartet, wissen wir nichts Sicheres; bis Lhasa sind es nur noch elf Tagereisen, und in Schigatse, meinem Ziel, können wir in drei Tagen sein! Von der Regierung haben wir nichts gehört, aber in Schigatse erwartet man uns. Jeden Augenblick kann ein Umschlag zu unseren Ungunsten eintreten. Auch nicht einen kostbaren Tag wollen wir verlieren, morgen in aller Frühe aufbrechen und weiter eilen, solange die Straße noch offen vor uns liegt!
Meine Aufregung näherte sich ihrem Gipfel. Würde es mir nach all den schweren Schicksalen und Abenteuern, die wir erlebt hatten, doch noch gelingen, unser Ziel zu erreichen? Spät am Abend sangen die Ladakis ihre Taschi-lunpo-Hymne, aber weicher und inniger als je zuvor. Als es Mitternacht war, sangen sie noch, und ich hörte aufmerksam zu, obwohl ich das Lied in Tschang-tang schon so oft gehört hatte.
Und dann erloschen die Feuer in meinem ersten Lager im Tal des Brahmaputra! Der Troß, der sich am Morgen des 7. vor den Zelten versammelte, war recht gemischt. Pferde, Esel und Kühe sollten das Gepäck tragen, denn Yaks gab es hier nicht. Südweststurm wehte, als ich eine gute Stunde später aufbrach und die ganze Bevölkerung der Gegend sich versammelt hatte, um sich meine Abreise anzuschauen. Gerade als ich in den Sattel steigen wollte, erschienen drei Abgesandte eines Herrn Tscheppa Deva, der Kung Guschuks Freund war. Sie brachten mir von ihm als Geschenk ein ganzes geschlachtetes Schaf, einen fetten, süßen Kuchen mit Relieffiguren und eingemachten Früchten auf der Oberseite, drei große Butterklöße und 30 Eier! Ein Gegengeschenk konnte ich nicht mehr machen, da die Karawane schon vorausgezogen war, aber ich gab ihnen 15 blanke Rupien und bat sie den mir unbekannten Tscheppa Deva herzlichst zu grüßen. Da sagte der vornehmste der drei: »Dieses Geld müssen wir unserm Herrn abliefern; es wäre daher gut, wenn der Bombo Tschimbo uns ein Extratrinkgeld geben wollte.« Dies war ja eine kluge, vernünftige Rede – sie erhielten noch eine Barzahlung und zogen befriedigt ab.
Die anderen begleiteten mich in Menge, kichernd und schwatzend bis an die nach Schigatse führende Landstraße. Die einladenden Tempelklöster verschwanden auf der rechten und auf der linken Seite unseres Weges, wir ritten durch einen Teil des Dorfes Dsundi, wo lauter Schmiede wohnen, an einer warmen, Gesundheit spendenden Quelle vorbei, über der ein Badehaus erbaut ist – leider wurde es gerade von einigen Kranken benutzt, und wir durften nicht hinein; durch das Dach, die Fenster und die Türen drangen weiße Dampfwolken heraus. Und weiter zieht unsere pittoreske Schar, durch neue Dörfer und Gerstenfelder, an neuen Klöstern, Felsvorsprüngen und Talmündungen vorüber, bis sich über eine unfruchtbare Ebene hinweg der Weg immer mehr nach Süden krümmt, dem Brahmaputra entgegen – ebenso, wie wenn man sich dem Indus von Leh aus nähert, und ebenso wie dort sind lose Steine aus dem Weg geräumt und liegen an den Seiten der Straße.
Da, wo das Tal sich verengt, haben wir das große Kloster Tarting-gumpa links auf seinem Felsen und auf dem rechten oder südlichen Flußufer das Dorf Rokdso mit der Fährstelle, und nun gelangen wir um den ersten Granitausläufer herum, der sich bis in die Nähe des Flusses erstreckt. Hinter dem Dorf Kam mit seinen Äckern und kleinen Gärten reiten wir durch einen 4 Meter tiefen Hohlweg, einen Korridor in gelbem Lößlehm; hier und dort ist er in der Quere von Rinnen durchbrochen, und durch die Lücken erblickt man, wie aus den Fenstern einer Galerie, das große Nebental So, das von Süden her in den Tsangpo mündet. Der Regen hat den Lehm stellenweise zu meterhohen Pyramiden, die einem Wald riesenhafter Morcheln gleichen, phantastisch ausmodelliert. Wir begegnen schwarzen, barhäuptigen Bauern, die beladene Pferde und Esel vor sich hertreiben, und Frauen und Kindern mit Körben auf dem Rücken, die Brennmaterial oder Rüben enthalten. Ein altes Weib saß nach Männerart auf seinem Esel und hopste taktmäßig auf und nieder, ein Vornehmer zu Pferd geleitete seine Gemahlin, einige Landleute gingen pfeifend hinter Kühen her, die mit Heu beladen waren, eine Schar Männer und Weiber in malerischen Trachten zog als Pilger zu den großen Neujahrsfestlichkeiten nach Taschi-lunpo, die mitmachen zu können meine Ladakis schon so lange gehofft hatten. Denn aller Verkehr bewegt sich nach Osten, und wir begegnen nur Leuten, die von einem Dorf in das andere zu Besorgungen gehen.
