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Vierundzwanzigstes Kapitel.
Das Neujahrsfest.

Außer den allmonatlichen Festen hat die lamaistische Kirche vier große Jahresfeste, und das größte unter ihnen ist das Neujahrsfest, das Losar, das zur Erinnerung an Schakya Muni Buddhas Sieg über die sechs Irrlehren, den Sieg der wahren Religion über den Unglauben, gefeiert wird. Es fällt stets auf den Anfang des Februars und ist daher auch ein Fest des Frühlings und des Lichtes, an dem die Kinder Buddhas die Rückkehr der Sonne, den Sieg der zunehmenden Tage über das winterliche Dunkel, das Abziehen der Kälte, das Erwachen des Lebens und der keimenden Saat aus dem Winterschlaf und das Herannahen des Lenzes begrüßen, und an dem linde Lüfte, die Herolde einer wärmeren, heitereren Jahreszeit, auf allen Tempeldächern die Wimpel flattern lassen. Das Losar ist daher ein außerordentlich populäres Fest, das ganze 15 Tage lang den Tagelöhner von seiner Arbeit abzieht, den Hirten von seinen Yaks und den Kaufmann von seinem Ladentisch, eine Zeit der Freude und Lust, der Schmausereien und der Tänze, eine Zeit der Besuche und Gegenbesuche, der Geschenke und Gegengeschenke, in der die Häuslichkeiten und die Tempel geputzt und gefegt und die besten Gewänder und Schmucksachen aus den Truhen hervorgeholt werden, in der man sich im Freundeskreis in seiner eigenen Kammer betrinkt, um dann in unterwürfiger Andacht vor den Götterstatuen in dunkeln Tempelsälen die Nase auf dem Boden breit zu drücken – in der man weit hergekommenen Gästen zweideutige Anekdoten und tolle Räubergeschichten erzählt, die vom Schnurren der Gebetmühlen begleitet und von der ewigen Wahrheit » Om mani padme hum« oft unterbrochen werden.

Zu den großen Tempelfesten haben alle Zutritt; man macht keinen Unterschied zwischen Geistlichen und Laien, Mönchen und Nomaden, Reichen und Armen, Männern und Frauen, Greisen und Kindern; man sieht das in Lumpen gehüllte Bettelweib neben einer mit Edelsteinen übersäten Herzogin. Das Losar ist ein Fest des ganzen Volkes, ein Karneval des Lamaismus, wie einst im alten Rom die Luperkalien und Saturnalien.

Für mich war es ein Glück, daß wir gerade rechtzeitig zum größten Jahresfest des Lamaismus eingetroffen waren und bei seiner Feier in der Klosterstadt Taschi-lunpo anwesend sein durften. Um halb elf erschien Tsaktserkan, ein junger Kammerherr aus dem Vatikan, in außerordentlich elegantem, gelbem Seidengewande und mit einem Hut, der aussah, wie eine umgekehrte Schüssel mit einer herabhängenden Quaste, und erklärte, daß er von Seiner Heiligkeit komme, mich zum Fest abzuholen, und daß er und der Lama Lobsang Tsering beauftragt seien, während meines Aufenthaltes in Schigatse mein persönliches Gefolge zu bilden. Er bat mich aber, ja das Feinste, was ich hätte, anzuziehen, da ich so sitzen würde, daß man mich die ganze Zeit über vom Platz des Großlamas aus sehen könne. Ganz unten in einer meiner Kisten hatte ich nun wirklich einen alten Frack, mehrere Chemisetthemden und Lackschuhe, die ich eigens des Taschi-Lama wegen mitgenommen hatte, und als Robert dann in einer anderen Kiste mein Rasierzeug aufgestöbert hatte, nahm ich mich auch inmitten der kahlen Berge Tibets wie ein veritabler Gentleman aus Europa aus! Mit meinem Dolmetscher Muhamed Isa konnte ich es jedoch an Eleganz nicht aufnehmen, sein goldgestickter Turban überglänzte alles. Von den andern durften mich nur Robert, Tsering, Rabsang und Namgjal begleiten.

Wir bestiegen nun die neuen Pferde vom Ngangtse-tso und ritten nach dem Kloster, das nur zwölf Minuten entfernt lag. Das Schigatse-dsong (Abb. 105), das im Sonnenschein malerisch auf seinem Hügel thront und mich an das Schloß in Leh erinnert, lassen wir rechts liegen. Unser Weg führt über einen offenen Platz, an vereinzelten Häusern und Höfen, Feldern, Teichen und Gräben vorbei, das Gedränge nimmt zu, der Weg verschmälert sich, Menschenmassen strömen nach dem Kloster hin, Städter und Nomaden, Pilger aus fernen Landen und zerlumpte, schmutzige Bettler, und an jeder Ecke sitzen alte Weiber, die mit lauter Stimme Süßigkeiten und Krengel feilbieten. Knaben, Hunde und Chinesen, alles wimmelt durcheinander wie in einem kolossalen Ameisenhaufen. Doch Tsaktserkan und seine Heiducken bahnen uns den Weg, und im Schritt reiten wir die Gasse hinauf, an deren Seiten ganze Reihen großer vertikaler Gebetmühlen in weißgetünchtes Mauerwerk eingelassen sind. Noch ein wenig höher oben verwandelt sich der Weg in eine richtige Straße mit hohen weißen Häusern, in denen die Mönche ihre Zellen haben. An einem Haupteingang, einem großen Tor, steigen wir ab. Hoch über uns erhebt sich ein ziegelrotes Tempelgebäude, das Tsogla-kang heißt, und zu alleroberst glänzt die weiße Fassade des Labrang, die oben einen schwarzen Rand hat und vor deren Fenstern weiße Markisen angebracht sind. Man erstaunt über die stolze, eigenartige Architektur, die in allen Linien und Einzelheiten hervortritt und einen so einheitlichen, gediegenen Eindruck macht (Abb. 106). Vielleicht aber ist es auch eine Folge meiner Liebe zu Tibet, daß ich in diesem wunderbaren Lande alles so bezaubernd und großartig finde.

