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Fünftes Kapitel.
Aufbruch nach Tibet.

Unter der aufs äußerste angestrengten Arbeit flogen die Tage in Leh nur so dahin, aber das Ergebnis unserer Mühen war eine stattliche, vollkommen marschfertige Karawane. Robert und Muhamed Isa schienen von meiner Sehnsucht, aufzubrechen, angesteckt zu sein, denn sie arbeiteten von Morgen bis Abend und paßten auf, daß die andern ihre Pflicht taten. Ich verabschiedete mich von dem liebenswürdigen Hauptmann Patterson, der uns auf so manche Weise geholfen hatte, und am 13. August standen die Lasten der zweiten großen Karawane paarweise auf dem äußeren Hofe; sie brauchten nur noch auf die Packsättel der Pferde gehoben zu werden.

Am nächsten Morgen um 4 Uhr brach Muhamed Isa auf, und einige Stunden später folgte ich mit Robert und Manuel, vier Reitpferden und neun Pferden für unser Gepäck. Hadschi Naser Schah und seine Söhne, unsere zahlreichen Lieferanten, die Behörden und Punditen der Stadt und viele andere hatten sich zum Abschied eingestellt und gaben uns die freundlichsten Wünsche, zahlreiche »Salam« und »Dschole«, mit auf den Weg.

Eine Bettlerschar eskortierte uns durch die Hauptstraße, auf der Freitreppe seines Hauses machte uns der Kaufmann Mohanlal seine Verbeugung, und durch das kleine Stadttor gelangten wir in die Vorstadtgassen. Aber schon bei der ersten Biegung hatte das Pferd, das meine beiden Tageskisten trug, seine Last satt und befreite sich in einem Augenblick davon. Sie wurden nun einem andern Pferde aufgeladen, das friedlicher aussah; es trug sie auch bis zum Begräbnisplatz der Mohammedaner, aber da war es ebenfalls ihrer überdrüssig, scheute, ging durch, verschwand zwischen einigen Tschorten und schleuderte die Kisten so schnell auf die Erde, daß es geradezu ein Wunder war, wenn sie nicht auf dem Geröll und den Felsblöcken in tausend Stücke gingen. Im Handumdrehen wickelte sich der Gaul aus allen Stricken heraus und galoppierte mit dem Packsattel, der ihm nachschleppte und hinter ihm hertanzte, zwischen den Grabmälern umher, unter denen die Mohammedaner in Ruhe schlummerten. Damit die Kisten nicht völlig ruiniert würden, mieteten wir für diesen Tag ein sanftes Pferd. So geht es im Anfang immer, ehe die Tiere sich an ihre Lasten und Packsättel gewöhnt haben. Hier klappern ein paar eiserne Eimer oben auf einer Last, dort die Griffe eines Jakdans, dann wieder sind es ein paar Zeltstangen, die auf- und niederwippen und bei jedem Schritt gegeneinanderschlagen. Die Ruhe im Stall hat die Pferde nervös gemacht, sie sind dick und feist von den duftenden Bündeln saftigen Klees, stark, munter und zum Tanzen auf der Landstraße sehr geneigt. Jedes Pferd mußte jetzt von einem Manne geführt werden; aber endlich kamen wir aufs freie Land hinaus, unsere Begleiter verließen uns einer nach dem anderen; der letzte, der mir Lebewohl sagte, war der prächtige, edle Reverend Peter.

Dann ging es abwärts, an endlosen »Mani-ringmos«, langen Mauern aus Mani-Steinen, vorbei, durch enge Stellen zwischen kleinen Felsrücken hindurch, und so näherten wir uns wieder dem Indus. Ein Felsenvorsprung wurde passiert, darauf ein zweiter unmittelbar an einem Flußarm, und hinter ihm öffnet sich die Aussicht auf Sche mit seinem kleinen Kloster auf der Felsspitze. Der Weg führt durch das Dorf, über dessen Kanäle mit ihren steinernen Brücken en miniature, über Rasenplätze und reifende Kornfelder; hier und dort dehnt sich ein Sumpf aus, den übergetretenes Berieselungswasser gebildet hat. Links haben wir Granitfelsen, deren Vorsprünge und Ausläufer von Wasser und Winden rundgeschliffen und poliert sind.

