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In den ersten Kapiteln dieses Buches habe ich in größter Kürze über die Schwierigkeiten berichtet, die mir von englischer Seite in den Weg gelegt wurden, und erzählt, wie die liberale Regierung in London sich nicht allein weigerte, mir die Vergünstigungen, um die ich gebeten hatte, zu gewähren, sondern sogar versuchte, die ganze Reise zu hintertreiben. Aus diesem Grunde hatte ich mich gezwungen gesehen, den ungeheuren Umweg durch ganz Tschang-tang zu machen, wo wir mehr als einmal unser Leben aufs Spiel setzten und so große Verluste erlitten. Dann stießen wir auf den schwachen Widerstand seitens der Tibeter, gelangten aber trotzdem nach Schigatse; es war ja das reine Glück, daß die gegen uns ausgeschickten Patrouillen uns nicht hatten finden können. Am 14. Februar hatten Vertreter der tibetischen Regierung mich darauf aufmerksam gemacht, daß ich nicht berechtigt sei, mich überlange in Tibet aufzuhalten, sondern daß ich das Land verlassen müsse. Als ob ich nicht schon an den englischen, indischen und tibetischen Regierungen genug hätte, erschien nun am 18. Februar auch noch die chinesische Regierung auf der Bildfläche! Ich stand nun allein einem vierblättrigen Kleeblatt von Regierungen gegenüber und wünschte alles, was Politik und Diplomaten hieß, dahin, wo der Pfeffer wächst!
An diesem Tag erschien also der junge Chinese Duan Suän im Auftrag Gaw Dalois, des politischen Agenten Chinas in Gyangtse. Er brachte mir von ihm einen Brief, der folgenden lakonischen Inhalt hatte:
Übereinkommen zwischen Großbritannien und China, unterzeichnet in Peking im Jahre 1906, § 2: Die großbritannische Regierung verpflichtet sich, kein tibetisches Territorium zu annektieren und sich nicht in Tibets Verwaltung zu mischen.
Vertrag, abgeschlossen am 7. September 1904, § 9b: Keine Vertreter oder Agenten irgendeiner fremden Macht sollen Erlaubnis erhalten, Tibet zu besuchen.
Duan Suän bestellte mir außerdem noch mündlich von Gaw Daloi, daß ich unter keiner Bedingung nach Gyangtse reisen dürfe, nachdem ich schon ohne Paß und Erlaubnis bis Schigatse vorgedrungen sei, und daß mir nur ein einziger Weg offen stehe, nämlich der durch Tschang-tang, auf dem ich gekommen sei. Ich antwortete ebenso lakonisch, daß Gaw Daloi, wenn er etwas über mich wissen wolle, sich an Major O'Connor, den Vertreter Großbritanniens in Gyangtse, wenden möge, anstatt mir unverschämte Briefe zu schreiben!
Es war mein Plan und mein Wunsch gewesen, O'Connor zu besuchen; ich kannte ihn sehr gut von Hörensagen, er hatte mich mit Freundlichkeiten überhäuft, und ich wußte, daß er einer der außerordentlich Wenigen ist, die Tibet gründlich kennen.
Von meiner Ankunft an hatten wir miteinander in eifrigem Briefwechsel gestanden, ich hatte ihm meine bisherigen Gedanken über die westliche Fortsetzung des großen Gebirgssystems auseinandergesetzt, und O'Connor hatte geantwortet, daß er sich stets nach den großen unbekannten Teilen des tibetischen Inneren gesehnt und schon lange das Vorhandensein eines mächtigen Bergsystems im Norden des Tsangpo vermutet habe. Noch kannte ich dieses System nur mangelhaft, und deshalb hatte ich O'Connor vorgeschlagen, daß wir das Gebirge künftig Nientschen-tang-la nach dem hohen Gipfel am Südufer des Tengri-nor nennen wollten. Für mich würde es die größte Bedeutung gehabt haben, gerade jetzt mit einem Manne wie Major O'Connor zusammenzutreffen.
Indessen begann ich die Sache bald in einem anderen Lichte zu betrachten, denn ich sah ein, daß ich mich in Gyangtse in einer noch unhaltbareren Lage befinden würde als hier in Schigatse. Solange ich in Schigatse blieb, wußten die Chinesen nicht, was sie mit mir anfangen sollten; in Gyangtse aber kam ich direkt unter die Vertragsparagraphen und konnte also gezwungen werden, südwärts nach Indien zurückzugehen. Gaw Dalois Verbot in betreff Gyangtses reizte mich ein wenig, aber ich hatte ihn in Verdacht, dies nur als Kriegslist gebraucht zu haben, und zwar um so mehr, als die Behörden von Schigatse mir gleichzeitig anboten, daß ich Lasttiere zu meiner Reise dorthin mieten dürfe. Sowohl Tsaktserkan wie Ma wußten, daß ich einen Brief von Gaw erhalten hatte, und Ma hatte lange Unterhandlungen mit den beiden Herren aus Lhasa. Es war klar, daß eine politische Intrige im Gange war; für mich kam es nun darauf an, meine Karten gut auszuspielen.