Der Weg führt jetzt über angeschwemmtes Land, das im Sommer vom Hochwasser überflutet wird und die des Weges Kommenden zwingt, am Fuß der Bergabhänge entlangzuziehen. Auch jetzt ist der Tsangpo imposant; wir rasten eine Weile an seinem Ufer, das unser Weg jetzt zum erstenmal berührt. Das erstemal in meinem Leben trinke ich von dem heiligen Wasser des Brahmaputra! Blaugrün, beinahe ganz klar, gleitet es lautlos und langsam in einem einzigen Flußbett nach Osten, während hier und dort Fische emporschnellen. Nur eine außerordentlich dünne Eiskruste hält das Wasser an den Rändern gefesselt, manchmal aber treibt auch eine wie Bergkristall glänzende Eisscholle an mir vorüber. Ein mit Gerste belastetes Floß schwimmt gerade vorbei, es will nach dem großen Handelsmarkt in Schigatse und verschwindet bald bei der nächsten Krümmung, wo die Steuernden mit ihren langen Stangen gut aufpassen müssen – ein Anblick, der mich lebhaft an meine Fahrt auf dem Tarim im Jahre 1899 erinnerte.
Östlich von diesem Punkt ist der Boden sehr sandig und bildet 2 Meter hohe unfruchtbare Dünen. Auf den allerersten Blick erkennt man schon, wie sie sich gebildet haben, besonders an einem Tag wie diesem, wenn der Weststurm den Flugsand in Wolken vor sich hertreibt, die die gewaltigen, schroffen Felswände auf dem rechten Flußufer dem Blick oft ganz verhüllen. Während des Hochwassers setzt der Fluß an den seichten Stellen Schlamm- und Sandmassen ab, die im Winter freiliegen und trocknen. Der Westwind nimmt dann das angeschwemmte Material mit, um weiter östlich Dünen zu bilden; da, wo diese tief genug liegen, spült das nächste Hochwasser sie wieder fort, und nachdem es sich verlaufen hat, beginnt derselbe Vorgang von neuem. So geht im Tal des Tsangpo eine ununterbrochene Massenversetzung festen Materials von Westen nach Osten vor sich. Es bleibt nicht dabei, daß der Fluß sich sein Bett durch seine eigene Schwere gräbt und im Wasser Schlammassen mit sich führt; auch das an den Ufern abgesetzte Material wird vom Wind, der dem Wasser zu Hilfe kommt, fortgetragen. Winde und fließendes Wasser arbeiten einträchtig miteinander und verfolgen dasselbe Ziel, diese gigantische Abflußrinne immer tiefer auszuwaschen. Seit unzähligen Jahrtausenden haben sie daran gearbeitet und das Resultat ist das Tsangpotal, wie es sich heute meinen Augen zeigt.
Nach achtstündigem Ritt kamen wir in einem kleinen, aus dreißig Häusern bestehenden Dorf namens Rungma an, wo die Zelte in einem Garten wieder zwischen Pappeln und Weiden aufgeschlagen wurden (Abb. 97). Wie schön erschien es uns, die wir ein ganzes halbes Jahr auf dem öden Tschang-tang-Plateau gelebt hatten, nun wieder den Wind durch die entlaubten Zweige der Bäume sausen zu hören! Jetzt wurden die Feuer nicht mehr mit getrocknetem Dung gespeist, trockne Holzbrände sprühten zwischen den Zelten und warfen ihren blendenden Lichtschein auf die Baumstämme und die Tibeter.
97. Am Ufer des Brahmaputra bei Lamo-tang.
Auch am 8. Februar machten wir einen langen Ritt. Ngurbu Tundup beklagte sich, daß ihm sein Maulesel entlaufen sei; er müsse daher hier bleiben und bitte mich, ihm den Rest der Belohnung, die ich ihm versprochen, jetzt auszuzahlen. Dieser Kniff war aber zu leicht zu durchschauen. Ich argwöhnte, daß die Post am Ende doch nicht richtig in Gyangtse angelangt sei. Wir waren jedoch noch nicht weit vom Dorfe, als uns Ngurbu auf einem geliehenen Pferde mit klingelnden Schellen nachgeritten kam. Als wir das Lager aufgeschlagen hatten, mußte er zur Strafe gleich nach Schigatse weiterreiten, um Kung Guschuk mitzuteilen, daß ich am nächsten Tag eintreffen würde und ein ordentliches Haus bereitgehalten haben wollte. Das war unbedacht gehandelt! Denn, wenn Kung Guschuk irgendeinem Chinesen erzählt hätte, was er wußte, so hätte man mich noch im letzten Augenblick vor der Stadt anhalten können!