Nachdem wir den Fluß aus dem Gesicht verloren haben und durch das Dorf geritten sind, wo die Leute unsere Pferde durch Trommeln und Pfeifen zu Tode zu erschrecken suchen, werden vor uns das Kloster Tikse(Abb. 37) auf seinem dominierenden Felsen und an dessen Fuß das Dorf Tikse mit seinen Gärten und Feldern sichtbar. In einem Weidengebüsch waren die Zelte schon aufgeschlagen. An der Außenseite des Lagers zog sich die große Landstraße mit ihrem Kanal hin, und hier standen unsere Maulesel und Pferde in langen Reihen vor ihren frischen Grasbündeln angebunden. Die kleinen Hunde wurden sofort herausgelassen; ihr Korb wird ihnen jetzt schon zu klein, sie wachsen sichtlich, beißen mächtig und fangen bereits an, mein Zelt zu bewachen, wo sie wütend kläffen, sobald sie etwas Verdächtiges wittern.

siehe Bildunterschrift

37. Tikse-gumpa, Männerkloster in Ladak. Skizze des Verfassers.

Kaum eine halbe Stunde, nachdem das Lager in Ordnung ist, kommt Manuel und setzt mir Tee und Kakes vor; er ist nach dem Tagesritt etwas mürbe und sieht sehr ernst, schwarzbraun und glänzend aus; wenn er ärgerlich ist, wird er noch schwärzer als gewöhnlich. Robert aber ist von seinem Pferd entzückt, und auch ich habe alle Ursache, mit dem meinigen zufrieden zu sein, einem großen, starken Apfelschimmel aus Jarkent, der über vier Monate aushielt, aber am Heiligabend starb. Der Tag war ordentlich heiß gewesen, und noch um 9 Uhr zeigte das Thermometer 21 Grad. Muhamed Isa trägt die Verantwortung für meine zwanzig Kisten; er hat sie zu einer Ringburg aufgestapelt und mit seinem großen Zelt überdeckt, und hier residiert er zusammen mit einigen anderen unserer vornehmeren Ladakis. Robert und Manuel haben ein gemeinsames Zelt, die Küche aber mit ihrem beständig rauchenden Feuer ist im Freien, und auch die übrigen Leute schlafen unter freiem Himmel.

Erst jetzt hatte die neue Reise im Ernst begonnen – wir waren auf dem Wege nach dem verbotenen Land. Durch eine ganze Kette von Schwierigkeiten und Hindernissen hatte ich mich hindurcharbeiten müssen, um überhaupt zu diesem ersten Tag zu gelangen. In Batum hatte vollständige Revolution geherrscht; in Kleinasien hatte mir der Sultan Abdul Hamid eine Sicherheitswache von sechs Hamidiereitern zum Schutz gegen Räuber mitgegeben; in Teheran zeigten sich schon damals revolutionäre Neigungen; in Seistan hatte die Beulenpest entsetzlich gewütet, und in Indien fand ich das schlimmste von allem: das unbedingte Verbot, von der indischen Seite aus in Tibet einzudringen. Dann folgte all der unnötige Wirrwarr in Srinagar und auf dem Wege nach Leh, und die alberne Geschichte mit dem chinesischen Paß, den ich gar nicht brauchte und dessen Erlangung mir so viel Mühe machte. War das nicht wie das Märchen von dem Ritter, der eine Menge scheußlicher Ungeheuer und Widerwärtigkeiten zu überwinden hatte, ehe er zur Prinzessin auf den Gipfel des Glasberges hinaufgelangte? Nun aber hatte ich endlich alle Bureaukraten, Politiker und andere Störenfriede hinter mir; nun mußte uns jede Tagereise immer weiter von der letzten Telegraphenstation, Leh, entfernen, und dann wartete unser die große Freiheit.