Schon um den 20. Februar herum hatte ich bemerkt, daß die Lamas wegen meiner vielen Besuche im Kloster vor den Chinesen in Sorge waren und täglich zurückhaltender wurden. Ich fuhr jedoch ganz ruhig fort, ihnen dicht vor der Nase zu sitzen und sogar den Schakya Toba (Buddha) zu zeichnen. Die Chinesen gaben sich den Anschein, als fürchteten sie, daß die Engländer ihnen Vertragsbruch vorwerfen könnten, wenn sie mein Verweilen auf verbotenem Boden duldeten. Meine englischen Freunde dagegen freuten sich darüber, daß mir bis dahin alles geglückt war, und hofften, daß ich mich auch fernerhin halten könne. Indessen konnte jeden Tag ein Umschlag eintreten, und ich lebte daher in der aufregendsten Ungewißheit.
In meiner Antwort an Gaw Daloi bat ich ihn, sich völlig darüber zu beruhigen, daß ich als Schwede Absichten haben könnte, tibetisches Territorium zu annektieren, und was den § 9 anbetreffe, so habe er ihn unvollständig zitiert, da er nämlich folgendermaßen laute: »Die Regierung Tibets übernimmt die Verpflichtung, ohne vorhergehende Zustimmung der Regierung Großbritanniens keinen Vertretern oder Agenten irgendeiner fremden Macht den Besuch Tibets zu gestatten.« Dieser Paragraph finde auf mich durchaus keine Anwendung, da ich bereits in Tibet sei, und es gehe mich gar nichts an, was für Vereinbarungen die beiden Regierungen miteinander getroffen hätten. Mein Fall müsse von ganz anderen Gesichtspunkten behandelt werden.
Ma hatte sich anfangs bereit erklärt, meine Post nach Gyangtse zu schicken, jetzt aber lehnte er es mit der Entschuldigung ab, daß es so aussehen könne, als ob er mir zu gern gefällig sein wolle. Daher mußte am 24. Februar Muhamed Isa nach Gyangtse reiten, um Gaw Daloi meinen Brief und den Paß zu bringen, und auch 3000 Rupien in Gold mitzunehmen, die Major O'Connor mir gegen Silbergeld einzuwechseln versprochen hatte.
Ich schickte auch ein ausführliches Telegramm an den englischen Premierminister und bat um die »Zustimmung der Regierung Großbritanniens«, da die tibetische Regierung mir bis jetzt tatsächlich kein Hindernis in den Weg gelegt habe. Auf dieses Telegramm erhielt ich aber keine Antwort!
Am 27. Februar traf Gaws Antwort ein – nicht mit Muhamed Isa, sondern mit einem besonderen Kurier; das war diplomatisch, aber unvorsichtig. Gaw schrieb, er könne nicht glauben, daß ich, nur um der wissenschaftlichen Forschung zu dienen, einen Vertrag zwischen zwei Großmächten werde brechen wollen, mein chinesischer Paß sei hier wertlos, und wenn man mir erlaube, in Tibet herumzureisen, könnten Russen und Engländer dieselben Vergünstigungen beanspruchen. Er schloß mit den Worten: »Ich habe von meiner Regierung Befehl erhalten, Sie sofort zu verhaften, falls Sie nach Gyangtse kommen sollten, und Sie mit Soldaten über die indische Grenze schaffen zu lassen.« Später erfuhr ich, daß er keinen einzigen Soldaten hatte und daß er, wenn ihm auch die ganze chinesische Armee zur Verfügung gestanden hätte, sie doch nicht hätte gegen mich benutzen können, falls ich als Gast in der britischen Agentur in Gyangtse weilte. Ich erwiderte jedoch, daß ich sehr gern aufbrechen wolle, aber nach Nordwesten, wenn Gaw mir eine genügend große Karawane besorgen könne!
Am 1. März besuchte mich Ma. Er war ganz außer sich. Der Amban Lien in Lhasa habe ihm scharfe Vorwürfe darüber gemacht, daß er, der 1000 eingeborene und 150 chinesische Krieger befehlige, nicht genug Verstand und Wachsamkeit besessen habe, um mein Einschleichen in Schigatse zu verhindern! Er solle mir auch bestellen, daß ich die Stadt sofort zu verlassen hätte, und bat mich nun, ihm zu sagen, an welchem Tage ich abzureisen gedächte. »Damit hat es noch gute Weile«, antwortete ich. »Erst muß die Karawane fertig sein, die mich durch Tschang-tang zurückbefördern soll.« Auch den Mönchen war von Lhasa aus geraten worden, sich sowenig wie möglich mit mir abzugeben.
