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Ein düsterer, unfreundlicher Tag, dieser 4. Januar 1907! Gegen Mittag stellte sich Islam Ahun ein, halbtot vor Müdigkeit. Er hatte das Hauptquartier am Morgen des 2. Januar verlassen und mich im Zickzack über den See gesucht, war am westlichen und am südlichen Ufer gewesen und hatte uns nun endlich, geleitet von der frischesten Spur der Schlittenkufen, in unserer Schlucht gefunden. Er überbrachte mir einen Brief von Robert: »Gestern, am 1. Januar, kamen sechs bewaffnete Männer ins Lager, stellten einige Fragen und verschwanden wieder. Heute aber, am zweiten, sind sie in Begleitung anderer Männer zurückgekehrt und sagen, der Gouverneur von Naktsang habe befohlen, uns nicht weiterziehen zu lassen, weil wir keinen Paß vom Devaschung hätten; wir müßten daher bleiben, wo wir seien. Sie wollen auch Masters Antwort haben, um den Gouverneur zu benachrichtigen, der sofort nach Lhasa berichten will! Sie warten ungeduldig auf Bescheid, und daher schicke ich diesen Brief.«
Nachdem Islam Ahun sich ausgeruht und satt gegessen hatte, mußte er mit einem Brief an Robert nach dem Lager 97 zurückgehen. Robert solle den Abgesandten sagen, daß ich nicht eher Antwort geben würde, als bis ich sie persönlich träfe; wenn ihnen aber so sehr darum zu tun sei, meine Antwort zu hören, so sollten sie sich am Nachmittag des 5. Januar am nördlichen Ufer, drei englische Meilen östlich vom Lager 98, einfinden. Wenn nicht, seien sie selber für die Folgen verantwortlich. Muhamed Isa solle als Dolmetscher mitkommen.
Jetzt spitzte sich die Lage also zu. Es handelte sich nicht mehr um falschen Alarm. Berichte über unsere Reise waren nach Lhasa geschickt worden, und wir waren in den Händen des Statthalters von Naktsang! Ich hatte durch meinen Brief an Robert die Entscheidung nur hinausgeschoben, um Zeit zu gewinnen, wenigstens noch eine Lotungslinie abzugehen. Wenn ich in Naktsang nichts weiter gewönne, wollte ich doch wenigstens den Ngangtse-tso vollständig erobert haben. Nachher mochte dann der große Rückzug beginnen! Die ungeheure Aufregung, in der ich während des letzten Monats geschwebt hatte, hatte nun ihren Höhepunkt erreicht: der Ngangtse-tso sollte also der Wendepunkt meiner Reise durch Tibet werden. Ich hörte förmlich wie die Angeln knirschten und kreischten, als die großen Pforten des Landes der Heiligen Bücher, des verbotenen Landes im Süden, vor mir zugeschlagen wurden.
Schließlich brachen auch wir nach dem Lager 104 auf, das im Osten des Lagers 99 am Südufer lag.
5. Januar. Alle Halme und Stengel waren bereift, als wir in aller Frühe nach N 19° O über das Eis zogen. Der Tag war herrlich, windstill, die Luft schön, beinahe warm. Wurde es schon Frühling? Trat der Frühling in diesen südlicheren Gegenden etwa so früh ein? Er war uns noch so fern erschienen, daß wir es nicht der Mühe wert hielten, uns nach seinen linden Lüften zu sehnen, während uns noch die ganze Winterkälte von Tschang-tang im Leibe saß. Wir brauchten mehr Wärme, um richtig aufzutauen. Das Eis lärmte, trommelte und knallte in der Nacht wie toll, aber seinetwegen war es nicht, daß ich schlecht schlief!
Die Eisfelder bildeten hier lange Wellen; Schirmwände von emporgepreßtem und dann erstarrtem Wasser, die spröde wie Glas waren, zeigten sich alle Augenblicke. Die größte Tiefe fanden wir, als wir 10,7 Kilometer auf dem See zurückgelegt hatten, 10,03 Meter; sie war die bedeutendste, die wir auf dem Ngangtse-tso abloteten. Der See ist also im Osten tiefer; der Westwind füllt seine Westhälfte energischer mit Sand und Staub aus.