Am 15. August waren gerade einundzwanzig Jahre verflossen, seit ich meine erste Reise in Asien angetreten hatte. Was mochte das nächste Jahr bringen? Würde es ein Höhepunkt oder ein Rückgang sein? Würden die Widerwärtigkeiten fortdauern oder die Tibeter sich freundlicher erweisen als die Europäer? Ich wußte es nicht; die Zukunft lag so dunkel vor mir wie das Industal, wo heute schwere Wolkenmassen um die Berge zogen und der Regen auf dem Zelttuch trommelte. Ich ließ es regnen und freute mich darüber, denn wenn die Niederschläge sich noch weit über Tibet erstreckten, würden die Weiden üppiger sein und die Quellen reichlicher fließen.

Bei Tikse befinden wir uns bedeutend tiefer als in Leh, dann aber geht es wieder aufwärts. Nach kurzem Marsch sind wir bei dem vor 30 Jahren neuangelegten Dorf Rambirpur angelangt, und auf der rechten Seite unseres Weges erhebt sich das kleine Kloster Stagna-gumpa auf seinem Felszahn. Auf dem linken Ufer erscheint das Dorf Tschanga und ein wenig höher oben der Eingang des gut maskierten, kleinen und engen Tales, wo die berühmten Tempel von Hemis versteckt liegen. Über seinen Bergen rollt dumpfer Donner, als ob die Götter auf ihren Altarplatten zornig aufbrüllten.

In der Ecke, wo eine kleine schwankende Holzbrücke über den Indus führt, stehen wieder einige lange Manis; sie sind mit hübsch ausgehauenen Steinplatten gedeckt, auf denen die Silben schon mit einer Verwitterungskruste bezogen sind und sich dunkel von den ausgemeißelten, heller getönten Zwischenräumen abheben. Ehemalige Könige von Ladak haben sie einst ausführen lassen, um dadurch ihr Gewissen zu beruhigen und sich für ein künftiges Leben Verdienste zu erwerben. Sie bezahlten den Lamas die Arbeit; jedermann steht es frei, auf diese Weise die göttlichen Mächte milde zu stimmen. So erhalten auch die Klostermönche eine Einnahme und jedermann, Wanderer und Karawanen nicht zum wenigsten, freut sich der frommen Tat, während die Steinplatten in Regen und Sonnenschein, bei Tag und Nacht, in Kälte und Hitze in ihrer stillen Sprache von schlechten Gewissen und mannigfachen Sünden reden.

Jetzt verlassen wir den Indus zum letztenmal. »Leb' wohl, du in der Geschichte so stolzer, erinnerungsreicher Strom! Gilt es auch mein Leben, so werde ich doch dereinst deine Quelle droben in dem verbotenen Lande finden!« So dachte ich, während ich in Begleitung einiger Tschamadare und Tschaprassis des Staates Kaschmir und einiger meiner eigenen Leute um die Felsenecke herum- und in das Nebental einbog, durch das der Weg an den Klöstern Karu und Dschimre vorbei nach dem Tschang-la hinaufführt. Der Weg wird jetzt schlechter; er verschlimmert sich mit jeder Tagereise und verwandelt sich bald in einen oft kaum mehr erkennbaren Fußpfad, um schließlich ganz zu verschwinden. Die große Straße nach Lhasa, die sich längs des Indus hinzieht und nach Gartok hinaufführt, war mir ja versperrt.

Unsere Reisegesellschaft ist recht stattlich; jeden Abend wird ein Schaf geschlachtet, und in der Mitte der verschiedenen Gruppen, die sich zu gemeinsamer Mahlzeit gebildet haben, kochen die Töpfe über den Feuern. Noch mache ich keinen Versuch, die Namen meiner neuen Diener zu erlernen; es wimmelt ja unter ihnen noch bei jeder Gelegenheit von Kulis und Dorfbewohnern, die kommen und gehen, und ich weiß kaum, wer meine eigenen Leute sind. Einstweilen muß es noch so gehen; es wird schon die Zeit kommen, daß ich ihre nähere Bekanntschaft mache, wenn sich erst alle fremden Elemente verlaufen haben. In der Dunkelheit ertönt wehmütiger Gesang; es ist der Nachtwächter, der singt, um nicht einzuschlafen.