Mein Verweilen in Schigatse hatte also nach und nach zu einem Noten- und Telegrammwechsel zwischen Lhasa, Gyangtse, Schigatse, Peking, Kalkutta und London Veranlassung gegeben, und ich war ganz wider meinen Willen ein kleiner, hochpolitischer Zankapfel geworden! Meine Lage war jedoch so unsicher, daß ich keine Bemühung unversucht ließ. Der schwedische Gesandte, Herr G. O. Wallenberg, tat in Peking alles, was in seiner Macht stand, um die Erlaubnis der chinesischen Regierung und einen Paß für mich zu erhalten; er sprach mit allen hohen Mandarinen, aber sie beriefen sich mit größter Liebenswürdigkeit auf die bindenden Verträge. Auch die japanische Gesandtschaft in Peking machte, auf des Grafen Otani (Kyôto) Wunsch, Vorstellungen, erhielt aber die überraschende Antwort, daß ich, wenn ich überhaupt in Tibet sei, was man bezweifle, sofort aus dem Lande ausgewiesen werden müsse. Also überall abschlägiger Bescheid! Aber in einer Beziehung war ich stark: ich war allein, während meine Gegner nur zu sehr von der Rücksicht, die sie aufeinander nehmen mußten, abhängig waren.
Zwischendurch wurde ich in kleine Bruchstücke innerer tibetischer Politik eingeweiht. Vom Taschi-Lama geschickt, pflegte Tsaktserkan mich in der Dämmerung zu besuchen. Er fragte mich, wie es möglich sei, daß, nachdem die Engländer im Krieg gegen Tibet gesiegt hätten, China alle Vorteile dieses Sieges ernte und daß Chinas Macht im Lande wachse, während das englische Prestige abnehme. Das lange Fortbleiben des Dalai-Lama beunruhigte den Taschi-Lama aufs höchste. Gleich nach seiner Rückkehr aus Indien hatte er dem Dalai-Lama Geschenke gesandt und ihm viele Briefe geschrieben, aber nie eine Antwort erhalten. Der Dalai-Lama war sein Lehrer gewesen, und er grämte sich darüber, daß er ihm in seiner schwierigen Lage nicht helfen könne. Die Behörden in Lhasa waren ihrerseits wütend auf Taschi-lunpo und behaupteten, daß der Taschi-Lama sich von den Engländern habe bestechen lassen, um nicht am Kriege teilzunehmen. Der Taschi-Lama ließ mich auch fragen, ob ich glaube, daß der Kaiser von China ihm wegen seiner Reise nach Indien zürne, worauf ich antwortete, meiner Meinung nach sei der Kaiser zufrieden, wenn der Taschi-Lama mit seinen mächtigen Nachbarn im Süden Frieden halte und ein gutes Verhältnis zwischen Tibet und Indien bestehe.
Da erhielt ich am 5. März einen merkwürdigen Brief von Gaw Daloi. »Im größten Vertrauen« riet er mir, an Chang Yin Tang (Tang Darin, »Kaiserlich Chinesischer Oberkommissar in Tibet«) und an den Amban Lien Yü in Lhasa zu schreiben und die beiden Exzellenzen zu bitten, mir als besondere Gnade die Erlaubnis zu erteilen, über Gyangtse nach Sikkim ziehen zu dürfen; er zweifele nicht daran, daß sie damit einverstanden sein würden. Erst hatte er mir geschrieben, daß seine Regierung ihm befohlen habe, mich zu verhaften, wenn ich nach Gyangtse käme; jetzt riet er mir selbst dazu? Dadurch aber, daß er nun gegen die Befehle seiner Regierung handelte, gab er mir ein gefährliches Übergewicht; ich hatte ihn jetzt in der Hand und betrachtete ihn als aus dem Spiele ausgeschieden. Auf Umwegen erfuhr ich aber dann, daß sein Brief auf Befehl aus Lhasa geschrieben worden sei, wo man fürchtete, daß man mich überhaupt nicht wieder loswerden würde, wenn man mir erlaubte, auf dem Rückweg weiter nach Tibet hinein zu ziehen. Ma teilte mir mit, daß er Befehl habe, meinetwegen Kuriere stets in Bereitschaft zu halten, und daß ein Brief jetzt in fünf Tagen Lhasa erreiche.