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105. Die Burg (Dsong) von Schigatse. Skizze des Verfassers.

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106. Der Labrang, Palast des Taschi-Lama.
Hinter den Draperien in der Mitte der Sitz des Taschi-Lama während der Festspiele.

Jetzt geht es ernstlich bergauf, nach den heiligen Wohnstätten hin; die steilen, korridorähnlichen Gassen sind zwischen ihren geheimnisvollen Mauern mit Steinplatten gepflastert, deren Form und Größe wechselt, die aber alle blank sind und wie Metall glänzen, obgleich sie schon sehr uneben und ausgetreten sind, da sie ja schon seit Jahrhunderten durch die Schritte unzähliger Pilger und die Fußsohlen eilfertiger Mönche abgenutzt werden. Stellenweise wird das Gedränge in diesem dichtgepackten Pilgerstrom recht lästig (Abb. 108), und in den Gassen riecht es muffig nach Menschen. Immer höher steigen wir hinauf, gehen durch gewundene Passagen, biegen mehrmals rechtwinklig bald nach rechts und bald nach links ab, gelangen durch noch ein Tor mit massiver Schwelle unter ein Dach und folgen nun halbdunkeln, dunkeln und stockdunkeln Gängen und Korridoren, die voller Lamas in roter Toga sind; sie sind entweder an einem oder auch an beiden Armen nackt, haben kurzgeschorenes Haar und tragen keine Kopfbedeckung. Sie begrüßen mich alle artig mit freundlichem, gutmütigem Lächeln und treten sofort beiseite, um uns durchzulassen. Da, wo tückische Stufen im Finstern lauern, fühle ich sofort einen starken Arm, der bereit ist, mich zu stützen, falls ich stolpern sollte – es ist irgendein aufmerksamer Lama, der gleich bei der Hand ist.

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108. Lamas in Taschi-lunpo.

Jetzt wird es vor uns im Klostergang heller, und die Silhouetten der Mönche heben sich schwarz gegen das einfallende Tageslicht ab; wir treten in eine Galerie unter mächtigen Holzsäulen und setzen uns auf ihren schmalen, mit einem Holzgeländer versehenen Balkon, den schwarze, schwere Vorhänge von Yakwolle, die unten wagerecht weißgestreift sind, von der Galerie trennen (Abb. 107). Für mich war sogar ein Lehnstuhl von europäischer Fasson hingestellt worden, und er war auch nötig, denn das heutige Schauspiel, das vornehmste während des ganzen Neujahrsfestes, dauerte drei Stunden. Hier saßen wir wie auf dem zweiten Rang eines dachlosen Theaters und hatten eine herrliche Aussicht über den Schauplatz, der an einen rechtwinkligen Marktplatz erinnerte und von offenen Plattformen oder Altanen, die auf hölzernen Säulenreihen ruhten, umgeben war (Abb. 109). Das Ganze erinnerte mich auch an einen großen Hörsaal ohne Dach. In der Mitte des gepflasterten Hofes erhob sich ein hoher Mast, dem der Wind schon arg mitgespielt hatte und der durch die Sonne vieler Sommer und den Frost ebenso vieler Winter rissig geworden war; von seiner Spitze hingen lange Fahnen bis auf den Boden nieder. Unmittelbar unter unserem Balkon zog sich der oberste Altan hin, über dessen Rand hinweg wir tief drunten den ganzen Hof übersahen, auf dem die religiösen Schauspiele stattfinden sollten, mir gegenüber aber und an den Seiten die eine Etage hoch liegenden Galerien und den unter ihnen befindlichen Hofraum.

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107. Der obere Altan am Hof der Festspiele in Taschi-lunpo. Hinter der Draperie in der Mitte mein Platz während der Festspiele.

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109. Hof der religiösen Festspiele in Taschi-lunpo.
Links oben die Fassade des Labrang, Palast des Taschi-Lama.