Schon bei Dschimre sind wir auf einer Höhe von 3651 Meter, und während der ganzen Tagereise bis nach Singrul, wo wir uns 4898 Meter über dem Meere befinden, geht es aufwärts. Der Weg zieht sich meist auf den steinigen, unfruchtbaren Abhängen der linken Talseite hin, während der Bach näher an der rechten entlangfließt, wo intensiv grüne Felder seinen Wasservorrat derartig brandschatzen, daß bei seinem Austreten aus dem Tal nur wenig davon übrig ist. Durch ein Seitental von rechts führt ein Paßweg nach Nubra. In Sakti verirrt man sich in einem Labyrinth von engen Gängen zwischen Hütten und Tschorten, Geröllblöcken und Mauern, Mani-Steinwällen und Terrassen, die den horizontalen, stufenartig angelegten Äckern als Stützen dienen. Auf der Höhe über uns sieht man den Tschang-la, und schon beim Anblick der gewaltigen, abschüssigen Steigung des dort hinaufführenden Weges wird einem schwindlig.

Tagar ist das letzte Dorf vor dem Passe; hier hatte ich früher schon ein paarmal Rast gehalten. Seine Weizenfelder ziehen sich noch eine Strecke weit talaufwärts, laufen dann aber keilförmig zu und setzen sich schließlich nur noch als schmaler, gewundener Grasstreifen in der eigentlichen Rinne der Talsohle fort. Die verschiedenen Kolonnen der Karawane schreiten immer höheren Regionen zu, einige sind schon am Ziel, und die letzten haben wir eingeholt. Der Pfad führt steil zwischen gewaltigen Blöcken von grauem Granit aufwärts, so daß unsere Ladakis aufpassen müssen, daß die Kisten nicht daran stoßen.

Nach vier und einer halben Stunde sind wir oben auf der kleinen terrassenförmigen Raststelle Singrul, und von den mit Yakdung unterhaltenen Feuern schwebt der blaugraue Rauch über den nur spärlich mit Gras bewachsenen Boden hin, den ein kristallheller Quell durchrieselt. Eine hochalpine, kalte und unfruchtbare Landschaft umgibt uns (Abb. 40). Muhamed Isa thront wie ein Pascha in seiner Burg von Kisten und Proviantsäcken, das übliche Schaf wird geschlachtet und zerlegt und strandet dann mit Magen, Gedärmen und allem sonstigen in dem gemeinsamen Kessel. Nur der Kopf und die Füße werden auf Steinen am Feuer gebraten. Einige der Männer nehmen sich das Fell und benutzen den Abend dazu, um es zu reiben und weich zu machen – vermutlich soll es als Bettdecke benutzt werden.

siehe Bildunterschrift

40. Von Singrul nach dem Passe Tschang-la. Skizze des Verfassers.

Die beiden Radschputen saßen ein wenig von den anderen entfernt an ihrem eigenen kleinen Kochtopf und verzehrten, wie ich sah, ein sehr leichtes Mittagessen von Spinat, Brot und Reis. Die dünne Luft schien ihnen gar nichts auszumachen und die Kälte auch nicht; dagegen waren die kleinen Hunde sehr mißmutig darüber, daß das Thermometer am Abend nur noch 7 Grad zeigte; sie jaulten jämmerlich und krochen unter meinem Zeltbett zu einem einzigen Knäuel zusammen. Die vier Kulis, die das Boot trugen, gingen noch über Singrul hinaus nach einer Grotte, wo sie, wie sie sagten, besser vor der Nachtkälte gesichert sein würden. Gegen Abend schwoll der Bach an und einer seiner Arme steuerte gerade auf mein Zelt los; es mußte durch einen provisorischen Damm geschützt werden. Die Ladakis saßen höher oben und schlürften ihren roten, mit Butter gemischten Tee, und an mehreren Stellen erhellten rötlichgelbe Feuer die Nacht.