Auf halbem Weg sahen wir einen kleinen schwarzen Punkt auf dem Eise aus der Richtung des Laäntales nahen. Es war der Hadschi mit einem Brief. Die Abgesandten hatten neue Befehle vom Gouverneur von Naktsang erhalten. In vier Tagen wolle er sich in eigener hoher Person bei mir einfinden, bis dahin sollten uns seine Abgesandten scharf überwachen! Daher blieben sie bei der Karawane, erlaubten Robert und Muhamed Isa aber das Hauptquartier nach einer Stelle im Südosten des Lagers 97, wo bessere Weide war, zu verlegen. Mir blieben also noch ein paar Tage der Freiheit. Der Gouverneur von Naktsang! Er war es, der mir 1901 im Süden des Selling-tso Halt geboten hatte. Von ihm hatte ich kein Erbarmen zu erwarten! Im Gegenteil, ich hatte ihm das vorige Mal soviel Schererei und Unannehmlichkeiten verursacht, daß er über meine Rückkehr in seine Provinz wütend sein mußte.
Am 6. Januar befand Ische sich so schlecht, daß der Hadschi ihn mit nach Hause nehmen mußte. Jetzt zogen wir über den See wieder nach N 49° O. Wir waren erst bis an die zweite Wake gelangt, als hinter uns drei Männer auftauchten, die unserer Spur folgten. Sie winkten uns, stehenzubleiben, es waren also neue Nachrichten gekommen! Wir konnten noch die Wake aufhauen und loten, ehe sie bei uns laufend anlangten. Es war Muhamed Isa mit noch zweien meiner Leute, schweißtriefend und atemlos, und ich bat sie »es sich auf dem grünen Rasen bequem zu machen«.
»Was gibt's neues im Hauptlager?« fragte ich.
»Sahib, 25 Tibeter haben ihre Zelte um die unseren herum aufgeschlagen. Heute morgen wollten wir das Hauptquartier nach dem Ufer verlegen, um euch näher zu sein. Alle Tiere waren bereits beladen, und wir wollten gerade aufbrechen, als die Männer aus ihren Zelten krochen, uns zwangen, die Tiere wieder abzuladen, und uns befahlen, dort zu bleiben.«
»Habt ihr etwas Neues vom Gouverneur gehört?«
»Er soll in drei Tagen kommen. Reitende Boten kommen und gehen täglich, manchmal mehrere am Tage, und sie scheinen schnell zu reiten. Sie stehen unausgesetzt mit dem Gouverneur in Verbindung und schicken ihm Meldungen.«
»Was sagen sie dazu, daß ich so lange ausbleibe?«
»Sie sind außerordentlich verwundert darüber und fragen uns unaufhörlich, weshalb der Sahib draußen auf dem Eis umherziehe. Sie haben an den Ufern Spione gehabt und glauben, daß der Sahib durch die Waken Gold vom Seegrund heraufhole.«
»Sind sie höflich gegen euch?«
»Ja, aber bestimmt und unerbittlich. Sie sagen, der Gouverneur werde selber über unser Schicksal entscheiden. In den letzten Tagen hat sich ihre Schar nur immer vergrößert; sie lassen sich Proviant bringen und erwarten noch mehr Verstärkung.«
»Was beabsichtigen sie deiner Meinung nach, Muhamed Isa?«
»Ja, jetzt sieht es böse aus. Sie haben entschieden die Absicht, uns das Weiterreisen unmöglich zu machen und uns zu zwingen, nach Norden zu gehen.«
»Das verdanken wir dem Unglückskerl am Bogtsang-tsangpo, der seinen Eilboten nach Naktsang geschickt hat! Aber wenn hier alles unmöglich ist, müssen sie uns mit einer neuen Karawane versehen, und wir reisen nach Peking! Dort werde ich mir schon die Erlaubnis der chinesischen Regierung zur Reise in Tibet erwirken. – Wie steht es mit der Karawane?«
»Alles gut. Ein Maulesel starb vorgestern und mein schwarzes Reitpferd gestern. Acht Pferde und ein Maulesel sind noch übrig. Den Yaks geht es vortrefflich.«