Ich schrieb nun an den Tang Darin und sagte ihm, daß ich durchaus nicht den Wünschen der chinesischen Regierung durch das Abreisen über Gyangtse zuwider handeln wolle, sondern nach Nordwesten zurückzukehren gedächte, wenn Seine Exzellenz Befehl geben wolle, daß mir Yaks zur Verfügung gestellt würden. In meiner Eigenschaft als Schwede gehörte ich einem Lande an, das mit China seit uralten Zeiten in freundlichem Verhältnis stehe und in Tibet keine politischen Interessen habe.
Gleichzeitig schrieb ich auch an Lien Darin und betonte, daß weder die chinesische, noch die tibetische Regierung das Recht habe, mich wegen meiner Reise nach Schigatse anzuklagen; wenn ihnen mein Kommen unangenehm sei, hätten sie mich rechtzeitig daran verhindern sollen! Sie müßten mir im Gegenteil dankbar sein, weil ich sie auf diese Möglichkeit einer Durchquerung des Landes aufmerksam gemacht hätte, und ich riete ihnen, in Zukunft wachsamer zu sein, wenn sie Europäern das Land verschließen wollten! Nach Indien zu reisen falle mir nicht ein, meine Leute seien Bergbewohner und würden in der Hitze wie Fliegen umfallen; sie seien übrigens britische Untertanen, und ich sei für ihre glückliche Heimkehr nach Ladak verantwortlich. Durch Tschang-tang zu reisen, sei unmöglich, aber ich würde gern einen Weg auf der Nordseite des Tsangpo, wo es Nomaden gebe, einschlagen. Wenn sie mich loszusein wünschten, sollten sie mir die Rückreise doch nicht erschweren, sondern sie mir lieber in jeder Weise erleichtern.
Als nun die Herren aus Lhasa und die Abgesandten aus Schigatse-Dsong mir an demselben Tag aufs neue vorstellten, daß ich unverzüglich aufbrechen müsse, konnte ich ihnen erwidern, daß dies vor zehn Tagen nicht geschehen könne, da es so lange dauere, bis aus Lhasa Antwort eintreffe!
Meine Lage glich immer mehr einer Gefangenschaft, und doch tat man alles, um mich loszuwerden. Am 4. März war ich zum letztenmal in Taschi-lunpo gewesen. Jetzt war mir das Kloster verschlossen, da man mich aus Furcht vor dem Argwohn der Chinesen ausdrücklich gebeten hatte, dort keine Besuche mehr zu machen. Ich versprach, es zu unterlassen, aber unter der Bedingung, daß ich das Ngakang noch sehen dürfe, wo die Gewänder und die Masken verwahrt werden. Als dies für unmöglich erklärt wurde, einigten wir uns schließlich dahin, daß einige Gewänder, Masken und Instrumente mir in meinem Garten gezeigt werden sollten, wo ich ja auch Gelegenheit hätte, sie abzuzeichnen. Die Gegenstände wurden des Nachts gebracht, und während ich am Tage zeichnete, wurde um das Haus herum Wache gehalten, so daß die Lamas Repressalien nicht zu fürchten hatten. So kam der 10. März heran, als Taschi mit meinen letzten 13 Yaks anlangte, die so außerordentlich erschöpft waren, daß sie zu einem Ramschpreis einem Kaufmann überlassen wurden.
Vom 12. März enthält mein Tagebuch folgende Betrachtungen: »In diesem heiligen Lande scheint der Frühling mit Pauken und Trompeten einzuziehen, die noch gellender sind als alle die, welche bei Tagesanbruch von den Tempelplattformen erschallen und die Lamas zu ihrem ersten Tee rufen. Stürme, dunkle Wolkenmassen und Staubwolken, die am Erdboden entlang wirbeln und die ganze Umgebung verhüllen außer dem Dsong, der wie ein düsteres Märchenschiff durch den Staubnebel schimmert. Die Temperatur steigt, bei Tage haben wir mehrere Grade über Null, aber sonst sehen wir vom Frühling noch nichts. Einmal wird er wohl kommen, wenn er sich jetzt auch erst im Bett umdreht und sich den Winterschlaf langsam aus den zugefrorenen Augen zu reiben versucht. Heute tobte einer der heftigsten Weststürme, die wir erlebt haben. Die Klosterglocken klingen freilich wie Sturmglocken, aber ihr Klang dringt bei dem Heulen des Sturmes nicht zu uns. Die Küche ist ins Haus verlegt worden, auf dem Hofe läßt sich niemand sehen und in den Pappeln knackt und pfeift es. Nur hin und wieder hört man die Schellen eines Kurierpferdes, das an der Außenmauer vorbeisprengt und vielleicht neue Verhaltungsmaßregeln in Beziehung auf mich bringt. Ma läßt nichts von sich hören, Lobsang Tsering ist