Überall, auf allen Altanen und Dächern, auf allen Vorsprüngen und Balkons, ja sogar ganz hoch oben unter den chinesisch geschweiften Golddächern der Grabkapellen längst entschlafener Großlamas wimmelte es von Menschen. Von unserm hohen Aussichtspunkt aus war es ein Meer von Köpfen, ein Menschengewirr, ein Mosaikbild von lebhaften, schreienden Farben, eine Ausstellung von Nationaltrachten, unter denen sich zwar die tibetische Tracht am meisten geltend machte, aber bei der der Blick auch auf Erscheinungen fiel, deren Heimat Bhutan und Sikkim, Nepal oder Ladak war, während man in anderen leicht chinesische Kaufleute oder Soldaten und Pilger aus den Grassteppen der Mongolei erkannte. Ein alter Lama von hohem Rang, der uns unsere Plätze angewiesen hat, teilt mir mit, daß über 6000 Zuschauer anwesend sind und seine Veranschlagung ist eher zu niedrig als übertrieben. Ganz vorn auf dem uns gegenüberliegenden höchsten Altan sitzt der Konsul von Nepal, ein junger Leutnant mit runder schwarzer Mütze, die einen Goldrand, aber keinen Schirm hat. Er bläst Ringe aus seiner Zigarette und ist der einzige, der sich eine solche Entweihung des Ortes zuschulden kommen läßt. Hinter ihm sitzen eine Menge andere Nepali unter Vertretern der übrigen Himalajaländer, die durch Geschäfte oder Glaubenseifer nach Taschi-lunpo gelockt worden sind. Links von ihnen in langen Reihen Herren in ganz roten oder ganz gelben Gewändern, langen Kaftanen mit bunten Gürteln und Schärpen um den Leib und ebenfalls roten oder gelben champignonähnlichen Hüten, die den Umfang eines Sonnenschirmes haben und mit einer Schnur unter dem Kinn befestigt sind – es sind Beamte verschiedenen Ranges, die zu den Vätern der Stadt, dem Zivilhofstaat des Taschi-Lama oder zu dem Verwaltungskörper der Provinz Tschang gehören. Auf der Galerie unter ihnen sitzen ihre Frauen und andere Damen von Stande, die mit den buntesten, phantastischsten Schmuckgegenständen buchstäblich überlastet sind; ihre Kleider sind rot, grün und gelb; sie tragen Halsbänder und silberne Gehänge, silberne Futterale mit Türkisen und im Nacken hohe weiße Aureolen, die dicht mit Edelsteinen und Verzierungen besetzt sind. Andere haben hinter der Haarfrisur rote Bogen mit Korallen und Türkisen. Frisiert sind sie auf verschiedene Weise; teils haben sie in der Mitte einen Scheitel und an beiden Seiten einen wie Ebenholz glänzenden Haarpuff, teils ist das Haar in eine Menge dünner Zöpfe geflochten, die aufgesteckt und mit Perlen und Schmucksachen verziert sind (s. bunte Tafel). Dort sitzen Frauen aus Pari und Kamba-dsong, aus Ngari-khorsum im Westen und Kham im Osten und aus den schwarzen Zelten an den Ufern des Tengri-nor. Sie erinnern mich an meine Heimat, an Leksand, Mora und Vingaker, denn in diesen weiblichen Gruppen ist Leben und Farbe; Schönheit nach europäischen Begriffen wird man wohl vergeblich suchen, aber viele sahen angenehm und heiter aus, sie waren gesund, harmonisch und gut gewachsen und freuten sich sichtlich über ihre hübschen Kleider. Doch wenn sie auch mit der Venus von Milo nur ganz entfernt verwandt waren, so waren sie doch immerhin Frauen; sie plauderten und schwatzten, knabberten getrocknete Pfirsiche und Süßigkeiten, schnäuzten sich mit den Fingern und rauchten ihr Pfeifchen, ja sie guckten ihre Nachbarinnen mit Blicken an, in denen sich die feste Überzeugung aussprach, daß sie diese Mitschwestern an äußerer Eleganz übertrumpft hätten! Wie ganz anders sind diese Damen doch als die Weiber, die wir in Tschang-tang gesehen hatten. Alltags waschen sie sich allerdings auch nicht, aber heute haben sie sich des Festes wegen das Gesicht gewaschen, und man ist erstaunt, so viele helle Gesichter zu sehen – ganz ebenso helle wie bei uns, mit kaum einem Anflug von Gelb, aber oft mit so frischen Farben auf den Wangen wie Herbstäpfel.

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Festkleidung und Schmuck tibetischer Frauen aus Kjangrang im Transhimalaja. Aquarelle des Verfassers.

Auf dem Altan unter unserm Balkon aber gibt es keine Honoratioren, dort befindet sich in schönster Eintracht der Pöbel, dort hat das profanum volgus seine Plätze (Abb. 110, 111), dort sitzen ländliche Mütter und stillen ihre schreienden Kinder, und dort stehen zerlumpte Bettler auf ihre Stäbe gestützt oder sitzen auf dem Boden an die Wand gelehnt, während sie ihre alltäglichen Bettellieder summen, die in dem Stimmengewirr unverständlich bleiben. Viele haben kleine Kissen oder zusammengefaltete Kleidungsstücke mitgebracht, um bequem zu sitzen. In einigen Gruppen trinkt man Tee aus mitgebrachten Holztassen, in anderen laust man seine Bekannten und legt einander abwechselnd den Kopf in den Schoß. Und immerfort kommen neue Zuschauer auf die Plattformen hinaus, und das Gedränge wird allmählich ungeheuer. Das Geländer ist ganz niedrig, um nicht die Aussicht auf den darunterliegenden Schauplatz zu verdecken. Diejenigen, die zuletzt ankommen, müssen sich hinten an der Hausmauer Platz suchen und bleiben stehen, um über die Köpfe der Sitzenden hinwegsehen zu können. Einige Plätze ganz oben unter den Dächern sahen ziemlich gefährlich aus, aber die Leute traten ruhig und voller Selbstbeherrschung auf, man knuffte sich nicht, man schlug sich nicht um die Plätze, man fiel nicht über die niedrigen Geländer, überall herrschte die größte Eintracht und die vollkommenste Ordnung.

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110 und 111. » Profanum volgus« beim Neujahrsfest in Schigatse.

Das Wetter war so herrlich, wie man es sich zu einem Fest im Freien nur wünschen konnte – wie säuerlich muß es aus dem Menschenhaufen duften, wenn es während eines Spätsommerfestes regnet! Erst gegen das Ende erhob sich ein wenig Wind, und die gefalteten Bahnen von leichtem gelbem Zeug mit bunten Streifen, die von den Galerien herabhängen, begannen sich in der Zugluft zu blähen. Heute herrschte Feststimmung; mir aber wurde wenig Aufmerksamkeit geschenkt, obgleich wir mitten in der Sonnenglut auf einem Platze saßen, der von allen Seiten sichtbar war. Nur manchmal drehte sich jemand nach mir um und machte eine Bemerkung, die bei den anderen Heiterkeit hervorrief.