»An diesem See wird es ihnen nicht an Zeit zum Ausruhen fehlen. Denn wenn wir mit Lhasa verhandeln sollen, gehen ein paar Monate darüber hin! Geh jetzt wieder zurück und grüße die anderen.«
Wir loteten weiter und fanden eine Maximaltiefe von 8,35 Meter. Am Ufer waren die alten Wälle sehr deutlich erkennbar – hier sind sie den Sturzseen der Weststürme ausgesetzt gewesen. Der höchste mochte 15 Meter hoch sein. Dort ging ein einsamer Wolf spazieren, weiter hinten weideten 25 Kiangs; sie betrachteten uns lange neugierig und verschwanden dann leicht und flüchtig wie der Wind. Von unsern Trägern sahen wir keinen Schimmer, und auch auf dem Ufer, wo wir auf dem höchsten Wall entlanggingen, fanden wir ihre Spur nicht. Warum gaben sie uns kein Signal durch Anzünden eines Feuers? Endlich erblickten wir sie ganz fern in nördlicher Richtung. Müde hatten sie sich schlafen gelegt, sobald sie an Land gekommen waren. Ich schalt sie nicht, aber Rabsang packte den ersten, den er zu fassen bekam, beim Schopf und prügelte sie dann alle der Reihe nach durch, was sie jedoch nicht hinderte, am Abend ebenso fröhlich wie sonst zu singen.
Jetzt hatte ich die Arbeit auf dem Ngangtse-tso beendet, nachdem wir 106 Kilometer auf seinem Eise in einer Höhe von 4699 Meter zurückgelegt hatten!
Am 7. Januar mußten die Träger mit all unserm Sack und Pack – außer meinem Zelt – nach dem Hauptquartier aufbrechen; ich wartete auf mein Reitpferd, ließ mich in meiner Gemütsruhe nicht stören und war durchaus nicht eilig, mich selber der tibetischen Miliz auszuliefern – jenen greulichen, schwarzen Reitern, die meine Pläne früher schon so oft durchkreuzt hatten! Aus Schigatse kam keine Nachricht, aus Indien keine Post. Ich hatte sie mir zum 25. November nach dem Dangra-jum-tso bestellt, und jetzt hatten wir den 7. Januar! Hatte Ganpat Sing die Post am Ende verloren, oder war er überhaupt nicht nach Leh gelangt? War es vielleicht aus politischen Gründen unmöglich, mir meine Post aus Indien hierher zu schicken?
Ich mußte lange warten. Erst um ein Uhr zeigte sich ein Fußgänger mit meinem Pferd, und zu gleicher Zeit tauchte oben auf dem inneren Terrassenwall eine Karawane von 50 Yaks auf, die von einigen Tibetern getrieben wurden. Wir nahmen an, es seien die Transporttiere des Gouverneurs, aber die Tibeter erklärten, sie stammten aus Laän und hätten die Messe in Naktsang besucht.
Nur drei Stunden trennten uns vom Lager. Sieben Wildesel liefen eine gute Stunde lang vor uns her, der Wind wehte uns heftig entgegen. Wolken von Staub und Sand fegten längs des Ufers hin, die Eisdecke wurde unsichtbar und die Wildesel verschwanden wie Gespenster im Nebel. Die Beleuchtung war seltsam und verwirrend, die Steigung nahm zu, und immer neue Hügel tauchten auf aus der dicken Luft, die an trübes Wasser erinnerte. Manchmal eilt ein kleines Rudel Goagazellen in höhnisch leichten Sprüngen an uns vorbei. Wir sehen das Lager Nr. 107 erst, als wir unmittelbar davor stehen.
Eine tiefe Erosionsrinne in der Richtung des Sees. Auf ihrer rechten Böschung unsere vier Zelte, nach Osten schauend. Ihnen gegenüber drei tibetische Zelte. Die Hände in den Taschen, die Pfeife im Munde, steht Muhamed Isa an seinem Feuer. Alle die anderen kommen heraus. Die Tibeter gucken aus ihren Zelttüren wie Erdmäuse aus den Löchern. Robert erstattet die Meldung: »Alles ruhig auf dem Schipkapaß!« Nur unsere Pferde waren gestern abend, von Wölfen gejagt, durchgebrannt und hatten die tibetischen mitgenommen, waren aber unten am Seeufer in zerstreuten Gruppen wiedergefunden worden.