verschwunden, und Tsaktserkan kommt nur, wenn ich ihn darum bitten lasse. Ich werde immer mehr isoliert, keiner darf mehr mit mir verkehren. Unsere Lage ist zwar aufregend, aber doch auch interessant. Daß wir Schigatse einmal verlassen müssen, ist klar, aber auf welchem Wege? Daß ich nicht über Gyangtse gehe oder Katmandu (Hauptstadt von Nepal), wie Ma mir vorschlug, habe ich ihnen schon mitgeteilt, und hier eine Karawane für Tschang-tang auszurüsten, ist undenkbar. Ich habe nur ein Ziel, den Norden des Tsangpo, wo die wichtigsten Entdeckungen meiner harren! Erst in dem Augenblick, in dem wir Schigatse verlassen, sind wir im Ernst Gefangene; solange wir hier still liegen, haben wir wenigstens Freiheit innerhalb unserer eigenen Mauern. Und solange ich mich in Tibet befinde, bin ich für die Engländer »tabu«, aber sowie ich die englische Grenze überschreite, bin ich geliefert! Nach Ostturkestan kann ich nicht gehen, denn die chinesische Regierung hat, wie ich durch Gaw weiß, meinen Paß annulliert, da er am unrechten Orte benutzt worden sei. Direkt nach China mit Ladakis zu reisen, geht auch nicht an. Zwingt man mich aber nach Sikkim zu ziehen, so muß ich die Ladakis entlassen, und ich reise dann allein nach Peking, um den Mandarinen den Standpunkt klarzumachen!«
Am 15. März fanden sich die beiden Herren aus Lhasa wieder bei mir ein. Sie waren in Gyangtse gewesen und hatten von Gaw Befehl erhalten, alle meine Schritte scharf zu überwachen. Wieder wollten sie den Tag meiner Abreise wissen, und ich antwortete, daß ich darüber nichts entscheiden könnte, bevor ich wüßte, welchen Weg ich einschlagen würde. Solle dieser durch Tschang-tang gehen, so müßten sie sich auf langes Warten gefaßt machen; sie könnten sich inzwischen ruhig ein Haus kaufen und sich verheiraten! Sie beklagten sich nun selbst über das Zunehmen der Macht der Chinesen in Tibet und glaubten, daß die infolge des neuen, strengen Regimes in Lhasa entstandene Gärung allein es mir möglich gemacht habe, unbemerkt quer durch Tibet zu reisen.
Darin werden sie wohl recht gehabt haben. Der Mißgriff des Dalai-Lama und der unerwartete Frontwechsel der Engländer hatten den Chinesen eine Gelegenheit gegeben, die Herrschergewalt über Tibet so zu übernehmen, wie sie es seit den Tagen des Kang-hi und des Kien-lung im 17. und 18. Jahrhundert nicht wieder gekonnt hatten. Von dem englischen Prestige konnte ich keinen Schatten mehr entdecken und hatte ja selber gehört, daß der Taschi-Lama seine Reise nach Indien bereute. Vielleicht war es von der liberalen Regierung in London klug, Tschumbi aufzugeben und durch Sperrung der Grenze alle Möglichkeiten zu Grenzkonflikten und Friktionen von der indischen Seite aus auszuschließen. Denn in unserer Zeit beginnt das alte Asien aus seinem tiefen Schlafe zu erwachen, und die europäischen Großmächte, die dort Interessen haben, sollten lieber dafür sorgen, daß sie behalten können, was sie schon besitzen, als darauf ausgehen, neue Eroberungen zu machen! Jedenfalls zeigten die chinesischen Staatsmänner diesmal wie stets eine bewunderungswürdige Klugheit und Achtsamkeit und ernteten den ganzen Gewinn der englischen Opfer. Wenn der Dalai-Lama überhaupt mit heiler Haut nach Lhasa zurückkehrt (im September 1909 inzwischen geschehen), wird er sich mit der Anbetung, die ihm als Inkarnation in seinem Palaste Potala zuteil wird, begnügen müssen und sich nicht mehr mit politischen Angelegenheiten befassen dürfen. Tibet wird ohne Zweifel in Zukunft ebenso streng verschlossen bleiben, wie früher. Denn die Herrschergewalt über Tibet ist für China eine politische Frage ersten Ranges. Nicht nur weil Tibet sozusagen eine gigantische Festung mit Wällen, Mauern und Gräben zum Schutze Chinas ist, sondern auch wegen des großen geistigen Einflusses, den die beiden Päpste auf alle Mongolen ausüben. Solange China den Dalai-Lama in seiner Hand hat, kann es die Mongolen im Zaume halten, im entgegengesetzten Fall aber kann der Dalai-Lama sie zur Empörung gegen China aufreizen. Und die Mongolei ist auch der Puffer zwischen China und Rußland.