Wie in den beiden vorhergehenden Jahren hatte das Neujahrsfest des Jahres 1907 ein feierlicheres Gepräge als gewöhnlich, und es hatte größere Pilgerscharen als früher herbeigelockt, denn der Dalai-Lama war geflohen, als die Engländer nach Lhasa zogen, und dieser Feigling unter den Päpsten weilte jetzt, unverstanden und verachtet, in Urga, in der Mongolei, nachdem er sein Land, wo alles drüber und drunter ging, den andrängenden Nachbarn als Beute preisgegeben hatte. Manch ein Pilger, der sonst nach Lhasa gezogen wäre, wallfahrte jetzt lieber nach Taschilunpo, wo der Pantschen Rinpotsche, der Papst von Tschang, auf seinem Posten geblieben war, als das Land in Gefahr schwebte! Die Chinesen hatten sogar eine umfangreiche Proklamation in Lhasa an allen Straßenecken ankleben lassen, worin sie den Dalai-Lama für abgesetzt erklärten, weil er seine Untertanen, statt sie zu verteidigen, ins Feuer geschickt und so den Tod vieler Tausende verursacht habe, und worin der Taschi-Lama an seiner Stelle zum höchsten Leiter der inneren Angelegenheiten Tibets ernannt wurde. Allerdings hatte der Pöbel diese Proklamationen zerrissen und in den Staub getreten, und allerdings hatte der Taschi-Lama erklärt, daß er darauf nicht eingehen werde; aber selbst jetzt noch, nach zwei und einem halben Jahr, konnte man merken, daß der Taschi-Lama in unendlich viel höherem Ansehen stand als der Dalai-Lama. Denn obgleich der Dalai-Lama für allmächtig, allsehend und allwissend gilt, waren seine Truppen von ungläubigen Fremdlingen geschlagen worden; obgleich er seinen Kriegern Unverwundbarkeit versprochen hatte, waren sie wie Fasanen von den englischen Mitrailleusen niedergeschossen worden, obgleich er heilig gelobt hatte, daß nichts Schlimmes Lhasa, »die Wohnstätte der Götter«, treffen könne, hatte der Feind die Stadt besetzt, der Unüberwindliche aber, der Allmächtige, die Inkarnation der Gottheit, war Hals über Kopf wie der feigste der Marodeure entflohen, feiger und gemeiner als der schlechteste Söldling aus Kham! Man muß es den Tibetern verzeihen, wenn sie nach den Metzeleien bei Guru und Tuna angefangen haben, an der Unfehlbarkeit des Dalai-Lama zu zweifeln, obwohl die Priester auch hierbei mit sehr plausiblen Erklärungen bei der Hand waren.

Der Taschi-Lama dagegen hatte auf seinem Posten ausgehalten und war Gegenstand derselben Ehrfurcht und Achtung geblieben, die den obersten Priestern in Taschi-lunpo der Tradition nach zukommt. Er war nun Tibets höchster Prälat, während der Papst von Lhasa als heimatloser Flüchtling in der Mongolei umherirrte. Beim Neujahrsfest 1907 konnte man nun leicht sehen, welch großes Ansehen und welch unbegrenztes Vertrauen die Person des Taschi-Lama umgab. Die Menge im Festgewand, die Altane und Balkons bis auf den letzten Platz füllte, sollte den Heiligsten aller Heiligen in Tibet nun bald mit eigenen Augen sehen dürfen. Und je näher die Zeit herankam, desto mehr steigerte sich ihre Spannung und Erwartung. Stundenlang haben sie deshalb hier gesessen, wochen- und monatelang sind sie deshalb durch öde Gebirge gewandert, und nun bald – – –.

Plötzlich erschallen von den obersten Dachplattformen tiefe, langgezogene Hornstöße über die Gegend hin; ein paar Mönche zeichnen sich gegen den Himmel ab; sie blasen auf seltsamen Meermuscheln (Abb. 112), sie erzeugen einen durchdringenden Ton, der gellend und gleichzeitig dumpf von den zerrissenen Felswänden hinter dem Kloster widerhallt; sie rufen die »Gelugpa«, die Brüderschaft der gelben Mönche, zum Fest. Die ehrwürdigen Lamas, die beauftragt sind, mir zu Diensten zu stehen, erklären mir alles; aber es wird mir nicht leicht ihnen zu folgen, besonders, da ja ein Mohammedaner mir ihre Rede übersetzt. Sie sagen, dieser erste Hornstoß bedeute, daß die Mönche gemeinschaftlich Tee trinken. Da steigt ein Jubelruf von den Lippen der versammelten Menge auf, denn jetzt beginnen die Festspiele.

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112. Lama mit Muscheltrompete. Skizze des Verfassers

Schräg rechts, jenseits des Hofraumes, ruht auf fünf Frontsäulen eine Galerie, von der eine steinerne Treppe mit elf Stufen nach dem Hof hinabführt. Die Galerie liegt hinter schwarzen, schweren Vorhängen verborgen, durch die sich alle Lamaklöster charakterisieren. Unsichtbare Sänger, unter denen man jedoch Männer- und Jünglingsstimmen herauszuhören glaubt, stimmen jetzt einen mystischen Chorgesang an. Er ist gedämpft, tief und langsam, er zittert in religiöser Begeisterung unter dem dunkeln Gewölbe der Galerie und scheint voll Überzeugung und mahnend in Gebirge und Täler hinauszurufen:

»In der Erde Ländern allen,
soll dies Lobeslied erschallen!«

Das Stimmengewirr verstummt, der Gesang aber schwillt zum Crescendo an, aber nur um wieder zu verhallen und wie in einer fernen Unterwelt zu versinken und zu ersterben, als befänden sich die Sänger schon an den Pforten des Nirwana. Ergreifend, mystisch, voller Sehnsucht und Hoffnung ist diese wunderbare Losarhymne in Taschi-lunpo. Nichts von allem gleichartigen, was ich gehört habe, weder der Chorgesang in der Isaakkathedrale in Petersburg, noch in der Uspenskij Sobor, der Kathedrale in Moskau, haben einen tieferen Eindruck auf mich gemacht. Denn dieser Gesang ist gewaltig und erhaben und wirkt doch zugleich einlullend wie ein Wiegenlied, berauscht wie Wein und spendet Ruhe wie Morphium. Erfüllt von feierlicher Stimmung lauscht man ihm begierig, und wenn das wiederbeginnende Stimmengewirr die letzten Töne verschlungen hat, vermißt man den Gesang.