Ich ging in Muhamed Isas Zelt; als ich Platz genommen hatte, wurden die vornehmsten der Tibeter gerufen. Sie stellten sich sofort ein, verbeugten sich tief und streckten die Zunge so lang heraus, wie sie nur konnten (Abb. 87) – diesmal machte diese originelle Begrüßungsweise auf mich einen höhnischen Eindruck! Ein Mann mit rotem Turban, dunkelblauem Pelz und Säbel im Gürtel war im Jahre 1901 mit in Hladsche Tserings Lager am Ostufer des Tschargut-tso gewesen, als wir dort zusammen lagerten, und erinnerte mich an jene Tage.
87. Tibetischer Gruß.
»Ist Hladsche Tsering noch Statthalter von Naktsang?« fragte ich.
»Ja, er ist es, der übermorgen herkommt.«
»Bringt er ein ebenso großes Gefolge mit wie damals?«
»Nein, er hat damals gesehen, daß die Reiterscharen euch nicht erschreckten, und verläßt sich darauf, daß ihr euch auch so seinen Wünschen fügt.«
Der 8. Januar wurde zum Umpacken der Bagage benutzt, und am neunten schlugen die Tibeter ein neues Zelt auf, das, wie sie sagten, die Küche des Gouverneurs sein sollte. Als es dämmrig wurde, erschienen zwei Reiter, die mir meldeten, daß der Gouverneur um Entschuldigung bitten lasse, weil er nicht zur festgesetzten Zeit eingetroffen sei. Er sei ein alter Mann, habe unterwegs den Sturm gegen sich gehabt und daher nur langsam vorrücken können, werde aber am Abend des zwölften ganz bestimmt bei mir sein.
Da ließ ich mir die Häuptlinge der Tibeter rufen und sagte ihnen, daß sie sich nie wieder vor mir sehen lassen dürften, wenn sie jetzt nicht die Wahrheit sprächen.
»Bombo Tschimbo,« erwiderten sie, »wenn der Gouverneur nicht in drei Tagen hier ist, könnt ihr uns den Hals abschneiden!«
»Dessen bedarf es nicht; es genügt, daß ihr euch schriftlich verpflichtet, mir eine Buße von zehn Pferden zu bezahlen, wenn der Gouverneur in drei Tagen noch nicht hier ist.«
»Wir geben euch sogar zwanzig Pferde.«
»Nein, zehn sind genug.« Und nun wurde der Vertrag aufgesetzt und unterzeichnet.
»Wißt ihr noch sonst etwas Neues?«
»Ja, der Gouverneur hat nur seine eigenen zwölf Diener mitgenommen. Er weiß, daß Bombo Tschimbo zurückgekehrt ist, denn er hat vom Bogtsang-tsangpo einen Brief erhalten, daß derselbe Herr, der vor fünf und einem halben Jahr dort mit einer Kamelkarawane gewesen sei, wieder da sei. Da hat er sofort einen Eilboten nach Lhasa geschickt und zehn Tage auf Antwort gewartet, nachher aber beschlossen, selber herzukommen.«
Wieder wurde meine Geduld auf die Probe gestellt, als ob ich mich nicht schon zur Genüge darin hätten üben können. Endlich, am 11. Januar, zeichnete sich eine kleine Reitergruppe auf den Hügeln ab, und bald darauf stand ein blauweißes Zelt im Lager der Tibeter – sie hatten jetzt sieben im ganzen. Darauf kam noch eine Schar Reiter, von denen einer sehr krumm saß, einen roten Baschlik trug und sorgfältig in Pelzwerk gehüllt war. »Das ist Hladsche Tsering«, hieß es. Das Gefolge trug Flinten, an denen rote Fähnlein flatterten. Sie sahen durchfroren aus, verschwanden schnell in ihren Zelten, und wir hörten nichts wieder von ihnen.