Am 19. März erhellte sich endlich meine Lage. Ma hatte eine Zusammenkunft mit den beiden Herren aus Lhasa und den Behörden des Schigatse-dsong gehabt. Letztere stellten sich bei mir ein und baten nun ihrerseits um Bescheid, wohin meine Reise gehen solle. Ich antwortete: längs des Raga-tsangpo bis an seine Quelle!
Die Herren, welche die Sitzung abgehalten hatten, waren inzwischen augenscheinlich zu dem Entschluß gekommen, die Folgen meiner Reise nach Westen auf ihre Verantwortung zu nehmen. Aber sie bestanden energisch darauf, daß ich nach Je-schung auf genau demselben Weg, auf dem ich gekommen sei, also über Tanak und Rungma, abziehen müsse, da sie sonst Unannehmlichkeiten haben würden.
Nachdem es also abgemacht war, daß ich nicht nach Gyangtse zu reisen brauchte, schickte ich Muhamed Isa mit allen Karten, Aufzeichnungen und den bisher gewonnenen Resultaten an Major O'Connor; die ganze Sendung gelangte später in unversehrtem Zustand an Oberst Dunlop Smith in Kalkutta. Noch 3000 Rupien in Gold ließ ich mir in Silbergeld einwechseln, und ich schrieb einen letzten Abschiedsbrief an meinen liebenswürdigen Freund O'Connor und ebenso an meine vielen Freunde in Indien. Nach Hause schrieb ich auch, wie gewöhnlich, in ausführlicher Tagebuchform.
Am 20. trat Ma durch unser Tor, schwenkte triumphierend einen Brief mit großem rotem Siegel und rief schon von weitem: »Vom Tang Darin!« Der Brief war vom 15. März aus Lhasa datiert, und ich teile ihn hier als Probe der diplomatischen Briefschreibekunst der Chinesen mit:
Lieber Doktor Sven Hedin!
Es hat mich sehr gefreut, Ihren Brief vom 5. dieses Monats zu erhalten und zu hören, daß Sie nach Schigatse gekommen sind, um die Geographie der unbekannten Teile dieses Landes zu erforschen. Ich weiß, daß Sie einer der berühmten Geographen Europas sind und daß Sie hier im Lande umherziehen, ohne sich in Tibets politische oder sonstige Angelegenheiten einzumischen, und einzig und allein geographische Arbeiten ausführen.
Ich habe große Achtung vor Ihnen als Mann der Wissenschaft, der sich ernstlich um das Fortschreiten der Erdkunde bemüht. Solche Männer schätze ich immer hoch und erweise ihnen die größte Ehrerbietung.
Zu meinem Bedauern aber muß ich Ihnen sagen, daß der letzte Vertrag zwischen China und Großbritannien über Tibet einen Paragraphen enthält, der besagt, daß keine Fremden, seien es nun Engländer oder Russen, Amerikaner oder Europäer, berechtigt sind, Tibet zu besuchen, die drei Handelsplätze Gyangtse, Jatung und Gartok ausgenommen. Sie sind es also nicht allein, dem ich das Land verbiete.
Ich wünsche daher, daß Sie auf demselben Weg, auf dem Sie gekommen sind, wieder abziehen, und Sie würden mich dadurch außerordentlich verbinden.
China und Schweden sind in Wahrheit befreundete Mächte, und die beiden Völker sind wirklich Brüder.
Ich hoffe, daß Sie mich nicht falsch beurteilen werden, wenn ich Ihnen nicht erlaube, weiterzureisen, denn ich bin durch den Vertrag gebunden.
Ich habe den chinesischen und den eingeborenen Behörden auf Ihrer Route bereits Befehl erteilt, daß sie Ihnen alle Erleichterungen, die sich möglicherweise erreichen lassen, verschaffen sollen.
Ihnen eine glückliche Rückreise wünschend, bin ich
An liebenswürdiger Verbindlichkeit ließ der Brief nichts zu wünschen übrig, dem Inhalt nach war er diplomatisch dunkel. Chinesische und eingeborene Behörden in Tschang-tang, wo wir 81 Tage hintereinander keine lebende Seele erblickt hatten? Wie Gaw berief er sich auf den Vertrag, den England unterzeichnet hatte, um das interessanteste Land der Erde jeder Forschung zu versperren.
Ma kannte den Inhalt des Briefes und fragte, ob es bei meinem Entschluß, am Raga-tsangpo flußaufwärts zu ziehen, bleibe. In solchem Fall stehe mir der Weg offen. Ich antwortete, ohne meine Befriedigung merken zu lassen, bejahend, obgleich diese Straße im Gegensatz zu Tangs Brief stand. Jetzt durften vorläufig zwei Herren des Dsong die Verproviantierung besorgen – alles auf Tangs Befehl!