Oberhalb dieser Galerie befindet sich eine zweite, die nach dem Dodschas-tschimbo, wie der Hof heißt, offen ist. Nur ihre Mitte wird durch einen Vorhang von gelber Seide mit roten Streifen, der unten schwere Goldfransen und Goldquasten hat, verdeckt. Hinter diesem Vorhang nimmt der Papst Platz; er ist zu heilig, um in ganzer Person von der Menge gesehen werden zu dürfen, damit er aber selber den Spielen zuschauen kann, ist in der Gardine eine kleine rechtwinklige Öffnung angebracht. Eine Weile vergeht; lange Kupferposaunen blasen ein neues Signal: – der Heilige hat den Labrang verlassen und ist auf dem Weg nach dem Schauplatze. Eine Prozession hoher Lamas betritt die Galerie, jeder trägt einen Teil des Ornates und der oberpriesterlichen Insignien des Taschi-Lama. Man hört ein leises, ehrfürchtiges und gedämpftes Gemurmel, die Menge erhebt sich, die Spannung erreicht ihren Höhepunkt, es ist so still wie im Grabe, und aller Blicke sind auf die Tür der Galerie gerichtet, durch welche die Prozession eingetreten ist. Er kommt, er kommt! Da geht wieder ein Gemurmel, noch ehrfurchtsvoller als vorhin, durch die Menge, wieder erheben sich alle und bleiben stehen, vorgebeugt, die Hände auf den Knien, von der heiligen Andacht der Nähe des Pantschen Rinpotsche ergriffen. Er geht langsam nach seinem Platze hin, setzt sich mit gekreuzten Beinen auf ein paar Kissen, und dann sieht man nur noch sein Gesicht durch die Öffnung in dem seidenen Vorhang. Dem Anschein nach ist er ein ziemlich junger Mann; auf dem Kopfe trägt er eine große, gelbe Mitra, die in ihrer Form jedoch an einen römischen Helm oder einen französischen Infanteriehelm erinnert, sein oberpriesterliches Gewand besteht aus gelber Seide, und in den Händen hält er einen Rosenkranz. An seiner rechten Seite sitzt sein jüngerer Bruder Kung Guschuk, der Herzog, mein Wirt, in rot und gelbem Gewande, und an dessen rechter Seite sehen wir drei andere weltliche Herren in Gelb. Zur Linken des Taschi-Lama sitzt der Staatsminister, Lobsang Tsundo Gjamtso, ein kleiner, feister Kardinal, dessen Kopf einer Billardkugel gleicht, neben ihm der Lehrer des Taschi-Lama, Jonsin Rinpotsche, und seine taubstumme Mutter Taschi-Lamo, ein kleines Frauchen mit rasiertem Kopf und in einem goldgestickten rot und gelben Kleid – ich hätte sie für einen Mann gehalten, wenn man mir nicht gesagt hätte, wer sie sei. Hinter ihnen sieht man im Halbdunkel eine ganze Reihe vornehmer Lamas, alle in gelben Gewändern – alltags tragen sie rote. In Wahrheit ein imposanter Anblick! Man glaubt das ganze Konklave ehrwürdiger Kardinäle der buddhistischen Hierarchie vor sich zu haben. Und dieser Eindruck wird durch ihre Art sich zu bewegen und zu reden nicht abgeschwächt. Man »hört«, wie leise sie in der Nähe des Heiligen miteinander sprechen, ihre Bewegungen sind würdevoll und abgemessen, mit langsamer, berechneter Eleganz nehmen sie Buddhas sitzende Stellung ein, ihre Armbewegungen sind aristokratisch; wenn sie sich unterhalten, neigen sie sich einander langsam zu, ein Schimmer echter, imponierender Noblesse liegt über diesem Bilde, ohne den geringsten Anflug von irgend etwas, das man vulgär nennen könnte.

Die Menge hat sich wieder gesetzt, aber oft sieht man Pilger, die aus weiter Ferne gekommen sind, von heiliger Ehrfurcht ergriffen, aufstehen, sich verbeugen, auf die Knie fallen, die Stirn auf den Boden drücken und dem Großlama durch Anbetung wie einem Gotte huldigen. Aber gar zu oft begegnen meine Blicke den seinen; augenscheinlich interessieren ihn seine Gäste sehr. Schon vor Anfang des Schauspieles hatte er einen Lama nach meinem Garten geschickt, der mir ein großes »Kadach« überreichen sollte, ein langes schmales Stück feiner weißer Seide, das einen Bewillkommnungsgruß und einen Beweis der Höflichkeit und Rücksicht bedeutet. Jetzt gingen hinter meinem Stuhl ganz leise mehrere Mönche; ein Tisch, der eigentlich eher ein Schemel war, wurde hingestellt, und nun tischte man eine ganze Reihe Messingschalen auf, die mit den herrlichsten Mandarinen aus Sikkim, getrockneten Früchten aus Nepal, Rosinen aus Indien, Feigen aus Sining-fu, Süßigkeiten aus Bhutan, getrockneten Pfirsichen aus Baltistan und tibetischen Kuchen bis über die Ränder gefüllt waren. Und Teetassen von chinesischem Porzellan wurden unaufhörlich mit dickem Buttertee gefüllt. Sie sagten dabei: »Der Pantschen Rinpotsche bittet Sie vorliebzunehmen!« Gerade begegnete ich seinen Augen, ich erhob mich und machte eine Verbeugung, und er nickte mir freundlich lächelnd zu. Alles, was von den Erfrischungen übrig blieb, und das war nicht wenig, wurde meinen Begleitern geschenkt.