12. Januar. Viel zu früh kam ein Bote mit der Frage, ob ich nach dem Zelt des Statthalters hinüberkommen wolle oder ob er mir erst einen Besuch machen solle. Ich ließ antworten, daß ich ihm Bescheid schicken würde, wann ich ihn empfangen könne. Mein armseliges, von den Stürmen zerzaustes Zelt wurde nun so schön hergerichtet, als es die Umstände erlaubten; mehr als zwei Gäste hatten darin nicht Platz, aber für diese wurden Filzdecken und Kissen ausgebreitet, und zwischen diese Sitzplätze und mein Bett ein gewaltiges Kohlenbecken gestellt, damit der Alte sich ordentlich wärmen könne. Mein Bote war gerade abgegangen, als vor das blauweiße Zelt zwei Pferde geführt wurden, der Alte bestieg das eine, ein junger Lama das andere; die Pferde wurden am Zügel geführt, die anderen Tibeter stellten sich zu Fuß auf, und dann setzte sich der Zug langsam nach unsern Zelten hin in Bewegung!
Hladsche Tsering, denn es war wirklich mein alter Freund, kam im Paradeanzug von chinesischem Schnitt, mit chinesischer Mütze, die mit zwei Fuchsschwänzen und einem weißen Glasknopf geschmückt war, und in Stiefeln, mit Samt überzogen und mit dicken weißen Sohlen (Abb. 92). Über seinem mit weiten Hängeärmeln versehenen Seidenkaftan trug er einen kurzen Kragen von Otterfell und im linken Ohrläppchen einen großen Ohrring von reinem Gold mit runden Türkisen besetzt. Als er erschien, ging ich ihm entgegen, um ihn zu begrüßen. Wir erkannten einander sofort wieder, begrüßten uns herzlich, ja, umarmten einander beinahe, und sprachen davon, wie seltsam es sei, daß wir uns hier mitten in der Wildnis nach fünf langen Jahren wiederträfen! Seine Hand in der meinen haltend, führte ich ihn nach dem bescheidenen Ehrenplatz und bat den Lama, seinen Sekretär, einen Sohn des Junduk Tsering von 1901, Platz zu nehmen. Ich saß mit gekreuzten Beinen auf meinem Bett neben ihm, Robert und Muhamed Isa in der Zelttür, deren Rahmen im übrigen von einem Mosaikbild tibetischer Köpfe ausgefüllt wurde. Muhamed Isa, der Dolmetscher, trug ein Ehrengewand, das ihm Younghusband in Lhasa geschenkt hatte; es bestand aus dickem, kirschrotem tibetischem Wollstoff; um den Leib hatte er einen bunten Gürtel und auf dem Kopf einen hohen, goldgestickten Turban aus Peschawar. Er überstrahlte uns alle in seiner Pracht!
92. Seine Exzellenz der Gouverneur Hladsche Tsering (links) und sein Sekretär.
Nachdem ich eine Schachtel ägyptischer Zigaretten bereitgestellt und Hladsche Tsering sich eine Weile alles, was im Zelte stand, betrachtet hatte, sagte er mit ernster, bekümmerter Miene:
»In meiner Eigenschaft als Statthalter von Naktsang kann ich euch nicht gestatten, von hier nach Schigatse oder irgendeinem anderen Ort innerhalb der Grenzen von Naktsang weiterzureisen. Ich habe mich persönlich bei euch eingefunden, um euch zu bitten, schleunigst meine Provinz zu verlassen. Bald nach der englischen Lhasaexpedition erhielt ich vom Devaschung Befehl, so wie früher auch in Zukunft Europäer nicht in Naktsang umherziehen zu lassen. Die Instruktion lautet dahin, daß, wenn irgendein Europäer in Naktsang eindringt, es meine Amtspflicht ist, ihn anzuhalten und zum Umkehren zu zwingen.«
Ich erwiderte: »Es ist nicht möglich, daß die Verhältnisse jetzt noch ebenso liegen wie vor fünf Jahren, als ihr meine Karawane mit fünfhundert Mann Miliz anhieltet. Seitdem hat die indische Regierung mit dem Devaschung in Lhasa einen Vertrag abgeschlossen, und jetzt stehen die beiden Regierungen auf durchaus freundschaftlichem Fuße.«