Im Handumdrehen wurden nun die Behörden Schigatses außerordentlich höflich und überliefen mich mit Visiten, seitdem sie gesehen hatten, daß ich bei dem in weltlichen Angelegenheiten mächtigsten Manne Tibets gut angeschrieben war. Sechs Säcke Tsamba, ein Sack Reis und zwölf Ziegel Tee wurden mir auf den Hof gebracht, und man erbat genaue Auskunft über die Punkte, die ich jenseits der Mündung des Raga-tsangpo zu berühren gedächte. Darauf fiel ich jedoch nicht herein, sondern sagte, daß mir von den Namen dort oben kein einziger bekannt sei. Im stillen dachte ich, daß es am klügsten sein werde, nicht durch allzuviel Einzelheiten ihr Mißtrauen zu erregen; je weiter wir uns von den Zentralbehörden entfernten, desto größere Aussicht hatten wir, uns allein überlassen zu bleiben. Sie erkundigten sich, wieviel Pferde wir bedürften, und ich nannte gleich 65, um reichlich versehen zu sein; sie zogen so still ab, als ob sie bei sich dächten, daß dies doch recht viel sei!
Am 24. März kam Muhamed Isa mit dem Silbergeld, neuer Post und allerlei Sachen zurück, die mir Major O'Connor mit gewöhnlicher Liebenswürdigkeit besorgt hatte. Nachmittags großes Konzil: Ma, die beiden Herren aus Lhasa, der ganze Schigatse-dsong und Tsaktserkan, wohl an die 20 Beamte, etwa 100 Diener, chinesische Soldaten und Neugierige, so daß der ganze Hof voller Menschen war! Der neue Paß wurde mir feierlich vorgelesen. Darin waren die Orte aufgezählt, die ich zu berühren hatte: den Raga-tsangpo, dann Saka-dsong, Tradum, Tuksum, Gartok, Demtschok und die Ladakgrenze. Ich durfte an keinem einzigen Punkt verweilen, mußte lange Tagemärsche machen und in gerader Linie im Tal des Brahmaputra und Indus ziehen! Ich hielt es für unpraktisch, gegen diese Vorschriften Einwendungen zu erheben; von dem Land im Norden des Tsangpo, wo ich das große Gebirgssystem vermutete, war kein Wort gesagt. Aber ich dachte bei mir, daß wir den Zug dahin schon auf eine oder die andere Weise selber würden ins Werk setzen können, und nahm mir vor, ihnen jedenfalls recht viel Mühe zu verursachen, mich wieder loszuwerden! Zwei Chinesen, ein Beamter aus dem Labrang von Taschi-lunpo und einer aus dem Schigatse-dsong sollten uns zuerst geleiten und dann von vier andern abgelöst werden. Die Eskorte wurde mir vorgestellt. Die Herren bestanden darauf, daß wir schon am folgenden Morgen aufbrechen sollten. Ich aber erklärte, daß wir zu den Vorbereitungen noch zwei Tage gebrauchten. All der Proviant, den sie in der Eile besorgt hatten, wurde in ihrer Gegenwart gewogen und von mir bezahlt.
Die braune Puppy arrangierte am Morgen des 25. ein allerdings nicht unerwartetes Intermezzo. Infolge unzivilisierter Begriffe über die Heiligkeit meines Zeltes hatte die Hündin lange nicht hineingedurft. Aber nun, als ich gerade beim Schreiben meiner letzten Briefe saß, kam sie und kratzte in der einen Ecke des Zeltes mit den Vorderpfoten eine Grube, winselte ängstlich, legte den Kopf an mein Knie und sah sehr unglücklich aus, als wolle sie mir zu verstehen geben, wie hilflos sie sich fühle. Ehe ich mich dessen versah – lagen zwei ganz kleine Hündchen quiekend zu meinen Füßen! Während die junge Mutter ihre Erstgeborenen mit unbeschreiblicher Zärtlichkeit leckte, richtete Muhamed Isa ein weiches Lager für die Familie her. Auf diesem hatte Puppy kaum Platz genommen, als noch zwei Hündchen ihren Einzug in diese seltsame Welt hielten! Dann aber meinte sie wohl, daß es jetzt des Guten genug sei; denn nach einer guten Fleischmahlzeit und einer Schale Milch rollte sie sich mit den vier gut behüteten Jungen zusammen und schlief ein. Die neuen Hündchen sind kohlschwarz und klein wie Ratten. Ich kaufte ihnen einen Korb, in dem sie reisen sollten, bis sie die Karawane, in der sie geboren worden, um echte Karawanenhunde zu werden, auf eigenen Beinen begleiten können. Wir hatten auch hier vergeblich versucht, uns einige gute Hunde zu verschaffen, denn unsere Vagabunden vom Ngangtse-tso waren wohl gute Wächter, aber wenig angenehme Gesellschafter. Jetzt hatten wir plötzlich eine ganze Gesellschaft, und es sollte uns Spaß machen, zu sehen, wie sie sich mit der Zeit entwickelten. Wie unser künftiges Geschick sich auch gestaltete, in kürzerer Frist als einem halben Jahr würden wir Ladak nicht erreichen, und bis dahin würden die Hündchen groß und drollig geworden sein. Von nun an durfte Puppy immer in meinem Zelte wohnen, und wir wurden die besten Freunde von der Welt, denn ich war ebenso ängstlich um die Jungen besorgt wie sie selber. Unberechtigte aber ließ sie nicht heran; kaum eine halbe Stunde nach der Katastrophe fuhr sie bereits auf zwei Knaben los, die auf dem Hofe umherlungerten. Es war ein entsetzliches Gejaule in der Zeltecke, und es duftete in weitem Umkreis nach kleinen Kindern, aber »sowohl die Mutter wie die Kleinen befanden sich den Umständen nach wohl«, wie es in vornehmeren Bulletins heißt.