Die Temperatur sank auf -6,1 Grad, und es ward wirklich recht unbehaglich in diesen hohen, rauhen Regionen, wo die Winde frei ihr Spiel treiben und die Sonne den Schnee noch nicht überwältigt hat; noch liegen überall ziemlich große Schneeflecken, und von ihren Rändern rieseln klare Bächlein herab, an deren Seiten saftiges Moos und Gras sprießt, das wie ein feiner Rasenteppich aussieht. An Indiens Wärme gewöhnt, empfindet man die Kälte besonders heftig beim Aufstehen, wenn der Hagel wie Zuckerkügelchen gegen das Zelt schmettert. Ein blauschwarzer Rabe sitzt auf einem Steinblock, fliegt manchmal herab, um zu untersuchen, was wir liegengelassen haben, schmatzt und schluckt mit klingendem Ton und scheint mit seiner Morgenbeute zufrieden zu sein.

Schwer und langsam arbeiten sich die Pferde und die Maulesel durch diesen ewig grauen Granitschutt und zwischen den im Wege liegenden Blöcken im Zickzack hinauf. Unsere Truppe ist bedeutend verstärkt, denn die Tiere brauchen auf den Abhängen Hilfe und die Lasten geraten leicht ins Rutschen. Um, wie unsere Kulis, diese Höhen mit schweren Lasten auf dem Rücken zu erklimmen, bedarf es besonders konstruierter Lungen, eines guten Brustkorbes und eines kräftigen Herzens. Immer höher hinauf geht es zu dem Paß in der gewaltigen Bergkette, die den Indus von seinem großen Nebenflusse Schejok trennt. Noch sehen wir die grünen Felder drunten in der Tiefe des Tales, die Vogelperspektive und ihre kartographische Wirkung steigern sich immermehr, und immer deutlicher und übersehbarer wird die Landschaft, die hinter uns bleibt. Scharf gezeichnete orographische Linien lassen uns das Industal ahnen, und die mächtige Kette auf seiner anderen Seite steigt dunkel und mit Schnee bedeckt vor uns auf. Fünfzig mit Salz beladene Maulesel aus Rudok drohen uns den Weg zu versperren, werden aber von unseren Leuten beiseite getrieben. Von Zeit zu Zeit machen wir halt, um die Tiere verschnaufen zu lassen. Dann geht es wieder eine Strecke aufwärts; immer häufiger muß gerastet werden; die Pferde schnauben, dehnen ihre Nüstern und atmen schnell. Und dann wieder eine Strecke bis zum nächsten Ruhepunkt.

Endlich aber sind wir oben, 5360 Meter über dem Meere! Allerdings zeigte das Thermometer 5,2 Grad über Null, aber es war Nordwind, der Himmel überzog sich mit dichten Wolken, die über die Kämme des Gebirges heranfegten, und bald darauf hagelte es wie Rutenschläge auf uns nieder. Oben auf dem Tschang-la steht ein Steinhaufen mit Opferstangen, die überall mit zerlumpten, vom Wind zerrissenen Wimpeln behängt sind; alle diese Wimpel tragen in tibetischen Schriftzeichen das Gebet der heiligen sechs Silben; bunt und verblichen, flattern und klatschen sie im Winde, als wollten sie die Gebete antreiben, sich in immer höhere Regionen auf unbekannten Wegen zu den Ohren der Götter emporzuschwingen. Hörner und Schädel zieren das erhabene Opfermal. Hier machen alle unsere Ladakis der Reihe nach halt, schreien Hurra, tanzen, schwenken ihre Mützen und freuen sich, diesen kritischen Punkt ohne Mißgeschick erreicht zu haben.

Der Abstieg nach Osten hin vom Passe hinunter ist jedoch noch schlimmer; lauter Schutt, Blöcke jeder Größe, scharfkantige Granitstücke und dazwischen eine ewige Schlammsuppe, worin es bei jedem Schritte der Pferde gluckst und quatscht. Bisweilen gleicht der Pfad mehr einer Treppe, auf der es kopfüber hinabgeht, aber unsere Pferde sind sicher auf den Füßen und an schlechtes Terrain gewöhnt; kalt und öde, rauh und grau, windig und düster ist es – wie anders als in den sonnigen, sommerlich warmen Gegenden, die wir kürzlich verlassen haben!