»Hedin Sahib, ihr werdet euch erinnern, wie es das vorige Mal ablief. Ihr waret damals so freundlich, auf meine Aufforderung hin umzukehren, aber ihr wißt nicht, wie es mir dann ging! Das ganze Aufgebot gegen euch mußte ich allein bezahlen, und der Devaschung forderte mir noch obendrein 2000 Rupien ab. Ich war ruiniert, während mein Kollege Junduk Tsering sich durch Ausbeutung der Bevölkerung bereicherte und jetzt als reicher Mann in Lhasa lebt. Wir sind alte Freunde, aber ich kann mich euretwegen nicht neuen Unannehmlichkeiten aussetzen.«
»Es ist wahr, Hladsche Tsering, daß wir alte Freunde sind; aber ihr könnt doch nicht verlangen, daß ich mich euretwegen einer neuen Reise durch Tschang-tang unterziehe! Ich besaß 130 Tiere, als ich vor sechs Monaten Ladak verließ. Nun habe ich, wie ihr selber seht, nur noch neun. Ich werde mich nicht überreden lassen, auf jenem Weg wieder zurückzugehen, und nach dem Vertrag von Lhasa habt ihr keine Machtmittel, einen Europäer zu zwingen!«
»Der Vertrag von Lhasa wurde mit England geschlossen. Ihr seid kein Engländer, ihr seid ein Sved-peling.«
»Um so mehr habt ihr allen Grund, mir Gastfreundschaft zu erweisen. Gegen euren Wunsch und Willen hat England euch zum Krieg gezwungen; mein Land hat das nie getan!«
»Ihr habt recht, euer Volk hat uns nie Schaden zugefügt. Aber in meinen Instruktionen wird kein Unterschied gemacht zwischen verschiedenen Nationen. Ich werde euch gewiß nicht zwingen, auf dem langen, schlechten Weg, auf dem ihr gekommen seid, wieder nach Ladak zurückzugehen; ich weiß, daß dies ohne eine große, starke Karawane unmöglich ist. Es ist mir auch ganz einerlei, ob es euch gelingt nach Schigatse zu kommen oder nicht, aber durch meine Provinz dürft ihr nicht dorthin ziehen! In Naktsang steht euch nur ein einziger Weg offen, der nämlich, auf dem ihr gekommen seid. Die Straße, die ihr nachher einschlagt, ist mir gleich. Und könnt ihr von der nördlichen und westlichen Seite des Dangra-jum-tso nach Schigatse vordringen, so geht mich das gar nichts an!«
»Ihr wißt, daß der Taschi-Lama vor einem Jahr in Indien war, und ihr wißt auch, wie gut er dort ausgenommen worden ist. Er erwartet mich in seiner Hauptstadt, und kein anderer als er hat das Recht, mich an der Reise zu ihm zu hindern.«
»Naktsang steht unter dem Devaschung, nicht unter dem Taschi-Lama.«
»Der Dalai-Lama ergriff die Flucht, als die englischen Truppen sich Lhasa näherten. Der Taschi-Lama ist daher jetzt Tibets vornehmster Großlama.«
»Ganz recht, wir begreifen und billigen die Handlungsweise des Dalai-Lama auch nicht. Er hätte derjenige sein müssen, der das Land vor seinen Feinden schützte. Aber das gehört nicht hierher; ich erhalte meine Instruktionen einzig und allein vom Devaschung.«
»Und ich verlasse Naktsang nicht eher, als bis der Taschi-Lama mir eure Rede, daß der Weg versperrt sei, bestätigt hat. Ich werde also einen Brief an den Vertreter der indischen Regierung in Gyangtse, den Major O'Connor, schicken, und wenn er mir antwortet, daß die politische Lage mir die Weiterreise verbietet, werde ich Tibet verlassen. Hier am Ngangtse-tso will ich seine Antwort erwarten. Und dazu habe ich noch einen Grund. Ich erwarte aus Indien Briefe, die mir durch Major O'Connor geschickt werden sollen. Ihr werdet es wohl verstehen können, daß ich Naktsang nicht vor dem Eintreffen meiner Post, die ohne Zweifel auf Befehl des Taschi-Lama weiter befördert werden wird, verlassen will.«