Währenddessen herrschte auf unserem Hofe ein fürchterlich eifriges Getriebe. Das schwere Gepäck wurde verstaut, Reis und Tsamba der Leute nebst der Gerste für die Pferde in genau abgewogene Säcke genäht; chinesische Makkaroni, Kohlköpfe, Zwiebeln, feines Weizenmehl, Gewürze, Kartoffeln und so viel Eier, wie wir erhalten konnten, vom Markt herbeigeschafft. Die Bücher, die ich von O'Connor erhalten hatte, füllten allein eine ganze Kiste und sollten, wenn sie ausgelesen waren, eines nach dem anderen fortgeworfen werden. Als alles eingepackt war, sah es in meinem Zelte schrecklich leer aus.
Am 26. März, meinem letzten Tag in Schigatse, wurde das Packen beendet, und Ma Tschi Fu, ein junger Beamter in Tschumbi, langte aus Lhasa an und brachte mir Grüße von den Exzellenzen. Er war Dungane (Mohammedaner), sprach weich und höflich und war einer der edelsten, feinsten und sympathischsten Chinesen, die ich je kennen gelernt habe. Dabei sah er außergewöhnlich hübsch aus, hatte große, klare Augen, die kaum die Rasse verrieten, rein arische Züge und trug einen kostbaren Seidenpelz. Er bedauerte, daß er keine Gelegenheit gehabt habe, mir Gastfreundschaft zu erweisen, und bat mich, nicht zu glauben, daß die Eskorte eine kontrollierende Bewachung sein solle; sie sei nur eine Sicherheitswache und habe Befehl, mir aufs beste zu dienen! Ma Tschi Fu brachte auch einen artigen Brief von Lien Darin, dem Amban von Lhasa, in dem es unter anderem hieß: »Ich wußte, daß Sie ein gelehrter Geograph aus Schweden sind. Es tut mir sehr leid, daß ich infolge des Vertrages dieses Mal nicht in der Lage bin, bessere Anordnungen für Sie in Tibet zu treffen. Aber Sie sind ein weiser Mann und werden daher die Schwierigkeiten verstehen, in denen ich mich wider meinen Willen befinde.«
So oft ich persönlich oder schriftlich mit den Chinesen in Berührung kam, zeigten sie mir also stets die größte Liebenswürdigkeit und Rücksicht. Sie waren die Herren des Landes, und ich besaß nicht die Berechtigung, mich in Tibet herumzutreiben. Dennoch bedienten sie sich nie harter Worte, geschweige denn der Machtmittel, die ihnen zu Gebote standen, sondern gingen in ihrer Gastlichkeit so weit, als es ihnen, ohne illoyal gegen ihr eigenes Land zu sein, möglich war. Daher bewahre ich ihnen von dieser Reise wie von allen meinen früheren her das beste und angenehmste Andenken.
Abends sagte ich dem guten Ma Lebewohl, schenkte ihm drei untaugliche Pferde, die sich jedoch bei guter Pflege noch retten ließen, und dankte ihm für all seine Freundlichkeit gegen mich. Er sprach die Hoffnung aus, daß wir uns noch einmal im Leben treffen würden. Alle, die uns gedient hatten, erhielten beträchtliche Geldgeschenke, und Kung Guschuk, der Herzog, auf sein Verlangen, 45 Rupien Miete für sein Gartengrundstück! Ich hätte ihm für die unvergeßlichen Tage, die ich unter den schlanken Pappeln im Sausen der aus dem Schlaf erwachenden Frühlingswinde verlebt hatte, mit Freuden das Vielfache dieser Summe gegeben!