Jetzt beginnen die religiösen Zeremonien. Der Taschi-Lama nimmt die Mitra ab und reicht sie einem dienenden Bruder. Alle weltlichen Herren auf der offenen Plattform nehmen nun ebenfalls sofort ihre champignonähnlichen Hüte ab. Zwei Tänzer mit unheimlichen Masken, in bunten Seidengewändern mit weiten, offenen Ärmeln treten aus dem geöffneten Vorhang der unteren Galerie heraus und tanzen auf dem Hof einen langsamen, kreisenden Tanz. Darauf wird der Großlama von den elf vornehmsten Fahnen in Taschi-lunpo begrüßt; jedes Götterbild hat seine Fahne, und jede Fahne repräsentiert also einen Gott der reichhaltigen lamaistischen Mythologie, aber nur die Fahnen der elf Hauptgötter werden vorgeführt. Das Fahnentuch ist quadratisch, aber von seinen freien drei Seiten gehen andersfarbige Lappen oder Bänder in rechtem Winkel aus; da sind weiße Fahnen mit blauen Lappen; blaue Fahnen mit roten Bändern, rote mit blauen, gelbe mit roten Lappen usw. Die Fahne ist auf die gewöhnliche Weise an einer hohen, angestrichenen Stange befestigt, um die sie gewickelt ist, wenn ein verkleideter Lama sie herausbringt. Er schreitet feierlich einher, bleibt mitten vor der Loge des Taschi-Lama stehen, hält mit Hilfe eines zweiten Lama die Stange in horizontaler Lage und wickelt das Fahnentuch ab, worauf das göttliche Sinnbild vermittelst einer Krücke aufgerichtet wird und den Großlama begrüßt. Dann wird es wieder gesenkt, das Fahnentuch aufgerollt, und die Fahnenstange wird, auf die Achsel des Trägers gelehnt, durch eine Pforte, die unter meinem Balkon liegt, hinausgetragen. Ebenso wird mit all den anderen Fahnen verfahren, und bei jeder neuen, die sich entfaltet, steigt aus der Volksmenge ein gedämpftes, andächtiges Gemurmel auf.

Nach einer kurzen Pause ertönen wieder Posaunenstöße, und nun erscheinen einige Lamas mit weißen Masken und weißen Gewändern, Herolde einer Prozession von Mönchen, die jeder irgendeinen gottesdienstlichen Gegenstand des Buddhismus tragen, heilige Tempelgefäße, goldene Schalen und Becher, Weihrauchfässer von Gold, die in ihren Ketten schaukeln und aus denen wohlriechende Rauchwolken aufsteigen. Einige dieser Mönche treten in Harnisch und Rüstung auf; drei maskierte Lamas sinken unter der Last ihrer außerordentlich kostbaren Gewänder von roter, blauer und gelber goldgestickter Seide beinahe zusammen. Hinter ihnen werden sechs mit Messing beschlagene, über 3 Meter lange Kupferposaunen getragen; sie sind so schwer, daß ihr Schalltrichter von einem Novizenknaben mit der Schulter gestützt werden muß. Ihnen folgt eine Gruppe Flötenspieler (Abb. 113), und dann kommen vierzig phantastisch, bunt und kostbar gekleidete Männer, die ihre auf einer geschnitzten Stange hoch in die Luft erhobene und vertikal gehaltene Trommel mit einem schwanenhalsähnlichen Trommelschlägel bearbeiten (Abb. 114). Nun erscheinen die Zimbeln, die taktfest und gellend in den Händen der in rote Seide gekleideten Mönche schmettern. Naktschen, »der große Schwarze«, hieß ein kostümierter Mönch, der eine Glocke in der Hand trug. Unten an der steinernen Treppe ist der Hof mit Teppichen belegt, die ein Quadrat bilden. Dort läßt sich die Kirchenmusik nieder, die vierzig Trommeln werden einander parallel gehalten, ebenso die Posaunen, die sich jetzt schräg gegen das Pflaster neigen. Das ganze Musikkorps trägt gelbe Mitren, die der Mitra des Großlama ähneln. Drei Mönche von hohem Rang treten auf die Galerie heraus, die an der kurzen Seite des Hofes unmittelbar über dem Schauplatz liegt. Sie tragen gelbe Gewänder und gelbe Mitren und klingeln von Zeit zu Zeit mit Messingglocken, die sie in der Hand halten. Jeder von ihnen ist, wie man mir sagt, das Oberhaupt von tausend Mönchen; nur drei sind anwesend, der vierte war erkrankt. Taschi-lunpo hat gegenwärtig 3800 Mönche!

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113. Lama mit Flöte. Skizze des Verfassers.

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114. Lama mit Tempeltrommel. Skizze des Verfassers.

Der Vorhang oben an der steinernen Treppe öffnet sich, und eine maskierte Gestalt, Argham genannt, tritt mit einer Schale voll Ziegenblut in der Hand heraus. Er hält sie mit ausgestrecktem Arm wagerecht, während er einen mystischen Rundtanz ausführt; auf einmal gießt er das Blut über die Treppenstufen. Beide Arme ausgestreckt und die Schale umgekehrt haltend, tanzt er weiter, während einige dienende Brüder herbeieilen, um das Blut aufzuwischen. Ohne Zweifel ist diese Zeremonie noch ein Überbleibsel aus der Zeit, als in Tibet noch die ursprüngliche Bon-Religion herrschte, bevor der indische Mönch Padmasambhava im 8. Jahrhundert n. Chr. durch Einführung des Buddhismus in Tibet den ersten Anlauf zur Begründung des Lamaismus nahm. Denn der Lamaismus ist nur eine Abart des reinen Buddhismus und hat unter einer äußeren Politur buddhistischer Symbolik eine Menge schiwaitischer Elemente aufgenommen und auch den Aberglauben, der sich während der vorbuddhistischen Zeit in wilden, fanatischen Teufelstänzen, Zeremonien und Opfern aussprach, beibehalten. Der Zweck jener Zeremonien war die Beschwörung, Verjagung und Versöhnung der mächtigen Dämonen, die über alles in der Luft, auf der Erde und im Wasser herrschen und deren einzige Aufgabe es ist, die Menschenkinder zu peinigen, zu quälen und zu verfolgen. Damals wurden der Kriegsgott und die Dämonen auch durch Menschenopfer milde gestimmt; und die Zeremonie, die ich eben beschrieben habe, ist sicherlich noch ein Überrest jener Opfer. Natürlich hatte der Buddhismus größere Aussicht in Tibet volkstümlich zu werden, wenn der neuen Religion soviel wie möglich von dem alten Aberglauben einverleibt wurde. Aber das erste Gebot des buddhistischen Fundamentalgesetzes gebietet »keinen Lebensfunken auszulöschen«, nicht zu töten. Dies hindert die Mönche jedoch nicht, Fleisch zu essen und bei gewissen kirchlichen Feierlichkeiten Ziegenblut zu verwenden – die Schafe und die Ziegen werden aber von gewöhnlichen Fleischern getötet, während die Lamas selber das Gebot des Gesetzes nicht übertreten.