Weiter und weiter nach Osten führt die gewundene Landstraße auf dem nördlichen Ufer des Tsangpo an terrassenförmigen Äckern vorbei, die der Fluß bewässert. Man ist erstaunt, so viel kulturfähigen Boden und eine solche Menge bewohnter Dörfer mit massiven Steinhäusern und Gärten in Tibet zu finden.
Bei Lamo-tang bespült der Fluß den bergigen Fuß des linken Ufers, und hier führt ein schmaler und halsbrechender Pfad im Zickzack an steilen Abhängen hinauf (Abb. 98). Doch braucht er nur in der Zeit des Hochwassers benutzt zu werden. Jetzt ziehen wir auf einem längs des Fußes aufgemauerten Wege dahin. Der Fluß sieht nun ganz anders aus als gestern; seine Oberfläche ist mit porösen Eisschollen halb angefüllt (Abb. 99), aber über Nacht waren auch 18,8 Grad Kälte. Tanzend und rasselnd treiben sie flußabwärts und streifen den am Lande festsitzenden Eissaum, auf dem sie ihre kleinen weißen Eiswälle aufschichten. Sie folgen der stärksten Strömung und bleiben manchmal auf Sandbänken liegen, die in dem grünen, klaren Wasser rotbraun schillern. Eine großartige Landschaft unter blauem Himmel und zwischen schweren, zerklüfteten Bergmassen! Am Nachmittag nahm die Menge des Treibeises schon ab, und am Abend bei unserem Lager war es ganz verschwunden.
98. Ein Haus im Dorf Rungma.
99. Das Tal des Tsangpo westlich von Lamo-tang.
Der Weg führt bergauf über die äußerste Spitze des Felsvorsprunges auf einer Steintreppe, auf der man lieber zu Fuß geht, und dann steigen wir wieder nach dem ebenen Talgrund hinunter, an neuen Dörfern und neuen Klöstern vorüber, die stets von Tschorten und Manis umgeben sind und oft, wie Tikse-gumpa in Ladak, auf Felsen thronen. Tanak-putschu ist ein mächtiges Tal, das von Norden kommt und dessen Fluß die Felder aller Dörfer in Tanak bewässert. Eine klare Beschreibung dieses Tales konnte ich nicht erhalten; man sagte mir nur, daß es von einem hohen Paß im Norden komme; ich weiß daher nicht, ob es, wie das My-tschu-Tal und das Schang-tschu-Tal, vom Transhimalaja kommt oder nicht. Doch wenn es so sein sollte, dann ist die östliche Wasserscheide des My-tschu eine hydrographische Grenze gegen den Tanak-putschu und nicht gegen den Schang-tschu. Die Frage läßt sich nur an Ort und Stelle durch künftige Forschungen lösen.
In Tanak (»das schwarze Pferd«) lagerten wir in einem hübschen Garten, wo ein kleines Haus mit bunt bemalter Veranda dem Taschi-Lama als Quartier dient, wenn der hohe Prälat seine jährliche Reise nach dem Tempel Taschi-gembe macht (Abb. 100). Der Garten liegt oben auf der Geröllterrasse, die senkrecht nach dem Flusse abfällt und von deren Rand aus man eine prachtvolle Aussicht über den Tsangpo hat (Abb. 101). Der Fluß wird hier bald Sangtschen, bald Tsangpo-Tschimbo, d. h. »der große Fluß«, genannt. Der Tsangpo ist Tibets Fluß par préférence. Nach Waddell wird dieser Name bisweilen so geschrieben, daß er eine getreue Übersetzung des Namens Brahmaputra ist, der »Sohn des Brahma« bedeutet. Den Namen Jere-tsangpo haben wir bereits kennen gelernt, und weiter westlich werden wir noch mehrere Namen finden. Im unteren Teil seines Durchbruchs durch den Himalaja heißt er Dihong, und erst, wenn er aus dem Gebirge herausgetreten ist, um die Ebenen Assams zu bewässern, nimmt er den Namen Brahmaputra an.
100. Haus und Garten des Taschi-Lama in Tanak.
101. Der Tsangpo mit Eisgang, östlich von Tanak.