Am Fuße des eigentlichen Paßkegels wartete der alte Hiraman, ein Freund von meiner früheren Reise her. Der Alte war ganz unverändert, vielleicht noch ein bißchen runzeliger als gewöhnlich (Abb. 43).

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43. Mein alter Freund Hiraman aus Ladak.

Nach einer Nacht mit 7,1 Grad Kälte ritten wir von Sultak weiter, an seinem kleinen, durch Moränen aufgestauten See vorbei und das Gerölltal hinab (Abb. 41). Jetzt mußten die Hunde laufen und taten es auch während des kurzen Tagemarsches ohne Murren; als sie aber in Drugub anlangten, bereuten sie ihre Kraftprobe aufrichtig und waren so erschöpft vor Müdigkeit, daß sie sogar ihre übliche Beißerei vergaßen.

siehe Bildunterschrift

41. Aussicht von Soltak. Skizze des Verfassers.

Drugub (Abb. 42) liegt nur 3900 Meter hoch, und auf der kurzen Strecke bis Tankse stiegen wir auch nur 91 Meter; von da an aber geht es langsam wieder bergauf, bis man schließlich auf die großen offenen Hochebenen gelangt, wo die Höhenunterschiede während des monatelangen Vorrückens bloß unbedeutend wechseln. Oberhalb Tankse erhebt sich im Hintergrund ein mächtiger, schön gemeißelter Bergstock; auf seinen beiden Seiten gähnen tiefe Täler; durch das südliche geht ein Weg nach Gartok, den ich später kennen lernen sollte, durch das nördliche aber die Straße nach Muglib, auf der ich schon früher marschiert war; diese sollte ich nun wiedersehen und zwei Tagereisen lang auf Wegen ziehen, die mir wohlbekannt waren.

siehe Bildunterschrift

42. Drugub. Skizze des Verfassers.

Der Tanksefluß ist ziemlich wasserreich; wir überschritten ihn an einer breiten, seichten Stelle, wo das Gefälle sehr schwach ist; das Wasser ist fast ganz klar, von blaugrüner Farbe und gleitet lautlos wie Öl über den Kiesgrund des Bettes hin. Das ganze Dorf war auf den Beinen und sah zu, wie mein Zelt aufgeschlagen wurde in dem kleinen Gebüsch einiger Weiden, die entschlossen den Kampf mit der hohen Lage und dem rauhen Klima aufgenommen hatten. Dies waren aber auch die letzten Bäume, die wir während des nächsten halben Jahres zu sehen bekamen.

In Tankse rasteten wir einen Tag und schlossen mit den Männern ab, die mit ihren dreißig gemieteten Pferden warteten. Auf den ersten Tagemärschen macht man stets allerlei Erfahrungen, und auch jetzt blieb noch dieses und jenes abzuändern. So stellte Muhamed Isa für die Karawanenleute ein großes tibetisches Zelt mit breiter Rauchspalte auf dem Dache her. Rings um den inneren Zeltrand sollten die Proviantsäcke einen Wall zum Schutz gegen den Wind bilden und dort selbst vor Regen geschützt sein. Außerdem wurde geröstetes Mehl, Gewürz und Tabak für die Leute gekauft, dazu alle Gerste, die in der Gegend zu haben war. Die Häuptlinge von Tankse und Pobrang (Abb. 44) erboten sich, uns einige Tage zum Vergnügen zu begleiten, um aufzupassen, daß alles gut gehe.

siehe Bildunterschrift

44. Sampul und Tschenmo, die Dorfältesten von Pobrang und Tankse, links mein Karawanenführer Muhamed Isa.

Spät am Abend erhellten flammende Feuer in Muhamed Isas Lager die Gegend, und die lärmende Musik klang fröhlicher als je. Die Karawanenleute nahmen mit einem Schmause Abschied von der »Zivilisation« und hatten die Dorfhonoratioren und Tänzerinnen zu Tee und Gesang geladen. Es ging dabei recht heiter zu; das Gerstenbier »Tschang«, ein Nationalgetränk Ladaks, brachte Gäste und Wirte in fröhliche Stimmung, und noch als ich einschlief, hörte ich Frauengesang, Flötentöne und Sackpfeifermelodien von den Bergwänden widerhallen.