»Alles das ist ja schön und gut, aber habt ihr einen Beweis dafür, daß der Taschi-Lama die Verantwortung auf sich nehmen wird, euch eure Post zu schicken? Ihr habt keinen Paß vom Devaschung. Habt ihr einen vom Taschi-Lama? Ich bin nicht angewiesen, euch zu Diensten zu stehen. Wenn ich auf eigene Hand euren Brief nach Gyangtse schickte, würde ich meinen Kopf verlieren.«
»Ich werde zwei meiner eigenen Ladakis mit dem Brief absenden.«
»Nein, das Land ist ihnen ebenso verschlossen wie euch. Und wie lange Zeit glaubt ihr übrigens mit dem Warten auf die Antwort hier verbringen zu müssen? Mehrere Monate?«
»O nein, nach Gyangtse sind es 165 englische Meilen, und auch bei kurzen Tagemärschen würde die Reise nie länger als 20 Tage dauern.«
»Ich verlasse diesen Platz nicht eher, als bis ihr aufgebrochen und nordwärts über die Grenze von Naktsang gezogen seid.«
»Und ich breche nicht eher auf, als bis ich aus Gyangtse Antwort auf meinen Brief erhalten habe!«
»Es ist unmöglich, hier lange Zeit liegen zu bleiben. Ihr könnt eure Leute nicht ernähren; es gibt hier keine Nomaden, und die, welche in der Nachbarschaft wohnen, sind blutarm.«
»Auf dem Südufer sah ich sehr viele Zelte und große Herden. Schlimmstenfalls können wir von der Jagd leben, Wild gibt es hier viel. Da ich weiter nichts verlange, als daß ihr mich auf eine Antwort warten laßt, müßtet ihr mir doch gefällig sein können.«
»Darin irrt ihr euch; in meiner Stellung geht mich weder Schigatse noch Gyangtse etwas an. Als die Engländer Tibet geräumt hatten, schickte der Devaschung nach jedem Dsong (Gouverneurstadt) in ganz Tibet ein Schreiben, daß wir allerdings geschlagen worden seien, aber keinen Teil unseres Landes verloren hätten, und dort noch immer Herr seien, sowie daß hinsichtlich reisender Europäer in Zukunft alles beim Alten bleibe. Ich selber will euch soweit entgegenkommen, wie ich kann, und werde nun zunächst in mein Zelt zurückkehren und mit meinen Leuten Rat halten.« –
Gleichzeitig hielt auch ich mit Robert und Muhamed Isa Kriegsrat. Es war sonnenklar, daß wir unsere Reise nach Süden nicht fortsetzen konnten. Dagegen hatte es den Anschein, als könnten wir auf dem Umweg um den Dangra-jum-tso in das auf seiner Westseite liegende Land, das, wie Hladsche Tsering gesagt, von Saka-dsong aus regiert wurde, eindringen. Vertrieb man uns auch dort, so würden wir nach Peking ziehen! Weshalb? Ich bin freilich sehr optimistisch, aber es stand bei mir fest, daß ich ebensogut als einst Marco Polo den chinesischen Kaiser so würde betören können, daß er mir die Erlaubnis gäbe, mit irgendeinem besonderen Auftrag frei in Tibet umherreisen zu dürfen! Muhamed Isa meinte, nach Peking sei es unendlich weit, aber Robert begeisterte sich für die Reise. Wir wollten nur die besten unserer Leute mitnehmen; den übrigen konnte ich leicht die Erlaubnis zur Rückkehr nach Ladak über Gartok erwirken. Wir selber würden anfangs sehr beschwerlich reisen, aber durch die südliche Mongolei würden wir auf baktrischen Kamelen gerade zur Zeit, wenn die Frühlingsblumen am schönsten dufteten, wie Wilde über die Steppen jagen! Unter keiner Bedingung wollte ich als Besiegter heimkehren. Ich versuchte den beiden anderen meine Begeisterung einzuimpfen und malte ihnen unseren Kamelritt wie ein Märchen und einen Roman aus!
Jetzt wurden zwei der Leute Hladsche Tserings gemeldet, die mir als Geschenk ihres Herrn eine Schüssel Reis und einen Kloß Butter überreichten. Der Sekretärlama schenkte auch eine Schürzevoll Reis. Als Erwiderung schickte ich Muhamed Isa mit einem ganzen Stück Paschminazeug und einem Messer aus Srinagar für den Gouverneur und einem ebensolchen Messer nebst einer Turbanbinde für den Sekretär.