Bagtscham heißt ein Tänzer in fürchterlicher Teufelsmaske; als er sich im Kreis über den Hof hinbewegt, flattern bunte Zeugstücke nach allen Seiten hin. Ihm folgen elf verlarvte Tänzer, die dieselbe Bewegung ausführen. Zu ihnen gesellt sich dann eine Schar neuer Schauspieler in bunten Gewändern mit Halsbändern, Perlen und Schmucksachen. Sie tragen einen viereckigen Schulterkragen mit einem runden Loch in der Mitte, der über den Kopf gezogen wird, so daß der Kragen auf den Schultern ruht und, wenn sie tanzen, horizontal absteht. Eine große Menge bunter Lappen, die sie um den Leib befestigt haben, weht auch wie die Röcke einer Balletteuse, wenn die Tänzer sich im Kreise drehen. In den Händen halten sie verschiedene religiöse Gegenstände und lange, leichte Zeugenden, Bänder und Wimpel (Abb. 116, 117).

siehe Bildunterschrift
siehe Bildunterschrift

116, 117. Maskierte Lamas (in Hemi-gumpa, Ladak).

Wieder öffnet sich der Vorhang, und hinter zwei voranschreitenden Flötenspielern zeigt sich oben an der Treppe Tschödschal Jum, der Darsteller eines weiblichen Geisterwesens, und führt mit einem Dreizack in der Hand auf der obersten Treppenstufe einen Tanz aus. Schließlich tanzen Lamas in abscheulichen Teufelsmasken mit großen, bösen Augen und mephistophelischen Augenbrauen, verzerrten Zügen und gewaltigen Hauern; andere stellen phantastische, aber immer gleich fürchterliche wilde Tiere dar (Abb. 118, 119, 120). Bei jeder neuen Nummer klingeln die drei Oberpriester mit ihren Glocken, und ununterbrochen lärmt die Musik, die mit ihrem mißtönenden Spektakel von den steinernen Fassaden des engen Hofes dröhnend widerhallt. Taktfest und langsam schlagen die Trommelschläger ihre Trommeln, begleitet von dem schmetternden Geklapper der Zimbeln, den unheimlichen, langgezogenen Posaunenstößen und den einschmeichelnderen Flötentönen. Aber von Zeit zu Zeit wird das Tempo beschleunigt, die Trommelschläge donnern immer dichter hintereinander, und das Klappern der aneinandergeschlagenen Becken verschmilzt in ein einziges ununterbrochenes Getöse. Die Musikanten scheinen sich gegenseitig anzustacheln, es geht im Crescendo; man kann schon bei weniger Lärm taub werden, und es ist daher nicht der Mühe wert, zu versuchen, mit seinen Nachbarn zu reden. Dabei wird auch in schnellerem Takt getanzt. Das fanatische Schauspiel macht ohne Zweifel einen tiefen Eindruck auf die Anwesenden. Dann und wann sieht man einen davon überwältigten Fanatiker aufspringen, dem Taschi-Lama zugewandt sich mit den Händen an den Kopf greifen, vornüber mit der Stirn und den Händen auf den Boden fallen und diese Art Verbeugung dreimal ausführen – er hat ja eine Mensch gewordene Gottheit vor sich! Ein Greis aus Tschangtang, der in seinem Pelz unmittelbar unter meinem Balkon sitzt, ist hierin unermüdlich und springt unaufhörlich auf, um dem Großlama seine Verbeugung zu machen; einmal aber gleitet er auf einer Mandarinenschale aus und macht eine schreckliche Drehung, zur großen Erheiterung der daneben Sitzenden. Andere Pilger ziehen aus ihrem Gürtel ein Säckchen Reis oder Gerste hervor und werfen ein paar Fingerspitzen voll auf den Hof. Dies sind Opferspenden an den Tempel, die den Tauben und den Sperlingen zugute kommen.

siehe Bildunterschrift
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118, 119, 120. Lamas in Tanzmasken. Skizzen des Verfassers.

Nur das nördliche Drittel des Hofes wird von der religiösen, diabolischen Maskerade in Anspruch genommen, die beiden übrigen sind den Armen Schigatses und seiner Umgegend zur Benutzung freigegeben. Dort herrscht ein ungeheures Gedränge, aber von Zeit zu Zeit wird dort von einer Art Liktoren, die mit Peitschen und Gerten bewaffnet sind, Platz geschaffen. Sie schlagen rechts und links um sich, alle krümmen ihren Rücken unter den Schlägen, aber ihr Einschreiten scheint die Unordnung nur noch zu vergrößern. Unter den Pilgern auf den Plattformen und den Galerien wird von Mönchen niederen Grades kostenfrei Tee herumgereicht; sie tragen große glänzende, mit Messing beschlagene Kupferkannen auf der rechten Schulter, aus denen sie die ihnen hingehaltenen Holzbecher der Gäste füllen. Panem et circenses! Die Mönche wissen, wie sie ihre Schäflein behandeln müssen! Was macht es ihnen aus, einige Yaklasten Ziegeltee ein- oder zweimal jährlich zu spenden, wenn sie selber ausschließlich auf Kosten des Volkes und von den frommen Gaben leben, die aus den Beuteln der Pilger ununterbrochen in die Tempel strömen!