Am 21. August setzten wir uns wieder in Bewegung; bei unserem Abzug war ganz Tankse auf den Beinen, außerdem noch die Eingeborenen, die sich aus den Nachbardörfern gesammelt hatten, und alle riefen uns nun ganz freundlich ein letztes »Dschole« und »Glückliche Reise« zu.

Hier begann ich das erste Kartenblatt zu zeichnen und damit eine Arbeit, die nun länger als zwei Jahre meine Aufmerksamkeit angespannt auf jeden Kilometer des zurückgelegten Weges und auf alles richten sollte, was sich von meiner Route aus beobachten ließ. Zugleich begann das Sammeln von Gesteinproben; Handstück Nr. 1 war von kristallinischem anstehendem Schiefer, während der Talboden noch immer mit großen und kleinen Granitblöcken bedeckt war.

Wir ließen das kleine Tanksekloster auf seinem Felsenvorsprung links liegen und hielten uns von jetzt ab auf der rechten Seite des Muglibbaches, bald am Fuß des Bergstockes und an seinen Schuttkegeln vorbei, bald über deutlich erkennbare Geröllterrassen, bald wieder längs des Bachufers, wo sich hier und dort eine Wiese en miniature ausdehnt. Im Talkessel bei Muglib dagegen ist gutes, üppiges Weidegras; dicht am Bach sind die Wiesen sumpfig und tückisch, aber weiter oben ist der Boden sandig und sogar Disteln kommen zwischen dem Grase vor, das in Rasenbüscheln den Boden bedeckt.

Hier weideten unsere 130 Tiere, die in aller Eile besichtigt wurden. Sonam Tsering mußte Rechenschaft ablegen über sein Vogtamt, das er trefflich verwaltet hatte. Unsere Maulesel sahen nun, nachdem sie fünf Tage lang im Freien auf den Wiesen von Muglib gegrast hatten, fett und rundlich aus. Mein Lager war jetzt zum erstenmal vollständig beisammen und nahm sich mit seinen vier Zelten und seinen vielen Gruppen der um verschiedene Feuer sitzenden Männer recht stattlich aus. Überall hört man Pferde wiehern und Esel schreien, die Männer nehmen ihnen die Packsättel ab, um nachzusehen, ob deren Unterseite auch glatt ist und keine Wunden scheuern kann, die Tiere werden gestriegelt und gefüttert, ihre Hufe werden untersucht und frisch beschlagen, wenn die alten Hufeisen auf dem bisherigen steinigen Gelände abgenutzt sind.

Das Dorf Muglib besteht aus drei armseligen Hütten, deren zwölf Bewohner Gerste und Erbsen bauen. Man erwartete die Gerstenernte in zehn Tagen, aber die Erbsen standen noch in voller Blüte und konnten vor dem Eintreten der Nachtfröste nicht mehr reif werden; sie werden dann, während sie noch saftig und grün sind, als Pferdefutter verbraucht. Ich fragte einige Leute aus Muglib, was sie im Winter täten. »Schlafen und frieren«, antworteten sie.

Die Sonne war am folgenden Morgen noch nicht aufgegangen, als mich Geschrei und Geklapper, lautes Reden, Rossestampfen und Gewieher aus dem Schlafe weckten – die schwere Kavallerie brach unter Muhamed Isas Führung auf! Und dann machten die Hündchen ausfindig, daß mein Bett ein trefflicher Spielplatz sei, und ließen mir keine Ruhe mehr. Manuels Morgenfeuer in der Küche begann zu knistern, und duftende Dämpfe verrieten, daß es zum Frühstück Hammelkotelettes gab. Nun, ich war ja an das Feldleben gewöhnt, hatte es aber nie so gut gehabt wie jetzt und war noch nie Besitzer einer so großen und so vollständigen Karawane gewesen.