Begleitet von Robert und Muhamed Isa machte ich um drei Uhr meinen Gegenbesuch. Hladsche Tserings Zelt war groß und hübsch eingerichtet, und alle seine Sekretäre und Diener (Abb. 94) saßen um das Feuer herum, das hoch nach der oberen Zeltöffnung hinaufloderte. An den Zeltwänden lagen Säcke Reis und Tsamba und mehrere unzerlegte geschlachtete Schafe; alles sah aus, als habe der Alte sich auf längeres Verweilen eingerichtet. Gewehre mit Gabeln und Fähnchen, Säbel und Lanzen, Geschirr, Zügel, Sättel und Satteldecken; alles ließ dieses Häuptlingszelt malerisch und kriegerisch erscheinen. An der kurzen Wand, dem Eingang gegenüber, waren hohe Kissen aufgestapelt, die mit kleinen Teppichen aus Lhasa bedeckt waren und auf denen runde Kissen als Rückenlehne standen. Hier wurde ich aufgefordert, neben Hladsche Tsering Platz zu nehmen; vor uns wurde ein kleiner roter, lackierter Tisch gestellt. Zu unserer Rechten stand ein Altarschrein mit vergoldeten Götterstatuen und »Gaos« – kleinen, silbernen Futteralen mit Buddhabildern, die man, wenn man reist, an einem roten Riemen über der Schulter trägt. Vor ihnen flackerten die Butterdochte in glänzenden Messingschalen.
94. Hladsche Tserings Gefolge; links Lundup, der mich später am Dangra-jum-tso aufhielt.
Ein Diener brachte chinesische Porzellantassen, die auf kupfernen Schälchen standen und silberne Deckel hatten. Ein zweiter schenkte aus einer pittoresken Teekanne jenen dicken, mit Butter vermischten Tee, den die Tibeter so sehr lieben und den ich jetzt mit scheinbarem Entzücken trank, obgleich er mir abscheulich schmeckte – aber Hladsche Tsering hatte kurz vorher auch meinen englischen Tee gelobt!
Die Unterhaltung verlief auch hier ruhig, scherzhaft und gemütlich wie in meinem Zelt. Mit den Verhandlungen aber kamen wir nicht von der Stelle, eher das Gegenteil, denn jetzt sagte Hladsche Tsering:
»Nach dem Dangra-jum-tso kann ich euch unter keiner Bedingung ziehen lassen; der See ist heilig, und übrigens sind dort schon Wachen aufgestellt.«
»Der Weg nach Osten ist uns auch versperrt?«
»Ja, nach Süden, Westen und Osten ist euch das Land völlig verschlossen, und nach Norden kann ich euch, wie ich jetzt einsehe, nicht zurückbringen.«
»Soll ich dann in den Himmel fahren oder in die Unterwelt versinken?«
»Nein, aber ihr müßt hier warten.«
»Und ihr schickt meinen Brief nach Gyangtse?«
»Nein, das tue ich nicht; aber ich werde euch nicht hindern, wenn ihr auf eigene Verantwortung zwei eurer Leute hinsendet.«
»Wollt ihr mir für sie einige Pferde verkaufen?«
»Nein, dann würde es heißen, daß ich mit euch unter einer Decke stecke und mich hätte bestechen lassen.«
»Ihr seid mir ein schöner Statthalter, Hladsche Tsering, nicht einmal ein paar Pferde könnt ihr mir verkaufen! Ich muß folglich meine Leute zu Fuß schicken, und das dauert doppelt so lang.«
»Nun gut, ich werde die Sache beschlafen; morgen sollt ihr Bescheid erhalten.«
Am Abend erhielten Rub Das und Tundup Galsan ihre Befehle. Sie sollten mit einem Brief an den Major O'Connor nach Gyangtse gehen und erhielten eine Geldsumme, die sie in ihre Leibgürtel einnähen mußten, um sie sicher aufzubewahren. Erst wenn es am nächsten Abend dunkel geworden, sollten sie ihre abenteuerliche Reise antreten.