Schließlich machen die Liktoren in der unter uns befindlichen Menge einen Platz frei, auf dem ein Feuer angezündet wird. Zwei Mönche treten vor und halten ein großes Stück Papier möglichst hoch wagerecht über dem Feuer; auf dieses Papier hat man alles Böse, was man in dem jetzt beginnenden Jahr loszuwerden wünscht, und alle die Punkte, in denen man über die Anschläge und die Macht der bösen Dämonen zu triumphieren hofft, ausgezeichnet. Aber das Papier repräsentiert auch das vergangene Jahr mit all seinen Leiden und all seinen Sünden. Mit einem Stäbchen in der einen und einer Schale in der anderen Hand tritt ein Lama an das Feuer heran. Er spricht einige Beschwörungsformeln, führt mit den Armen allerlei mystischen Hokuspokus aus und wirft dann den Inhalt der Schale, irgendeinen Brennstoff, in die Flammen, die hell auflodern und das Papier, das fliehende Jahr und seine Sünden und alle Macht der Dämonen im Handumdrehen verzehren. Alle Zuschauer haben sich erhoben und brechen nun in ein nicht endenwollendes Jubelgeschrei aus – denn jetzt ist das Böse besiegt und man kann sich beruhigt fühlen. Die letzte Nummer des heutigen Programms war ein gemeinsamer Tanz so vieler Lamas, als auf dem Hofe Platz fanden.

Nun erhebt sich der Taschi-Lama und verläßt langsam den Festraum, gefolgt von den Seinen. Nachdem er verschwunden ist, ziehen die Pilger in bester Ordnung ab, ohne zu lärmen und sich zu drängen, und begeben sich in einem schwarzen Menschenstrom nach Schigatse hinunter. Als die letzten verschwunden sind, suchen wir, von unseren neuen Freunden begleitet, unsere wartenden Pferde auf.

Das Gaukelspiel, dem ich beigewohnt hatte, war in jeder Beziehung glänzend, farbenreich und prachtvoll, und man kann sich sehr wohl denken, welch demütige Gefühle der einfache Pilger aus dem öden Gebirge oder den stillen Tälern einer solchen Schaustellung gegenüber haben wird. Wenn es der ursprüngliche Sinn dieser dramatischen Maskeraden und dieser mystischen Spiele ist, feindliche Dämonen zu beschwören und zu vertreiben, so besitzt die Geistlichkeit in ihnen doch auch ein Mittel, um die leichtgläubigen Massen im Netz der Kirche festzuhalten, und gerade dies ist, sowohl für die Kirche wie für die Priester, eine Lebensbedingung. Nichts imponiert der Unwissenheit so sehr wie Schreckensszenen aus der Welt der Dämonen, und daher sind Teufel und Ungeheuer bei den öffentlichen Maskeraden der Klöster reich vertreten. Mit ihrer Hilfe und durch Darstellungen des »Todeskönigs« Yama und der friedlos umherirrenden Seelen, die in der Kette der Seelenwanderung vergeblich nach einer neuen Daseinsform suchen, ängstigen die Mönche die große Menge, machen sie verzagt und nachgiebig und zeigen manchem armen Sünder, welche Widerwärtigkeiten und welche Geißel auf dem holperigen Weg zum Nirwana seiner im Tal der Todesschatten warten.

Auf dem Heimweg machten wir meinem Freunde Ma einen Gegenbesuch. Sein »Jamen« war im gewöhnlichen chinesischen Stil erbaut und von einer Mauer umgeben. Ich wurde gebeten, auf dem Ehrensitz Platz zu nehmen, neben dem ein Tischlein stand, auf das aufmerksame Diener Tee, Süßigkeiten und Zigaretten stellten. Das ganze Zimmer war voller Chinesen, Ma aber war ebenso liebenswürdig wie das vorige Mal.

Im Garten warteten schon Lobsang Tsering und Tsaktserkan. Sie hatten eine ganze Eselkarawane mitgebracht, die mit Tsamba, Reis, Mehl, Dörrobst und Gerste für unsere Pferde beladen war – Vorräte, die für meine ganze Gesellschaft einen vollen Monat ausreichten. Sie überlieferten mir auch in Papier gewickelt 46 Silbertengas (gegen zwanzig Mark) – wofür wir uns, ihrer Meinung nach, Fleisch kaufen sollten, denn der Taschi-Lama durfte ja nichts damit zu tun haben, daß irgendein Lebensfunke ausgelöscht wurde. Die Gesandten sagten auch, daß Seine Heiligkeit mich am nächsten Morgen um neun Uhr erwarte und daß die Gesandten kommen würden, mich abzuholen! Aber ich dürfe ja nicht Ma oder sonst jemand erzählen, daß der Taschi-Lama mich empfangen wolle. Übrigens brauche ich nur ein Wort zu sagen, um alle meine Wünsche erfüllt zu sehen! Später am Abend stellte sich ein unterer Beamter bei mir ein, mit dem Bescheid, daß mich niemand abholen werde; ich solle nur um neun Uhr am großen Portal sein – denn die Chinesen könnten sonst Verdacht schöpfen! Am Abend suchte ich aus Burroughs Wellcomes großer Reiseapotheke alle die Drogen heraus, von denen ich annahm, daß wir ihrer selbst noch bedürfen könnten, und wir packten sie in kleine etikettierte Beutel. Der Apothekenkasten von Aluminium aber, mit all seinen eleganten Tabloiddosen, Flaschen, Schachteln, Binden und Instrumenten, wurde abgerieben und poliert, bis er wie Silber glänzte, und dann in ein großes Stück gelben Seidenzeuges, das Muhamed Isa im Basar aufgestöbert hatte, eingewickelt, da er am nächsten Morgen – meine Freundesgabe an den Pantschen Rinpotsche bilden sollte!


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