Oberhalb des Dorfes geht es sechsmal über den Bach; er ist ganz klein, und seine Wassermenge scheint immer die gleiche zu sein, denn er kommt aus einem kleinen See, an dessen Ostufer ich im Dezember 1901 gelagert hatte. Jetzt folgen wir seinem Nordufer über mehrere recht beschwerliche Bergausläufer von schwarzem Schiefer und Quarzit hinweg; weiterhin ist der Boden bald mit Kies bedeckt, bald hat er kleine Flächen mit struppigem Gras, und ist dann wieder sehr sandig. Bisweilen rieseln wasserreiche klare Quellen gerade an den Bergseiten hervor, wo sich in den Mündungen der Schluchten mächtige Schuttkegel fächerartig nach dem Tale hinziehen.

Ein beflaggter Steinhaufen und ein Mani bezeichnen den hydrographisch wichtigen Punkt, der eine Wasserscheide zwischen dem Panggongtso und dem Indischen Ozean bildet; seine Höhe beträgt 4327 Meter. Von hier aus fällt das Tal langsam nach dem See ab, und wir reiten in der Rinne, die einst seinen Abfluß nach dem Schejok und dem Indus bildete.

Jetzt ist der Panggong-tso (tso = See) vom Indus abgeschnitten und hat infolgedessen salziges Wasser. Hinter einem Bergvorsprung auf der rechten Talseite, der die Aussicht verdeckt, tritt die westliche Spitze des Sees hervor, und nachdem wir noch ein paar Minuten geritten sind, entrollt sich vor mir ein großartiges Panorama: der große blaugrüne See zwischen seinen kolossalen Felsen. Sein Nordufer entlang war ich vor fünf Jahren mit meinen Kamelen gezogen, meinen alten tüchtigen Veteranen, die in Ladak solches Aufsehen erregt hatten, daß ich dort noch immer der »Kamelherr« genannt wurde!

Gerade an der Stelle, wo der Pobrangfluß mündet und sein flaches, lagunenreiches Delta bildet, hielt ich eine Weile Rast, um mit dem Kochthermometer noch eine kontrollierende Höhenbestimmung zu erhalten, dann ritten wir am Flusse entlang; im Dezember 1901 war er mit Flugsand angefüllt, jetzt aber voll Wasser. Wenn im Winter der Zufluß aufhört, füllt sich das Bett augenscheinlich mit Sand, aber die Dünen werden wieder fortgespült, sobald die Frühlingsflut einsetzt.

Lukkong ist ein kleines Dorf mit ein paar Steinhütten, einem Gerstenfeld, einem Tschorten, einer Wiese und einer verkrüppelten Bergpappel. Von hier aus zog sich unser Weg nach Norden und Nordosten durch das breite, mit Geröll bedeckte Tal, wo man schon eine Vorahnung von den flacheren Bodenformen des tibetischen Plateaus bekommt. Wir befanden uns in einem Gebiet, das nach dem Meere hin keinen Abfluß mehr hat; wir hatten bereits drei wichtige Schwellen, nämlich den Sodschi-la, den Tschang-la und heute auch den kleinen Panggongpaß überschritten, hatten aber noch zwei gigantische Pässe vor uns, ehe wir endgültig die weite Fläche des Hochlandes betraten. Hinter dem ersten mußten wir nochmals in das Stromgebiet des Indus hinabsteigen, hinter dem zweiten aber erwartete uns ein abflußloses Gebiet, bis wir später in die Gegenden gelangten, die durch das obere Talgebiet des Brahmaputra einen Abfluß nach dem Weltmeer haben.

Von einem kleinen Paß mit einigen Steinmalen aus hatten wir schließlich eine überraschende Aussicht über ein Tal, das mit dem eben durchwanderten parallel lief und reich an grünen Wiesen war. Oberhalb und unterhalb des Dorfes Pobrang zeigten sich zahlreiche Zelte und Lagerfeuer, und der Weidegrund war schwarz getupft von Karawanentieren, denn mein Lager war nicht das einzige, das Pobrang heute einen flüchtigen Besuch abstattete; auch ein englischer Schikari war dort zu Gaste, ein Mr. Lucas Tooth, der im Gebirge gejagt hatte und mit seiner Beute an Antilopengehörnen sehr zufrieden war. Wir unterhielten uns bis Mitternacht in meinem Zelt; es war der letzte Europäer, den ich während einer Zeit von mehr als zwei Jahren gesehen habe.


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